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Am nächsten Vormittag war der Geheimrat in dem Landauer nach Greifswald zu dem Mittagsschnellzuge gefahren. Ännchen hatte seitdem durchaus' das Gefühl, es sei die Welt dunkler geworden. Frau Krafft meinte: »Sehr merkwürdig, wenn man bedenkt, daß es seit zwei Tagen ›Hunn' und Katten‹ regnet.« Das that es freilich, und das Barometer wollte durchaus nicht steigen, trotzdem Ännchen es alle halbe Stunden befragte. Aber das schlechte Wetter war es nicht. Es machte freilich die Promenaden zu Fuß und zu Wagen unmöglich, das Rudern auf dem Teich, des Boccia- und Croquetspiel auf dem großen Rasenplatz, Lawn-Tennis, in dessen Geheimnisse Ännchen erst hier eingeweiht worden, und das ihr riesigen Spaß gemacht hatte. So konnte man doch in den schönen, von Kaminfeuern freundlich durchwärmten Zimmern lesen, musizieren, Handarbeiten fertigen und ein ganz vergnügliches Dasein führen, wäre nur Beckys Laune besser gewesen. Die war allerdings miserabel. Von einem Lächeln, einem Scherz keine Rede. Ihre Fragen, ihre Antworten kurz, als zählte sie die Worte; und ein freundliches war nicht darunter. Stundenlang hielt sie sich in ihrem Arbeitszimmer, wo sie Ännchen, die sie einmal dort aufzusuchen gewagt, vor dem mächtigen »Ministertisch«, den Kopf in die Hand gestützt, sitzen gefunden hatte, so in sich versunken, daß die bereits im Zimmer Stehende vorzog, leise wieder hinauszuschleichen. Kam sie in den Salon, rührte sie kein Buch, keine Taste an, sondern ging, die Arme auf dem Rücken, hin und her; stellte sich an eines der Fenster, blickte schweigend in den verregneten Hof und verschwand wieder. Bei Tisch führte sie kurze Wirtschaftsgespräche mit den beiden Inspektoren und Frau Krafft; Herrn von Plats Beredsamkeit hatte sie ein paarmal so scharf durchkreuzt, daß der junge Mann vorzog, wenn er nicht gerade die Augen auf dem Teller haben mußte, die Zimmerdecke nachdenklich zu betrachten. Fragte Ännchen schüchtern: »Fehlt dir etwas, Becky?« bekam sie zur Erwiderung: »Mir? Wie kommst du darauf?«

*

»Was wollen Sie mir geben, wenn ich Ihnen sage, was ihr fehlt?« fragte Frau Krafft, als sie am Abend des dritten Regentages Ännchen auf ihrem Zimmer besuchte.

»Einen Kuß.«

»Zwei.«

»Von Herzen gern. Da! Nun aber!«

»Also! Sie ist außer sich, daß der Graf sie nicht mehr in der Kapelle malen lassen will.«

»Ach! Davon hat sie mir kein Wort gesagt.«

»Sie wird sich hüten.«

»Ich dachte, es wäre nur des schlechten Wetters wegen; und habe deshalb gar nicht gefragt. Warum will denn der Graf das nicht?«

»Der Herr Graf wünschen es nicht. Ist das nicht genug?«

»Woher wissen Sie es?«

»Ich habe Jochen Riek, der mit den Sachen angetrabt kam, sie selber abgenommen. Sogar ein Taschentuch von ihr war dabei.«

»Das finde ich aber grenzenlos ungezogen von dem Herrn Grafen.«

»Ich finde es auch nicht artig. Nun braucht er bloß den Besuch, den ihm unser alter Herr gemacht hat, hier nicht zu erwidern – und das wird er wohl bleiben lassen.«

»Aber Becky schien doch neulich abends, als zum erstenmal bei Tisch von ihm gesprochen wurde – Sie erinnern sich – ganz bestimmt auf seinen Besuch zu rechnen.«

»Liebes Kind, es sind nun über drei Jahre, daß sie hier wohnt, und noch soll der erste von den Adligen aus der Nachbarschaft seine Visite machen, womit sie doch wohl, wenn sie einen Verkehr wollten, den Anfang machen müßten, da sie, als Dame, es nicht kann. Ich bin überzeugt, der liebe alte Herr ist bloß drüben gewesen, weil Fräulein Becky ihn darum gebeten hatte – er thut ja alles, was sie will – aber ich möchte drauf schwören: er kommt nicht. Je ärmer die Sorte, desto stolzer ist sie.«

»Der Graf ist sehr arm?«

»Na, mehr als Sie und ich zusammen wird er wohl noch haben; aber für so einen vornehmen Herrn kann das noch immer weniger als wenig sein. Der Vater hat ja alles durchgebracht bis auf Selchow, das der junge Herr mit seiner Schwester hat teilen müssen. Scheint eine niedliche Dame zu sein. Sie ist an einen Grafen Szapkowski in Schlesien verheiratet, der sehr reich ist, so daß sie ihren Anteil ruhig auf Selchow hätte stehen lassen und ihr Bruder es übernehmen können. Aber sie und er sind ja wohl wie Hund und Katze miteinander, und das Gut mußte partout verkauft werden. Dabei soll der Graf das Schloß und den Park noch für einen unsinnig hohen Preis angenommen haben. Ich habe das alles von Herrn Schmidt, der schon viele Jahre unter dem alten Herrn Verwalter war und den der Geheimrat in seiner Stelle gelassen hat. Der weiß Ihnen Geschichten zu erzählen von dem alten Grafen! Jeden Groschen, den er aus dem Gute herauswirtschaftete, mußte er dem sauberen Herren abgeben; und weg waren sie. Für Schloß und Park war nie ein Pfennig da. Seit zwanzig Jahren hat kein Mensch da gewohnt. Den Park haben Sie ja gesehen. Es ist eine Schande, nicht wahr? Aber das soll noch nichts sein gegen das Schloß. ›Die nackten Wände, als ob die Türken da gehaust hätten,‹ sagt Maurer Lüders, der mal drin gewesen ist, weil es durch alle Decken regnete. So was sei ihm noch nicht vorgekommen, sagt er. Glaube ich, wenn so ein altes Haus so lange leer steht und Regen und Wind damit machen können, was sie wollen. Ein bißchen besser mag es ja geworden sein, seit der junge Graf der Besitzer ist und die beiden Peters –«

»Eine sehr grobe Frau,« sagte Ännchen.

»Was er, Peters, ist, der soll auch nicht feiner sein. Aber ordentliche, ehrliche Leute, muß man wohl annehmen; sonst hätte sie der Graf nicht da hingesetzt. Er wird schon wissen, was dazu ist. Lange genug kennen sie sich. Als der Graf noch ein ganz junger Lieutenant war, erzählt Peters, ist er schon sein Bursche gewesen; dann Unteroffizier in seinem Regiment. Frau Peters hat eine Kantine gehabt – so eine Wirtschaft für die Soldaten. Na, jetzt hat sie es bis zur gräflichen Köchin gebracht.«

»Du lieber Gott!« sagte Ännchen.

»Es mag wohl manchmal danach sein. Und wenn Schmalhans noch dazu Küchenmeister ist –«

»Ich denke es mir gräßlich,« sagte Ännchen. »Ich meine nicht das Essen. Aber so mutterseelenallein in dem großen, öden Hause! Gar zur Nacht, wenn es so stürmt und regnet! Du grundgütiger Himmel!«

Ännchen schüttelte mitleidsvoll den Kopf und blickte dann still vor sich hin. Plötzlich fuhr sie ordentlich in die Höhe und rief, das ganze Gesichtchen von einem freudigen Rot übergossen: »Ich hab's!«

»Was?« fragte Frau Krafft, über die Aufregung der Kleinen verwundert.

»Becky und der Graf – die müssen sich heiraten.«

Frau Krafft starrte sie aus den großen blauen Augen an und brach dann in ein lustiges Lachen aus, das nicht enden wollte.

»Hab ich denn so was Dummes gesagt?« fragte Ännchen, halb verlegen, halb beleidigt.

»Was Dummes?« rief Frau Krafft, sich die Thränen abwischend, die ihr über die Backen liefen; »was Dummes?«

Sie war aufgestanden und hatte beide Hände auf Ännchens Schultern gelegt: »Kinding! Kinding! Sie können das Gras wachsen hören!«

Sie drückte einen Kuß auf Ännchens Mund, der in diesem Moment nichts weniger als eine ungewöhnliche Klugheit verriet, und war zum Zimmer hinaus.

»Wenn ich weiß, was das heißen soll!« murmelte Ännchen.

*

In der Relation seines Besuches bei dem Grafen hatte der Geheimrat gegenüber der Tochter sich der größten Vorsicht befleißigt. Das bis zur Beleidigung schroffe Benehmen des vornehmen Herrn hatte er mit keiner Andeutung gestreift; sich vielmehr begnügt, in seiner knappen, logischen Weise das negative Resultat der Unterredung zu konstatieren: aus praktischen Gründen, die nicht unberechtigt seien, glaube der Graf, Selchow nicht zurücknehmen zu können; aus Pietätsrücksichten, die man anerkennen müsse, dürfe er Schloß und Park nicht in andere Hände kommen lassen. Die Konsequenzen zu ziehen, welche sich daraus für ihre individuellen Pläne und Wünsche ergaben, mochte nun Beckys Sache sein.

Becky hatte die Konsequenzen gezogen. Sie war empört; verglich sich mit einer Semiramis, die auszieht, ein großes Nachbarreich zu erobern, und deren Heer an der Grenze in die schimpflichste Flucht geschlagen wird. Es war noch viel schlimmer. Sie hatte sich einem Manne angeboten, und der Mann hatte sie verschmäht. Vergebens, daß ihr der Verstand sagte: dies sei ja purer Unsinn. Von dem, was sie wünschte und wollte, hatte der Graf ja keine Ahnung, konnte sie nicht haben. So hielt sie sich, um sich persönlich beleidigt fühlen zu dürfen, an seine Weigerung, ihr das Kopieren des Bildes in der Kapelle zu gestatten. Hätte er ein höfliches Billet geschrieben, einen Grund angegeben, irgend einen! Nein! er hatte die Sachen herübergeschickt durch einen gemeinen Knecht! Und der Mensch die Bestellung in der Küche ausgerichtet vor einem halben Dutzend ihrer Leute, in Gegenwart von Frau Krafft, die zufällig da gewesen war! Wenn sie sich die Scene ausmalte: den Kerl, wie er zur Thür hereinkam, die Staffelei auf der Schulter, den Malkasten, das angefangene Bild unter dem Arm, eines nach, dem anderen ablud; die Mädchen sich herzudrängten; das Bild begafften; grinsend ihre Bemerkungen machten – sie hätte schreien mögen wie ein verwundetes Tier!

Der einzige Trost, daß der Vater, dem das Kopieren des Bildes ein Geheimnis bleiben sollte, auch davon nichts erfahren hatte.

Ein jämmerlicher Trost.

Ihr Fiasko in der großen Sache war ihm kein Geheimnis: das war für ihn so offenbar, wie für sie selbst.

Sollte sie nun nicht auch noch das Siegel daraufdrücken und ihm schreiben: sie willige jetzt in die Heirat mit Emil Rehfeld?

In einer Stunde der Verzweiflung hatte sie alles Ernstes daran gedacht und dann die Feder, die sie schon in der Hand hielt, zersplittert.

Sich so vor ihm demütigen, der sie niemals verstanden hatte? niemals verstehen würde? Sie jetzt womöglich für mannstoll hielt? Der Graf! Was war ihr denn der? Ein stepping-stone! Ein zweiter zu dem ersten der breiten Gutsherrlichkeit. Die sollte ihr den Grafen schaffen, irgend einen Grandseigneur! Der Grandseigneur wieder die Welt der upper tenthousand. Deren funkelnder Stern sie dann sein würde. Alle die kleineren Lichter überstrahlend. – Kennen gnädiges Fräulein die Gräfin Grieben nicht? – Das war die Baronin Plüggentin! sagten die Verkäuferinnen in Greifswald, wenn eine der genannten Damen an ihr vorüber, als wäre sie Luft, aus dem Laden raschelte. Wohl! Auf den Hof von Polchow zu dem einfachen Fräulein Lombard kamen sie nicht. In das Hotel der Fürstin Durchlaucht so und so unter den Linden oder in der Wilhelmstraße in Berlin würden sie schon kommen. Und sie wollte sie antichambrieren lassen!

Ja, eine Fürstin mußte es sein – jetzt! Das war sie sich schuldig!

Als sie das bei sich festgestellt hatte, atmete sie auf, wie ein nervöser Mensch, wenn die elektrische Spannung der Atmosphäre sich in einem heftigen Ungewitter endlich entladen hat. Die souveräne Gelassenheit, mit der sie sonst die Begegnisse des Tages an sich vorübergehen ließ; die kühle Ironie, mit der sie ihr nicht Genehmes abzufertigen pflegte; das herablassende Lächeln, mit dem sie eine ihr wohlgefällige Leistung belohnte – es war mit einemmal alles wieder da. Gegen Ännchen und Frau Krafft äußerte sie gelegentlich, sie sei die Tage hindurch von einem argen Kopfschmerz geplagt worden. Das fiel von der Wahrheit nicht weit ab. Schon wiederholt hatte sie in Tagen und Stunden hochgradiger seelischer Erregung einen eigentümlichen Zustand beobachtet, der zweifellos vom Gehirn ausging, das förmlich gegen seine Wandungen mehr oder weniger gewaltsam zu drücken schien; ihr jede freie Gedankenthätigkeit unmöglich machte; sie vielmehr zwang, ihre Gedanken unweigerlich in dieselbe, manchmal ihr sehr peinliche, ja qualvolle Richtung zu lenken; sogar die Sehnerven affizierte, daß sie den Blick von einem, ihr übrigens völlig gleichgültigen Gegenstand nicht abwenden konnte. Es war das auch jetzt der Fall gewesen und stärker als je zuvor.

Mit dem Stande des Barometers hatte das nichts zu thun, obgleich dessen plötzliches schnelles Steigen mit dem Umschlag ihrer Stimmung zusammenfiel. Geister, wie der ihre, waren nicht vom Wetter abhängig. Sie hatten ihre Sonnen- und Schattentage für sich. Jetzt schien ihre Sonne wieder. Sie war wieder sie selbst, die Achseln zuckend über die Becky von gestern, die sich die Gemahlin eines Grafen Bassedow geträumt hatte, den die Becky von heute, und kröche er auf den Knien zu ihr heran, verächtlich mit der Fußspitze von sich stoßen würde.

Und verächtlich lächelte sie, als Herr Pasedag eines Abends bei Tisch in seiner eintönigen Weise berichtete, der Herr Graf habe den Jochen Snut, den sein Kollege Schmidt in Selchow wegen Widersetzlichkeit entlassen, sofort in seine Dienste genommen; und an einem anderen: der Herr Graf habe befohlen, das Wasser nicht mehr aus dem notorisch guten Brunnen des großen Gutshofes zu nehmen, sondern aus dem ebenso notorisch schlechten des kleinen Schloßhofes.

» l'imbécile!« sagte sie mit einem höhnischen Zucken der Oberlippe halblaut zu Ännchen.

* * *


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