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13

Am nächsten Morgen, gleich nach dem Kaffee, war der Graf mit dem Architekten nach Selchow gefahren; Herr Loßberg, um vor acht Tagen nicht wieder auf Polchow zu erscheinen. Er war mit den Vorarbeiten so weit fertig und wollte nun in Berlin die Schar der Dekorateure, Kunstmöbelhändler, Tapezierer mobil machen.

Nach dem Frühstück brach die übrige Gesellschaft auf. Professor Guttmann war, diesmal in eigenem Gefährt, gekommen, die Verlobten abzuholen. Frau Krafft sollte in einer von Beckys Equipagen Fräulein Sarosch in die Stadt geleiten; zu ihnen stieg Erich in den Wagen. Der Bahnzug, den der Geheimrat benutzen mußte, ging erst vier Uhr nachmittags von Greifswald. So hatte er noch ein paar Stunden Zeit. Es war ihm lieb. Er meinte, er dürfe nicht fort, ohne mit Becky die Aussprache gehabt zu haben, zu der sich in diesen letzten bewegten Tagen eine Gelegenheit nicht hatte finden wollen.

Der alte Mann war tief bekümmert. Er hatte in längeren Konferenzen mit Rechtsanwalt Sarosch und dem Grafen das Geschäftliche geordnet. Es sollte zwischen den Gatten Gütergemeinschaft sein; der Überlebende den anderen beerben. Im Falle von Nachkommenschaft waren für jedes Neugeborene dreihunderttausend Mark in der Reichsbank zu deponieren und den Mädchen auszuzahlen in ihrem achtzehnten, den Söhnen in ihrem einundzwanzigsten Jahre. Becky hatte zu allem ihre Zustimmung gegeben. Es war wie eine wohlgedeckte Tafel, zu der nur noch die Gäste fehlten.

Würden sie kommen?

Der alte Mann hatte sich in diesen Tagen die Frage hundertmal vorgelegt. Becky allein konnte sie endgültig beantworten. Sie war ihm ausgewichen, so oft er die Gelegenheit gesucht hatte; und wich ihm jetzt in den letzten Stunden wiederum aus. Sie hatte sich in ihr Arbeitskabinett eingeschlossen. Der Vater möge sie auf eine Stunde entschuldigen: sie habe notwendig zu arbeiten.

Stunde auf Stunde verrann; sie kam nicht wieder zum Vorschein. Der Wagen, der ihn zur Stadt bringen sollte, wurde bereits aus der Remise geschoben. Seine Geduld war erschöpft. Er suchte sie in ihrem Kabinett auf.

»Du mußt doch nicht schon fort?«

»Allerdings; es ist drei Uhr.«

»Wie die Zeit vergeht! Dann, lebe wohl!«

»Lebe wohl, mein Kind! Natürlich komme ich zur Hochzeit. Du hast sie auf den ersten August festgesetzt?«

»Ich glaube.«

»Wie das: ich glaube?«

»Ich weiß es wirklich nicht bestimmt. Ich werde wohl irgend einen Tag genannt haben. Es kann ebenso gut der erste August gewesen sein wie ein anderer.«

»Das heißt, wenn ich es recht verstehe: du weißt überhaupt nicht, ob du den Grafen heiraten wirst?«

»Da dürftest du das Richtige getroffen haben.«

»Und du glaubst, er werde das so ruhig hinnehmen?«

»Ich bin nicht seine Sklavin.«

»Aber du hast ihm dein Wort gegeben. Sein Wort pflegt man zu halten – unter anständigen Menschen.«

»Nicht aus diesem Ton, Vater! Ich bitte!«

»Aus welchem sonst soll ich mit dir sprechen! Die Vaterstimme dringt ja nicht zu deinem Herzen! Rebekka, geliebtes Kind! Noch einmal – zum letztenmal! Ich bitte, ich flehe dich an! Dein alter Vater fleht dich an: renne nicht in dein Verderben!«

Er hatte die Hände, in deren einer er schon den Reisehut hielt, zu ihr erhoben; sie stand, an ihren Schreibtisch gelehnt, finster grollend.

»Ich liebe ihn nicht,« murmelte sie.

»Es gab eine Zeit, wo du nicht an Liebe glaubtest, sie wenigstens in der Ehe für überflüssig erklärtest. Wenn du jetzt anderen Sinnes bist, so freue ich mich darüber von ganzer Seele. Liebst du ihn nicht – er liebt dich; liebt dich leidenschaftlich; und sei überzeugt: du wirst ihn lieben lernen. Er ist ein edler Mensch, in dem nichts Kleines und Gemeines ist. Du wirst, wenn nicht vor seinem Geist, so vor seinem Charakter Ehrfurcht lernen.«

»Natürlich! Was bei ihm Charakter heißt, nennt man bei mir Eigenwille, Trotz. Gut denn. Trotz ist auch ein harter Stein. Zwei harte Steine mahlen schlecht.«

»Jawohl! Und euer Glück wird es sein, das zwischen ihnen zermahlen wird.«

»Dann hat es so kommen sollen.«

»In unserer Brust, sagt Schiller, sind unsers Schicksals Sterne.«

»Er war ein Idealist und Phantast. Was wußte er von der realen Welt!«

»Unter anderem, daß die böse Saat böse Früchte trägt.«

»Dergleichen hätte er Darwin überlassen sollen; der verstand sich besser darauf.«

Der Geheimrat hörte den Wagen vorfahren. Es mußte geschieden sein, und – er hatte nichts erreicht!

»Versprich mir wenigstens das eine: wenn die Religionsfrage zur Sprache kommt – sie ist ja das einzige, das so weit unerledigt ist: sei konziliant!«

»Du kennst mein Programm: dem Bittenden vielleicht Gewährung; dem Fordernden ein schroffes Nein.«

»Dann ist es das Ende.«

»Möglich.«

»So denn: du willst nicht hören. Wie wir auch sind: wir stehen in Gottes Hand. Möge er dich nicht fühlen lassen, was du nicht hören willst!«

Becky geleitete den Vater zum Wagen, an dem sein alter Kammerdiener stand, der ihn auf allen Reisen begleitete. Er hob den Herrn hinein und nahm ihm gegenüber auf dem Rücksitz Platz, indem er ihm zugleich eine leichte Decke über die Knie legte. Der alte Mann reichte der Tochter aus dem Wagen heraus die kleine weiße Hand. Die Rappen zogen an. Der Wagen rollte die niedrige Rampe herab, über den Hof, zum Hofthor hinaus.

Der Graf hatte im Laufe des Nachmittags Herrn Loßberg nach Greifswald begleitet und die Gelegenheit benutzt, auf der Post nach Briefen für sich zu fragen. Kamen doch in letzter Zeit häufiger welche: fast durchgängig Geschäftsbriefe, Preiskurante, Reklamen. Es hatte sich bereits in den Berliner betreffenden Kreisen herumgesprochen, daß Loßberg für ein Schloß in Pommern Arbeiten für ein Paar Hunderttausend zu vergeben habe; und man bemühte sich darum.

Dergleichen war auch heute wieder in größerer Zahl da. Aber auch ein Brief, mit einem kleinen Petschaftssiegel – augenscheinlich von einem Ringe – verschlossen und dem Vermerk: »Herzogliche Angelegenheit«. Der Poststempel »Berlin« hatte den Grafen für den Augenblick stutzig gemacht. Indessen, warum sollte der Herzog – sein Herzog – nicht auch von Berlin an ihn schreiben oder schreiben lassen? Es war ein eigenhändiger Brief. Der Graf las ihn noch in der Halle des Postgebäudes und las ihn noch einmal, während sein Wagen nach Selchow zurückrollte:

 

###

»Mein lieber Graf Bassedow!

Ich bin in Ihrer Schuld. Zwar den Brief vom 25. Mai, durch welchen Sie die Liebenswürdigkeit hatten, mir Ihre Verlobung anzuzeigen, habe ich beantwortet; aber in dem Drang der Verhältnisse – ich hatte wieder einmal das Haus voller Gäste – und sehr prätentiöser dazu – nicht mit der Ausführlichkeit und, ich fürchte, nicht mit dem Ausdruck der Wärme des Interesses, welches ich stets, wie Sie wissen, an Ihnen und allem, was Sie betrifft, genommen habe.

Dann war da aber auch noch ein Dilemma, in welchem ich mich Ihnen gegenüber befand, das mich intriguierte, weil ich ihm nicht beizukommen wußte, und dessen glückliche Lösung ich nun von diesen Zeilen erwarte.

Ich komme zur Sache mit dem Freimut, den Sie bei mir gewohnt sind.

Als wir beide Kameraden in demselben Regiment waren und über die Zukunft sprachen, in welcher ich nach dem Ableben meines Onkels zur Regierung gelangen und Sie durch die Verschwendung Ihres Vaters depossediert sein würden, sagte ich – und es war stets der Refrain –: dann kommen Sie zu mir! Als nun alles, wie vorausgesehen, eintraf; Sie sogar beinahe das ganze kleine gerettete Vermögen einbüßten – ich hatte mein Wort wahrhaftig nicht vergessen; jetzt war die Zeit, es einzulösen, und – es muß schon gesagt werden – ich war zu arm, es einlösen zu können. Wie sollte ich Sie plazieren? Ein Staatsmann sind Sie nicht (liegt auch gar nicht auf Ihrer Linie); eine Armee habe ich nicht. Ich hätte Sie also an meinen Hof nehmen müssen: der Sache mußte doch irgend ein Name gegeben werden. Da aber gab es nur eine Stellung, die ich einem Grafen Bassedow anständigerweise anbieten durfte: die des Ober-Hofmarschalls. Und sehen Sie, lieber Graf, da liegt der Hase im Pfeffer: ich bin in meinen Mitteln so kläglich beschränkt, daß mein Ober-Hofmarschall sich nicht besser (eher noch ein wenig schlechter) steht als ein preußischer Regierungsrat. Dabei soll und muß er repräsentieren, ein Haus machen können. Und sintemalen ich nun wieder einen Ober-Hofmarschall haben soll und muß, und ich ihn nicht dotieren kann, wie es sich ziemte, so ist – Sie werden es mir zugeben – die einfache Logik, daß er kein armer Mann sein darf; oder er führt ein Leben voller Verlegenheiten, das Sie, der skrupulöseste aller Menschen, nicht eine Woche ertragen würden.

Sehen Sie, lieber Graf, so mußte ich in den sehr unadligen Verdacht geraten, meines gegebenen Wortes nicht eingedenk zu sein; und – ich mußte den Freund entbehren.

Das eine war so schlimm wie das andere; nur daß ich das letztere vielleicht noch schmerzlicher empfand.

Man sagt: Fürsten können keine Freunde haben. Es mag etwas Wahres daran sein; völlig wahr ist es sicher nicht. Helfen Sie mir, das zu beweisen! Es wäre in der That ein Freundschaftsdienst. Sie können sich ihn jetzt leisten.

Ich denke mir die Sache so:

Sie werden nicht immer auf dem Lande leben wollen. Da Sie, wie ich Sie taxiere und Sie mir zum Überfluß wiederholt versichert haben, kein Landmann sind, halten Sie das nicht aus. Sie werden es nicht für Ruhmredigkeit nehmen, wenn ich Sie versichere, meine kleine Residenz bietet für den Winter keinen üblen Aufenthalt. Ich will kein Sirenenlied singen und Sie mit Aufzählung der Reize, die sie bietet, zu locken suchen – genug: es ist ganz charmant. Und ich, der ich – zu großem Schaden meiner Privat-Schatulle – mehr Wälder als Felder zu eigen besitze, kann mich mit meinen Jagden auch sehen lassen, was für Sie, der Sie ein eifriger Jäger vor dem Herrn (und brillanter Schütze) sind, immerhin ins Gewicht fallen dürfte. Nun aber rechne ich eigentlich nur für den Winter auf Sie. Während des Sommers, den ich fern von meinem Madrid zu verleben pflege, ist nur ausnahmsweise (wie in diesem Juni) etwas los; und ich kann mich ganz gut ohne Ober-Hofmarschall behelfen. In ganz besonderen Fällen würden Sie mir ja schon den Gefallen thun und herüberflitzen – es geht das jetzt so schnell – und in ein paar Tagen wären Sie wieder Ihr freier Herr.

So weit wäre – immer Ihre Wohlgeneigtheit vorausgesetzt – alles in bester Ordnung. Nun ein wichtiger Punkt. Ich nenne ihn so, weil ich, Ihre Gesinnungen kennend, annehmen darf, daß er für Sie wichtig ist.

Man hat mir hier – Sie glauben nicht, wie klein die Welt und von welcher Akustik! – viel von Ihrem Fräulein Braut erzählt: von ihrer großen Schönheit, ihrem (für deutsche Verhältnisse) enormen Reichtum. Unter anderem dann auch, daß sie jüdischer Abkunft. Ich sage ausdrücklich: jüdischer Abkunft. Denn entweder hat sie sich – wie das ja diese reichen Damen zu thun pflegen – bereits in früher Jugend taufen lassen; oder ich nehme doch als selbstverständlich an, daß sie vor der Hochzeit zu unserem Glauben übertritt. Es bleibt also bei der Abkunft. Nun kenne ich Höfe (mir sehr benachbarte sogar), an denen dies Item immerhin in die Wagschale fiele. Bei mir und an meinem Hofe ist das nicht der Fall. Ich bin, wie Sie, gläubiger Christ und überzeugt, daß man nur durch Jesum Christum, seinen Sohn, zu Gott dem Vater gelangen kann. Aber ich weiß auch (wie Sie), daß der Herr seine Jünger aussandte zu allen Völkern: Juden und Heiden, sie zu lehren und in seinem Namen zu taufen. So denn: auf die Taufe kommt es an. Das andere ist irrelevant. Oder relevant doch nur in den Augen solcher, die sich zum wahren Christentum nicht durchgerungen haben; und derer giebt es denn freilich – Gott sei es geklagt – noch recht viele. Mein Hof aber denkt wie ich. So wird Ihre schöne und geistvolle (auch dieser Ruf geht ihr voraus) Gemahlin ihm willkommen sein. Auf alle Fälle – was doch auch wohl in Ihren Augen die Hauptsache sein dürfte – mir und der Herzogin.

Also, lieber Graf, ich denke, ich darf sagen: abgemacht. Wann Sie in Aktion treten wollen, soll ganz in Ihr Belieben gestellt sein. Hat der gute alte Isenburg (der schon meinem hochseligen Onkel dreißig Jahre lang seine treuen Dienste gewidmet) so lange das Amt interimistisch geführt, mag er es noch ein wenig länger. Für den Sommer ist es ja, so wie so, eine Sinekure.

Aber hierher nach Berlin, wo ich noch drei Tage bleibe (ich wohne, nebenbei, im Schloß), schreiben Sie mir, bitte, möglichst umgehend.

Und reißen Sie aus der nachgerade unerträglichen Lage, ohne Ober-Hofmarschall und ohne Freund leben zu sollen,

Ihren Freund Ernst Ludwig.«

*

Zum anderen Male steckte der Graf den herzoglichen Brief wieder in die Brusttasche und blickte in schwerem Sinnen auf die Kornbreite zur Rechten, deren reifende Ähren ein lauer Nachmittagswind sanft hin und wieder bewegte. Für ihn jetzt kein Schwanken, kein Schaukeln mehr. Die Oberhofmarschallfrage war ja Nebensache. Damit mochte sie es halten, wie sie wollte. Aber so mußte doch auch die Religionsfrage zur Sprache kommen. Hier war die Entscheidung. Wenn sie ihn trotz all seiner Zweifelsqualen der letzten Tage liebte – hier und jetzt konnte sie, mußte sie es beweisen.

Sein Weg führte an Polchow, ziemlich nahe sogar am Gutshofe, vorüber. Er hatte im ersten Moment gemeint, es lieber bis morgen aufschieben zu sollen. Es war gestern abend ein unfreundlicher Abschied zwischen ihnen gewesen, dessen Erinnerung, da sie sich heute morgen nicht gesehen, noch in aller Herbheit auf ihm lastete. Aber ein Offizier, der auf dem Marsch den Donner der Schlacht hört, marschiert darauf los. Ein Feigling, der es anders hält.

Der Graf hieß den Kutscher, nach Polchow ablenken.

*

Als sein Wagen in den Hof fuhr, sah er vor dem Hause zwei Reitpferde gesattelt, die der Groom auf und ab leitete, und Becky, die eben im Reitkleide aus der Thür trat. In demselben Moment bemerkte er auch Herrn von Plat, der, ebenfalls im Reitkostüm, eiligst vom Inspektorhause herankam. Es gab ihm einen Stich durchs Herz, daß sie ausreiten wollte, während sie gar nicht wissen konnte, ob er nicht heute nachmittag kommen würde. Daß sie sich Plat zum Begleiter befohlen, war ihm gleichgültig: der Mensch existierte nicht für ihn. So hatte denn, als er aus dem Wagen gesprungen war, und sie, von der Rampe herab, ihm zögernd entgegenkam, ihr Wiedersehen etwas, das an den Abschied von gestern abend erinnerte.

»Es wurde mir zu langweilig,« sagte sie. »Auch hattest du nicht gesagt, ob ich dich heute noch erwarten durfte. Da wollte ich eine Stipvisite in Lassow machen. Die Bornfelds sind gestern abend hier gewesen, während wir bei Tisch saßen, und haben sich deshalb thörichterweise gar nicht melden lassen. Ich wollte die kleine Frau deshalb ein wenig ausschelten.«

»Wenn du erlaubst, begleite ich dich.«

»Den Sultan für den Herrn Grafen satteln!« befahl Becky einem Reitknecht, der dabei stand.

»Es ist nicht nötig,« sagte der Graf; »ich nehme den Wallach. Schnallen Sie die Riemen zwei Löcher länger, Ernst! Sie haben nichts dagegen, Herr von Plat?«

Erst jetzt hatte er, den Hut lüftend, sich zu dem jungen Mann gewandt, der vor Wut über die ihm zu teil gewordene Behandlung heimlich bebte, aber es fertig brachte, mit scheinbar höflicher Gleichgültigkeit zu erwidern:

»Ganz wie der Herr Graf wünschen.«

Und dann zu Becky:

»Ich hatte so wie so noch etwas zu thun, gnädiges Fräulein. Bei den Runkelrüben.«

»Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihren guten Willen,« sagte Becky, indem sie sich von ihm in den Sattel helfen ließ, während der Graf die Bügelriemen an dem Wallach prüfte und ebenfalls aufsaß. Becky bewegte lächelnd gegen Plat die Reitpeitsche, der Graf lüftete abermals, nicht eben hoch, seinen Hut, ohne seine Miene zu verändern; und sie setzten die Pferde in Bewegung.

Becky brach zuerst das Schweigen, das schon ungebührlich lange gewährt hatte.

»Du kamst, wie mir schien, von Greifswald.«

»Ja. Ich hatte Loßberg hingebracht.«

»Dann hast du meinen Vater noch auf dem Bahnhof gesprochen?«

»Ich hatte mich bereits vorher von Loßberg getrennt. Offen gestanden auch vergessen, daß dein Vater mit demselben Zuge fahren mußte.«

»Das ist nicht schmeichelhaft für seine Tochter.«

»Wer da weiß, wie hoch ich deinen Vater schätze – und ich meine, das könntest du mit der Zeit wissen – dürfte mir wohl die kleine Vergeßlichkeit nicht übel nehmen.«

»Wollen wir antraben?«

»Wie du willst.«

Becky glaubte eine vollendete Reiterin zu sein. In des Grafen Augen gehörte sie von den drei Kategorien, die er sich bei seinen Rekruten zu machen pflegte: solche, die es gut, solche, die es ungefähr und solche, die es gar nicht lernen, bestenfalls in die zweite. Sie nahm sich vortrefflich aus, so lange das Pferd stand oder man Schritt ritt. Aber das hatte sie nur ihrer schlanken, elastischen Gestalt zu danken. Sobald es auch nur zum Traben kam, fing für ihn das Leid an. Er hatte seinen Rekruten immer klar zu machen gesucht, daß Roß und Reiter ein Compagniegeschäft eingegangen seien, in welchem zwar der Reiter das Kommando führen, aber auch der Gaul zu seinem Recht kommen müsse. Davon hatte Becky nach seiner Meinung keine Ahnung. Nicht, daß ihre Hilfen absolut falsch gewesen wären; nur gab sie sie weder immer zur rechten Zeit, noch fast je in dem geforderten Maße. Das war um so schlimmer, als die beiden Pferde, die sie bevorzugte, sehr edle Tiere und von einem ausgezeichneten Reitmeister vortrefflich geschult waren, auf die leiseste Hilfe reagierten und nicht selten in völlige Verzweiflung gerieten über eine Reiterin, die fortwährend an ihnen herumzerrte. Der Graf hätte manchmal hellauf lachen mögen; nur daß das Ding auch seine sehr ernsthafte Seite hatte. Es waren Vollblutpferde mit der Lenkbarkeit und der Sanftmut, aber auch dem Feuer und der Leidenschaftlichkeit ihrer Rasse. Ging einmal ihre Geduld zu Ende, konnte es leicht eine Katastrophe geben. Der Graf hatte anfänglich mit aller Höflichkeit und Schonung versucht, Becky wenigstens ihre gröbsten Unarten abzugewöhnen; war aber davon abgestanden, als er herausfand, daß sie schlechterdings untraitabel war. Warum Sportsleute, die nicht das mindeste Geschick zu der erwählten Liebhaberei haben, die unlenkbarsten aller Menschen sind, hatte er nie herausbringen können.

Heute steuerte sie ihre Arabella schlechter als je; aber weniger als je hatte der Graf Lust, hineinzureden. Ihm lag Schwereres im Sinn; so Schweres, daß, was ihm bis jetzt im Leben die Seele bedrückt hatte, Kinderspiel dagegen erschien. Nicht, als ob er an einem guten Ausgang gezweifelt hätte! Sie mußte ja einsehen, daß er nichts Unbilliges forderte! Nur daß sie es überhaupt so weit hatte kommen lassen! Ihm seine billigen Wünsche nicht unaufgefordert erfüllte! Aber das war alles Unsinn! Er erfand sich Schwierigkeiten, wo keine waren. Der Herzog keine sah! Kein vernünftiger Mensch! Nur er! Mit fünf Worten war die Sache abgemacht!

Und die paar Worte wollten nicht von seiner Zunge!

»Unterhaltend sind der Herr Graf heute nicht,« sagte Becky.

»Mir gehen so viele ernste Dinge durch den Kopf.«

»Dann erweise mir die Gnade und behalte sie für dich! Von der Sorte hat mir mein Vater heute schon gerade genug vorgesetzt.«

Der Graf erschrak. Sollte der alte Herr dasselbe Thema mit ihr besprochen haben? und dies das Resultat sein? Diese sichtbare böse Laune? diese kaum noch verhüllte Gereiztheit?

»Ich kann mir nicht denken,« sagte er, »daß dein Vater Dinge, die dich so offenbar verstimmten, ohne zwingende Gründe zur Sprache gebracht hat.«

»Wenn ihr Männer uns Unannehmlichkeiten bereiten wollt, scheinen euch die Gründe dazu immer zwingend.

»Ich halte deinen Vater für völlig unfähig, dergleichen einem Menschen bereiten zu wollen; geschweige denn dir. Was er auch gesagt haben mag, es war gewiß wünschenswert, daß es zur Sprache kam; ich vermute sogar: notwendig.«

»Ei, ei, Herr Graf, seit wann machen wir denn den Leuten Konkurrenz, die das Gras wachsen hören! Das Gras soll manchmal Dinge reden, die man lieber nicht gehört hätte. Ich denke, wir lassen uns auf das undankbare Metier nicht ein und galoppieren ein wenig. Arabella beliebt es heute wieder einmal, nicht traben zu wollen.«

Du verschiebst es bis morgen, dachte der Graf. Heute ist faktisch nicht mit ihr zu reden.

Sie hatten die Pferde in Galopp gesetzt und den Gutshof von Lassow, das zwischen Polchow und seinen Vorwerken ziemlich tief hineinschnitt, bald erreicht.

*

Karl und Lieschen von Bornfeld empfingen sie mit großer Herzlichkeit, Lieschen ihre neue Freundin sogar mit offenen Armen. Sie wären gestern abend zu gern hereingekommen; hätten sich aber zu sehr geniert! Das heißt: Karl hatte sich geniert; die Männer sind ja immer so umständlich; haben keine Initiative; tausendmal weniger als die Frauen!

Bornfeld verteidigte sich. Der Diener hätte gesagt: es würde drinnen eine Verlobung gefeiert. Zu einer Verlobungsfeier komme man doch nicht als ungebetener Gast! Dazu habe er Fräulein Ännchen Guttmann zwar flüchtig einmal in Greifswald in Gesellschaft des gnädigen Fräuleins gesehen; auch die Ehre gehabt, ihr vorgestellt zu werden; der Herr Professor Rehfeld aber sei eine ihm völlig unbekannte Größe. Welch letzteres Wort er buchstäblich zu nehmen bitte.

»Alles, was in Polchow verkehrt, ist eine Größe,« erklärte Lieschen.

»Davon muß ich doch gehorsamst bitten, mich ausnehmen zu wollen, gnädige Frau,« sagte der Graf lächelnd.

»Ich dächte, Graf, Sie wären gerade groß genug.«

»Nur daß Sie es so nicht gemeint haben.«

»Wie wär's, Graf, wenn wir einmal meine neuen Kutschpferde uns ansähen?« sagte Bornfeld, dem die Wendung, die das Gespräch genommen, nicht sonderlich gefiel.

»Schon wieder neue!« rief der Graf.

»Alle acht Tage,« sagte Lieschen.

»Die Dänen waren mir zu schwer,« meinte Bornfeld. »Ich habe sie gegen ein paar Jucker vertauscht, die wieder Zarrentien zu leicht waren. Kapitaler Tausch, sage ich Ihnen.«

Die Herren gingen nach dem Stall. Die Pferde wurden herausgeführt; in den verschiedenen Gangarten geprüft; vom Grafen vortrefflich gefunden; das Handpferd hätte ein wenig mehr Brust haben können. Bornfeld war über das Lob eines solchen Kenners sehr erfreut, aber augenscheinlich nicht recht bei der Sache.

Als sie nach dem Hause zurückschritten, blieb er plötzlich stehen und sagte, während aus seinem hübschen, braunen Gesicht die hellen Augen verlegen seitwärts blickten:

»Werden Sie mich für sehr indiskret halten, Graf, wenn ich eine Frage thue, die allerdings verdammt indiskret klingt?«

»Bitte!« sagte der Graf.

»Ist Ihr Fräulein Braut noch Jüdin?«

»Wie kommen Sie darauf?« fragte der Graf betreten zurück.

»Noch einmal: verzeihen Sie, wenn ich vielleicht da eine Dummheit mache! Es wird in unsern Kreisen so viel davon geredet. Vorgestern bei Zarrentien – Sie waren nicht da –«

»Wir hatten das ganze Haus voll Besuch.«

»Schade! Die Gesellschaft war eigentlich nur für Sie und Ihr Fräulein Braut zusammengetrommelt.«

»Desto freier konnten die Herrschaften ja in unsrer Abwesenheit über uns reden.«

»Was denn auch wirklich aus Leibeskräften geschah.«

»Und mit der landläufigen Freundlichkeit.«

»Na! ich kann nicht sagen, daß man unfreundlich war. Über Sie, Graf, war nur eine lobende Stimme. Und Ihr Fräulein Braut – allerhand Achtung – das versteht sich von selbst. Nur der eine kritische Punkt. Daß der alte Herr Geheimrat Jude ist, wollte man mit Bestimmtheit wissen. Warum auch nicht? Es hat ja schon so viele große jüdische Gelehrte gegeben – sagt man. Ich weiß es freilich nicht, glaube es aber gern: sie sind ja auch sonst eine höllisch gescheite Nation. Über Ihr Fräulein Braut gingen die Ansichten auseinander. Die einen meinten: es verstände sich doch von selbst, daß sie übergetreten sei; andere wollten das Gegenteil mit Bestimmtheit wissen. Sehen Sie, Graf, unsereiner sitzt dann dabei und muß die Leute reden lassen, anstatt ihnen über das Maul fahren zu können, was ich bei Grieben, dem alten Stänker, der es am weitesten aufriß, gar zu gern gethan hätte. Ich wollte, Sie autorisierten mich, es bei nächster Gelegenheit thun zu dürfen.«

»Sie sind sehr freundlich. Aber in der That ist Fräulein Lombard bis auf den heutigen Tag noch Jüdin.«

Bornfelds Gesicht bedeckte sich mit einem jähen Rot.

»Unmöglich!« murmelte er.

»Ich versichere Sie,« fuhr der Graf ruhig fort. »Natürlich ist ihr Übertritt nur eine Frage der Zeit. Was Sie inzwischen den Leuten auf Ihr Wort sagen dürfen, ist, daß Graf Bassedow niemals mit einer Jüdin an den Altar treten wird.«

»Na, dann ist ja alles in schönster Ordnung,« sagte Bornfeld, erleichtert aufatmend. »Und nicht wahr, Graf, Sie haben mir meine Frage nicht übelgenommen?«

»Aber ich bitte Sie! Sie hatten das vollkommenste Recht zu der Frage. Wenn wir von Adel uns auch in Nebensachen zanken, in den entscheidenden Punkten müssen wir solidarisch denken und handeln.«

»Famos, das, Graf!« rief Bornfeld, »und daß gerade Sie es sagen! Werde es bei nächster Gelegenheit dem alten Grieben runterschmettern – bis in die rote Perücke soll's ihm fahren! Nennt Sie einen halben Renegaten, der alte Dussel! Solidarisch denken und handeln! Famos!«

Inzwischen hatte Lieschen Becky in ihre Milchkammer geführt. Die war ihr Stolz. Und da sie auf der Hochzeitsreise unter anderem auch nach der Rosenburg, der herzoglichen Musterwirtschaft bei Koburg, gekommen und dort in der Milchkammer ein Fremdenbuch hatte ausliegen sehen, in welches auch die Königin von England allerhöchst sich eingeschrieben, erklärte sie, nicht einzusehen, weshalb sie desgleichen nicht auch haben solle. Es standen freilich erst fünf oder sechs Namen in ihrem Buch. Das thue nichts. Erstens sei sie kaum so viele Monate verheiratet; und wenn der Zug der Touristen mehr über die Rosenburg als über Lassow gehe, könne man sie dafür nicht verantwortlich machen.

Die kleine Frau plauderte so scheinbar sehr munter, während Becky mit ihrer kühnen großen Handschrift ihren Namen auf ein leeres Blatt warf; aber sie trug etwas anderes in der Seele, wozu sie keinen Übergang finden konnte, und das sich endlich in der völlig unvermittelten Frage Luft machte:

»Ist es wahr, daß der Professor, der sich mit Ännchen Guttmann verlobt hat, ein Jude ist?«

Beckys sehr kühl herauskommendes »Allerdings« klang nicht gerade ermutigend; indessen unter Freundinnen muß man doch auch »über so was« sprechen dürfen. Ihren Mut zusammennehmend, fuhr sie fort:

»Sind denn die Guttmanns auch Juden?«

»So viel ich weiß: nein.«

»Ja, wie soll es denn nun werden?«

»Was?«

»Wenn sie heiraten? Sie kann doch unmöglich Jüdin werden.«

»Weshalb nicht? Juden sind so zu sagen auch Menschen.«

»Natürlich sind sie das. Es kommt nur so selten vor. Vielleicht läßt doch lieber er sich taufen?«

»Ich bin überzeugt, daß er das nicht thut.«

»So wird sie kein Pastor einsegnen wollen.«

»Dann läßt er es eben bleiben. Übrigens ist ja speciell für solche Fälle die Civiltrauung da.«

»Aber das ist doch so or–, das thun doch nur kleine Leute: Handwerker und so was, die das Geld für die kirchliche Trauung sparen wollen.«

»Liebes Kind, ich weiß nicht, weshalb wir uns über eine Sache den Kopf zerbrechen, die uns gar nichts angeht.«

Lieschen wollte in voller Verzweiflung rufen: Sie und der Graf, sagt alle Welt, sind ja in derselben Lage! fand aber dazu doch nicht den Mut und geleitete Becky in das Wohnzimmer zurück, wo sie die Herren antrafen, und inzwischen ein Tisch mit einem »Lüttabendbrot«, wie Lieschen es nannte, gedeckt war.

Bornfeld, durch das Wort des Grafen völlig beruhigt und in bester Stimmung, war sehr redselig; die Verlobten blieben einsilbig; Lieschen konnte ihre alte Munterkeit nicht wieder finden.

Der Graf meinte endlich: es scheine ihm hohe Zeit, aufzubrechen; Becky erhob sich apathisch; Lieschen machte nur schwache Einwendungen; Bornfeld befahl, daß man die Pferde vorführen solle; ein paar Minuten später waren Becky und der Graf im Sattel und ritten zum Hofthore von Lassow hinaus.

*

Es war nun doch so spät geworden, daß die Dämmerung bereits stark hereinbrach. Die Hitze der letzten Tage hatte den Feldweg, den sie ritten, völlig ausgetrocknet und tiefe Spalten in den Lehmboden gerissen. Rechts von ihnen dehnte sich ein sehr umfangreiches Brachland; darüber wegreitend, wäre man dem lästigen Staube entgangen und hätte überdies die Entfernung zwischen Lassow und Polchow bedeutend abgekürzt. Becky machte den Vorschlag; dem Grafen war es recht; in seiner tiefgedrückten Stimmung war ihm alles recht.

Auf dem glatten Dresch setzten sie die Pferde in Galopp. Der Graf mahnte zur Vorsicht; er wußte, daß auf solchem Terrain oft Löcher sich finden, die das Pferd straucheln machen und gar zu Fall bringen, wenn der Reiter es nicht sehr sicher führt. Daran ließ es Becky wieder in einer für den Grafen peinlichen, ja beängstigenden Weise fehlen. Er konnte sich endlich doch nicht enthalten, ihr ernstliche Vorstellungen zu machen.

»Ich habe, bis du kamst, für eine gute Reiterin gegolten,« sagte Becky, ihr unruhiges Pferd mit der Gerte heftig über den Hals schlagend, auf dem die Schaumflecken standen. »Es ist merkwürdig, daß so viele Leute sich geirrt haben. Nicht alle Leute freilich können Kavallerieoffiziere gewesen sein.«

»Sicher nicht. Aber einem alten Kavallerieoffizier solltest du zutrauen, daß er, wenn auch sonst nichts, wenigstens sein Metier versteht.«

Ein sechs bis sieben Fuß breiter Graben zog sich plötzlich quer vor ihnen durch die Brache.

»Wir wollen ihn umreiten,« sagte der Graf. Er muß da hinten an den Weiden ein Ende nehmen. Es ist ein kleiner Umweg.«

»Ich denke nicht daran,« gab Becky zurück. »Ich habe mit Arabella schon ganz andere Gräben genommen.«

»So laß ihr wenigstens einen kleinen Anlauf! und –«

»Ich weiß, was ich zu thun habe.«

Sie hatte nun doch Arabella eine kurze Distance zurückgeführt und setzte sie dann in Galopp. Der Sprung gelang nur schlecht. Das Pferd schlug mit den Hinterhufen drüben so scharf auf die Grabenkante, daß es um ein kleines zurückgerutscht wäre und sich nur mit äußerster Anstrengung davor rettete. Der Graf landete mit seinem Wallach ohne alle Anstrengung.«

»Na, das ging ja noch gut ab,« sagte er freundlich. »Die Sache ist: du reitest sie viel zu ausschließlich auf Vorderhand. Das ist immer ein Übelstand. Zeigt sich schon im Trab, wo der Gaul lange nicht hergiebt, was er in sich hat. Am meisten aber beim Sprung: Hochsprung oder Flachsprung – gleichviel. Wenn die Hinterhand nicht ordentlich arbeitet, sitzt man drin. Holla!«

Ein großes Volk Rebhühner war schwirrend und sausend dicht vor ihnen aufgegangen. Der Wallach prallte entsetzt seitwärts; im Nu hatte ihn sein Reiter wieder in der Gewalt. Beckys Arabella, durch die Mißhandlungen, die sie erfahren, längst am Rande ihrer Geduld, hatte das Gebiß zwischen die Zähne genommen und jagte in voller Karriere davon. Der Graf ihr nach. Arabella war weitaus das schnellere Pferd, aber, indem der Graf alles aus dem Wallach herausholte, kam er dem Durchgänger näher und näher und war bereits kaum noch eine Pferdelänge hinter ihm, als er zu seinem heftigsten Erschrecken in geringer Entfernung vor ihnen die Mergelgrube sah, die bereits in der Nachbarschaft des Hofes lag, und die er sich zufällig einmal mit Pasedag genau angesehen hatte. Die Grube war an die dreißig Fuß tief, an der Seite, auf die sie zurasten, mit völlig steilen Wänden. Ein Sturz aus solcher Höhe mit dem Pferde konnte, mußte das Leben kosten.

Im nächsten Augenblicke hatte er den Wallach vorgestoßen, daß die Tiere Kopf an Kopf jagten.

»Laß dich fallen!« schrie er Becky zu und hatte sie, die ihm nun doch so weit entgegenkam, mit dem rechten Arm ihren Leib umfassend, aus dem Sattel zu sich aufs Pferd gehoben. Arabella, ihrer Last ledig, bog sofort seitwärts auf ein Stück Klee, wo sie, als sei nichts geschehen, ruhig zu grasen begann. Der Wallach stand ebenfalls. Der Graf ließ Becky auf den Boden gleiten, ritt ruhig auf Arabella zu, die sich gutwillig an den Zügeln fassen und zurückführen ließ; stieg ab und half Becky in den Sattel. Die kurze Strecke bis zum Hof wurde im Schritt zurückgelegt, und ohne daß zwischen den Verlobten ein Wort gesprochen wäre.

*

In Polchow angekommen, war der Graf sogleich, sich umzukleiden, auf sein Zimmer gegangen, das immer für ihn bereit stand; er hatte gemeint, Becky habe sich zu demselben Zweck in ihre Gemächer begeben.

Sie hatte es allerdings vorgehabt, war aber nur bis in den großen Salon gelangt, wo ein Diener eben die Rampen anzündete. Da hatte sie sich in einen Fauteuil geworfen und saß nun, die Hände, von denen sie nicht einmal die Handschuhe abgezogen, auf den Knien starr vor sich hinstreckend, auf den Teppich stierend. Im Kopfe fühlte sie, stärker noch als gestern abend, jenen schrecklichen Druck kommen, mit dem ihr Gehirn, wenn sie innerlich besonders stark erregt war, gegen seine Wände zu pressen schien. Wie vom Sturmwind gejagt, rasten die Gedanken dahin. Oder war es nur ein Gedanke, der, wie ein niederfahrender Blitz sich in Zacken zersplittert, in den verschiedensten Ausdrücken immer dasselbe sagte: Er ist stärker als du!

Daß er sie, die doch wahrlich kein Kind, wie ein Kind von ihrem Pferde auf sein Pferd in seine Arme reißen, aus seinen Armen sanft auf die Erde gleiten lassen konnte, wie eine Mutter ihr Baby – das war es nicht. Das war nur symbolisch für das andere. Für all das andere, das ihr in diesen letzten Wochen immer klarer geworden war, wie am Nachthimmel der erste blaßrötliche Schein einer Feuersbrunst mit jeder Sekunde dunkler und mächtiger wird: Er ist stärker als du! Als du mit deinem Wissen, deinem Geist, deinem Witz, deiner Klugheit! Das alles ist nichts vor seinem Willen, der auf sicheren breiten Schwingen kommt. Wie der Wind hier in Polchow vom Meere her. Und das Korn neigt sich gehorsam in seinem Hauch; und die Flügel der Mühlen drehen sich nach seinem Belieben. Und alles tanzt, wie er pfeift.

Sie war aufgesprungen und maß das Gemach mit langen Schritten.

Die Mädchen! das Dienerpack! Pasedag! Arndt! Frau Direktor selbst! Alle, alle schielen sie nach ihm, ob er sie loben wird! Der Vater! Guttmann! Rehfeld! Es ist zum Lachen, mit welcher Achtung sie von ihm sprechen. Der so unwissend ist, daß es einen Stein erbarmen könnte! Seine adlige Sippe – ist er nicht der erste, wohin er kommt! Ich verstehe es nicht, ich verstehe mich selbst nicht mehr. Ich bin nicht mehr ich. Dieser Mensch macht etwas aus mir, das ich nicht sein will. Ich will nicht seine Kreatur sein. »Ein edler Mensch, an dem nichts kleinlich und gemein!« Um so schlimmer! um so gründlicher dann die Sklaverei! Lieber eines Räubers Dirne als Gattin dieses Tugendbolds!

Sie vernahm seinen Schritt auf dem Korridor.

Wie ich den Menschen hasse!

Sie hatte eben noch Zeit gehabt, sich in einen der Fauteuils unter der Ständerlampe zu werfen, als er hereintrat.

»Noch im Reitanzug?« fragte er verwundert.

»Ich bitte um Entschuldigung. Ich wollte mich ein wenig ausruhen und bin so sitzen geblieben.«

»Gott sei Dank, daß es so abgelaufen ist! Es hätte schlimm werden können. Wir waren keine dreißig Schritte mehr von der fatalen Grube. Ich würde sie an deiner Stelle zuschütten, die steilen Ränder wenigstens abböschen lassen. Sonst giebt es doch noch mal ein Unglück.«

Er hatte es sehr freundlich gesagt und fuhr, als keine Erwiderung von ihr kam, in demselben gütigen Tone fort:

»Ich sehe, du bist sehr abgespannt. Freilich kein Wunder nach unsrer halsbrecherischen Aventüre. So wollen wir – du erinnerst dich: ich deutete dir unterwegs an, daß ich über ein paar wichtige Sachen mit dir zu sprechen wünschte – aber wir wollen es bis morgen lassen, wo dann für die eine freilich der letzte Termin wäre, da ich einen darauf bezüglichen Brief unbedingt beantworten muß. Ich komme, wenn es dir recht ist, morgen um zehn.«

Er wollte ihr die Hand reichen; sie machte eine abwehrende Bewegung.

»Es wäre freilich das dritte Mal,« sagte sie, »daß die Sache aufs Tapet gebracht wird: erst von dem Vater; vorhin von der Bornfeld; jetzt von dir. Gleichviel! ich möchte sie aus der Welt haben. Also bitte!«

»Ja, von welcher Sache sprichst du denn?« fragte er unsicher, in der stillen Hoffnung, daß sie trotz der bedrohlichen Wendung, die das Gespräch zu nehmen schien, nicht da hinaus wollte, wohin er ihr gerade jetzt so ungern folgen würde.

Sie lachte ein kurzes bitteres Lachen.

»Zerbrecht ihr euch denn noch über etwas anderes die Köpfe als über das Heil meiner armen Seele?«

Also doch! Es gab ihm einen Stich ins Herz, daß sie von der Angelegenheit, die ihm heilig war und von deren Entscheidung alles abhing, in dieser frivolen Weise beginnen konnte. Aber gerade deshalb durfte er jetzt das Thema nicht weiter verfolgen. Was sollte daraus werden, wenn er die Bitterkeit, die er in sich aufsteigen fühlte, am Ende doch nicht zu beherrschen vermochte!

So brachte er es fertig, ruhig zu sagen: »Bitte, lassen wir das! Es eilt ja nicht.«

»Ich denke doch. Du sprachst von morgen als dem letzten Termin?«

»Das ist eine andere Angelegenheit, die freilich damit zusammenhängt.«

»Wenn mir etwas widerwärtig ist, ist es, mich mit Rätseln abquälen zu sollen. Was ist dies andere nun wieder?«

»Darf ich dich bitten, diesen Brief zu lesen!«

Er hatte des Schreiben des Herzogs aus der Tasche genommen und ihr gereicht. Die Religionsfrage mußte nun freilich auch zur Sprache kommen. Aber hatte er nicht vorhin zu Bornfeld gesagt: es ist nur eine der Zeit? Wie lange sollte die noch währen? Mochte es sich denn jetzt entscheiden – so oder so! Vielleicht ging doch noch alles gut. Sie mußte ja einsehen, daß das Recht auf seiner Seite war.

»Ein wenig lang,« sagte sie, die Blätter, deren mehrere waren, durch die Hand laufen lassend.

»Wenn ich dich dennoch bitten dürfte! Übrigens steht nicht viel auf der Seite.«

Sie begann mit der Miene teilnahmloser, für den Grafen peinlicher Gleichgültigkeit zu lesen, die sich auch während der Lektüre nicht veränderte, zu welcher er die dreifache Zeit gebraucht haben würde. Wie erfüllt von Zorn ihr Herz auch war, fast hätte sie ihm ins Gesicht gelacht. Für so dumm hielt er sie! Nicht zu merken, daß dies ein Köder sein sollte! Er sie kirren wollte durch die Aussicht, am Hofe eines Herzogs in einer hohen Stellung glänzen zu können! Und dafür natürlich zu jeder beliebigen anderen Konzession bereit zu sein! Er sollte es büßen, gegen sie kämpfen zu wollen mit so kindischen Waffen!

»Du wünschest zu wissen,« sagte sie, »wie ich über den Vorschlag denke, da der Herzog die Güte gehabt hat, mich gewissermaßen mit in Rechnung zu stellen.«

»Das verstand sich unter diesen Umständen doch von selbst.«

»Darf ich eine Zwischenfrage thun? Ich bin in diesen Dingen so unbewandert. Du wirst mich entschuldigen müssen, wenn ich ungeschickt frage. Ich habe immer gemeint: Hofmarschall, oder Oberhofmarschall das sei der oberste Bediente an einem fürstlichen Hofe? So was wie majordomo in England? maître d'hôtel in Frankreich? Steht ein Graf Bassedow nicht doch zu hoch, als daß er sich zu einem fürstlichen Bedienten erniedrigen dürfte?«

Aus dem Ton ihrer Stimme, aus der Art, wie sie die Worte von der Zungenspitze fallen ließ, hörte der Graf deutlich heraus, daß dies alles Ironie war. Nicht die, in der sie sich sonst gefiel, der Umgebung ihre geistige Überlegenheit zu Gemüt zu führen – hier war noch ein bittrer Tropfen in den Trank gemischt: sie wollte ihn geflissentlich kränken. War es so weit gekommen? Durch seine Schuld? Weshalb hatte er vorhin die Scene, die sich so übel anließ, nicht entschlossen abgebrochen?

»Du gehst von ganz falschen Voraussetzungen aus;« erwiderte er, trotz seiner tiefen innerlichen Erregung äußerlich mit vollkommener Gelassenheit, »und ziehst aus diesen Voraussetzungen Schlüsse, die natürlich wieder falsch sind. Zwischen Dienen und Bedienen ist denn doch ein großer Unterschied. Für keinen Deutschen von Adel ist je das Bekenntnis: ›ich diene meinem Lehnsherrn‹ entehrend gewesen. Es war vielmehr seine höchste Ehre. Und für ihn den Schlachtentod zu sterben ein bevorzugtes Glück.«

»Es giebt eben seltsame Anschauungen,« sagte Becky wegwerfend. »Bei den Feuerländern soll noch Wunderlicheres vorkommen. Nur von dem Abkömmling einer uralten Kulturnation kann man doch dergleichen füglich nicht im Ernst verlangen. Übrigens höre ich heute zum erstenmal, daß der Herzog dein Lehnsherr ist.«

»Gewiß ist er das nicht,« erwiderte der Graf, »Es sollte mir zur Illustration meiner Ansicht dienen. Dafür muß der Brief dir doch gesagt haben, daß der Herzog das Ganze als ein freundschaftliches Verhältnis betrachtet; als einen Freundschaftsdienst, den ich ihm leisten soll; und für den er nach einer Form gesucht, eine Form gefunden hat, wie sie zarter, taktvoller –«

Er brach plötzlich ab bei einem Blick in ihre starren, wie ihm schien, hohnvoll auf ihn gerichteten Augen. So war das Fürchterliche, das er bis zu diesem Moment doch immer nur als eine hypochondrische Grille betrachtet, kopfschüttelnd zurückgewiesen hatte, schaudervolle Wirklichkeit: sie wollte mit ihm brechen! Darum durfte sie nicht annehmen; darum mußte sie verächtlich von sich stoßen, worin sie sonst, wenn auch nichts weiter, doch einen freundlichen Schmuck des Lebens gesehen hätte. Dann aber war jedes Wort, das noch über die Angelegenheit gesprochen wurde, eine Demütigung und Beleidigung für ihn. Die Schlacht war verloren. Es handelte sich jetzt um nichts mehr als einen ehrenvollen Rückzug. Nur um Himmelswillen die Bitterkeit nicht merken lassen, die sein Herz erfüllte! Nicht merken lassen, wie die Wunde schmerzte, die sie seinem Stolz geschlagen! Und um alles nicht, wie sehr er sie noch liebte – trotz alledem!

So bebte seine Stimme kaum merklich, als er nach einer sekundenlangen Pause fortfuhr:

»Du kannst, scheint es, mir das nicht nachfühlen. Und damit ist die Sache – auf die ich übrigens nie einen besonderen Wert gelegt habe – definitiv erledigt.«

Er hatte sich erhoben; verbeugte sich, ohne ihr die Hand zu bieten, und machte eine Wendung zu gehen. Sie war von dem Fauteuil aufgesprungen, that ein paar rasche Schritte, wandte sich und stand jetzt so, daß, wollte er zur Thür nach dem Korridor gelangen, sie ihm Raum geben, oder er um sie herumgehen mußte.

»Und mit ihr, denke ich, die andre auch;« rief sie »die Seelenheilfrage!«

»Lassen wir das!« sagte er ruhig und traurig, »das hat jetzt keinen Sinn mehr.«

Er machte eine Vorwärtsbewegung; wieder vertrat sie ihm den Weg. Seine letzten Worte wollte sie nicht gehört haben.

»Es wäre vielleicht Pflicht eines christlichen Ritters gewesen, nicht bis zum letzten Augenblick zu warten, bevor man sich vergewisserte, wie es sich damit verhielt. Aber da wäre wohl dem jüdischen Mädchen zu viel Ehre angethan. Die reserviert man für christliche Baronessen und Komtessen. Ein Judenmädchen, dem man die Gnade erweist, es zur Christin zu machen, muß ja in Dankesthränen zerfließen, die servile Kreatur!«

»Genug!«

»Nicht ganz. Die servile Kreatur, meint man, glaubt doch wenigstens an einen Gott. a la bonheur! Da läßt sich zur Not eine Schiebung machen: ein Gott für den andern! und le tour est fait. Nein, mein Herr Graf! Da haben Sie mich doch über- oder untertaxiert, wie's beliebt. Ich glaube an den Judengott so wenig, wie an den der Christen. Für mich existiert kein Gott. Ich bedarf keines. Ich habe längst ohne Gängelband zu gehen gelernt. Das ist für Kinder und die ewig Kinder bleiben. Wie Sie, mein Herr Graf! wie Sie!«

»Genug!«

Diesmal war es in einem hellen, schmetternden Ton gerufen, daß die venetianischen Gläser erklirrten, die dichtgereiht auf einer Etagère in der Nähe standen; und Becky, zusammenzuckend, als hätte neben ihr ein Blitz eingeschlagen, verstummte. Dann, als ob er sich der zornigen Wallung schäme, kam in vornehm gehaltenem Ton:

»Sie haben mich heute zum letzten Mal gesehen. Ich werde morgen an Ihren Herrn Vater schreiben, wie dies so gekommen ist. Er wird mich verstehen. Und daß ich nicht anders handeln konnte, wollte ich mir selbst nicht verächtlich erscheinen.«

Das Wort machte sie rasend. Ein Schrei, der nichts Menschliches mehr hatte, brach aus ihrer Kehle. Dann, mit einer ungeheuren Anstrengung, fand sie doch die Sprache wieder. Aber sie wußte nicht mehr, was sie sagte; einzig brennend wünschend, jedes Wort möchte ein Donnerkeil sein, der ihn zerschmetterte.

»Verächtlich! Sieh' doch! Wie das prahlt! Darf denn ein Ding, aus dem man macht, was man will, von Achtung reden? auf Achtung Anspruch machen? Ein ballon captiv? Verstehen Sie: captiv! captiv! captiv! Der steigt, wann man will! Der fällt, wann man will! Ich habe Sie steigen lassen – da waren Sie etwas. Da wollte sogar ein Herzog Sie zum Gedienten haben. Jetzt lasse ich Sie fallen. Jetzt sind Sie wieder, was Sie vorher waren! nichts! nichts! nichts!«

Sie schnippte verächtlich mit den Fingern. An seiner Stirn war plötzlich eine dicke blaue Ader hervorgetreten. Er war einen halben Schritt zurückgewichen, als wollte er zu einem Sprung ansetzen, zu einem Schlage ausholen. Dann war er an ihr vorüber. Die Thür hatte sich hinter ihm geschlossen.

* * *


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