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6

Auf Polchow war heute abend ein seltsames Treiben. In dem Herrenhause waren ungewöhnlich viele Fenster erleuchtet; über den dunklen Hof schwankten Laternen von und nach den Pferdeställen und Remisen. Der geschlossene Wagen, der den Hausarzt Doktor Wachsmut und die Pflegerin aus Greifswald gebracht, hielt noch vor dem Hause, als bereits wieder ein reitender Bote in die Stadt mußte; diesmal zur Apotheke.

Der junge Arzt und die Pflegerin, die sich als Schwester Betty vorstellte, fanden alles, was vor der Hand hatte geschehen können, in musterhafter Verfassung. Der Patient lag in einem luftigen, großen Zimmer zu ebener Erde, das Becky für den Vater hatte herrichten lassen, ihm das Treppensteigen zu ersparen. Das Bett, wie wünschenswert, geräumig; die vom Regen durchtränkte Wäsche längst gewechselt; die Eisblase auf dem Kopf war eine gute Idee gewesen. Das Resultat der eingehenden Untersuchung, die der Doktor unter Assistenz der Schwester und Frau Krafft nun sofort vornahm, lautete freilich sehr bedenklich: ein Gehirnfieber von ungewöhnlicher Heftigkeit, starker Ansatz zur Entzündung der linken Lunge. Temperatur vierzig und drei Striche, Puls hundertundzwei in der Minute. Eine bestimmte Prognose mehr als gewagt: es könne sich möglicherweise zum Guten wenden; aber auch auf einen Gehirnschlag, der vielleicht sogleich letal, müsse man sich gefaßt halten. Erlebte Patient den Morgen, würde er vorschlagen, in aller Frühe Professor Guttmann holen zu lassen. Für den Augenblick könne wirklich nichts weiter geschehen; übrigens werde er die Nacht bleiben.

Doktor Wachsmut erstattete Becky diesen Bericht im Salon, nachdem Ännchen hinaus und auf ihr Zimmer geschickt war, unter dem Vorwand, daß sie zu angegriffen sei und durchaus der Ruhe bedürfe.

»Und auch Ihnen, gnädiges Fräulein,« sagte der Arzt, als er mit seinem Bericht zu Ende, »möchte ich dringend raten, sich jetzt niederzulegen. Sie sind freilich eine Natur von ganz anderer Kraft als die zarte kleine Dame; aber Sie haben heute abend ein bißchen sehr viel durchgemacht, und man kann nicht wissen, was die Nacht uns noch bringt. Hat der Graf Verwandte, die man benachrichtigen könnte?«

»Ich weiß nur von einer Schwester in Schlesien,« erwiderte Becky. »Eine Gräfin Szwykowski. Er soll mit ihr sehr schlecht stehen.«

»Dann lassen wir sie in Gottes Namen, wo sie ist! Ich muß wieder zu unserm Patienten. Herr Pasedag hat sich erboten, die Nacht aufzubleiben – braver Mensch! Mir ist Frau Krafft aber doch lieber.«

»Im Notfalle bin doch auch ich noch da.«

»Sie gehen jetzt zu Bett.«

»Ich würde nicht schlafen können.«

»Immerhin ruhen.«

»Nicht einmal das.«

»Wie Sie wollen, Gnädigste. Über Sie habe ich keine Autorität. Das weiß ich nicht erst seit heute.«

*

»Dacht ich's doch!« sagte Frau Krafft, den Kopf durch die leise geöffnete Thür steckend, um dann vollends hereinzukommen.

»Gott sei Dank!« rief Ännchen, sich im Bette aufrichtend und der Eingetretenen ihre beiden Arme im weißen Nachtjäckchen entgegenstreckend.

»Ruhig! ruhig, Kinding!«

Sie hatte ihre liebe Kleine sanft auf das Kopfkissen zurückgelegt und sich zu ihr auf den Rand des Bettes gesetzt.

»Ich kann ein Viertelstündchen bei Ihnen bleiben, wenn Sie mir versprechen, hernach schlafen zu wollen.«

»Ganz gewiß!« versicherte Ännchen. »Wie steht es?«

Frau Krafft zuckte die Achseln.

»Es ist zu schrecklich!« wimmerte Ännchen.

»Ja, Kinding. Ein sogenannter Spaß ist das Leben überhaupt nicht. Das sollten Sie doch von Ihrem Vater wissen, der übrigens morgen früh geholt werden soll.«

»Dann geht es gewiß mit ihm zu Ende!«

Frau Krafft mußte lächeln: »Weil Ihr Vater kommt? Ei, Ei! Sie pietätloses Ding! Nun seien Sie mal hübsch verständig und erzählen Sie mir, wie Sie ihn eigentlich gefunden haben. Ich bin daraus noch immer nicht recht klug geworden. Wer hat ihn denn zuerst gesehen?«

»Becky,« sagte Ännchen. »Sie saß an der Seite nach ihm hin; ich hatte mich ganz in die andere Ecke gedrückt; ich dachte jeden Augenblick: jetzt schlägt der Wagen um – so wackelte er hin und her. Karl auf dem Bock hatte sich den Mantelkragen über das Gesicht geschlagen. Da konnte er freilich nichts sehen. Friedrich hatte genug mit den Pferden zu thun. Die wollten einmal nicht von der Stelle und dann wieder durchgehen. Es war gräßlich.«

»Glaube ich, Kinding.«

»Becky hatte schon drei- oder viermal das Zeichen zum Halten gegeben. Sie konnten es wohl vor dem Sturm nicht hören. Dann riß sie das Fenster auf – wir wurden gleich quitschnaß – und rief. Da hielt der Wagen. Karl war vom Bock gesprungen. Um Himmels willen, Becky, sage ich, was giebt's denn nur? Ich verstand nicht, was sie antwortete. Sie war aus dem Wagen heraus und sprach mit Friedrich. Dann war sie wieder an der Thür. Du wirst wohl auch heraus müssen, sagte sie; wir haben sonst nicht Platz genug. Ach, liebe Frau Krafft! ich kann das nicht so ordentlich erzählen; ich war so fürchterlich erschrocken. Ich sah ja jetzt erst, wie Karl und Friedrich ihn herantrugen, während Becky die Pferde vorn in den Zügeln hielt, die immerfort sich bäumten und ganz toll anstellten. Wie sie sie hat halten können, ist mir unbegreiflich. Sie muß Kräfte haben wie ein Mann.«

»Hat sie auch. Weiter!«

»Ich stand nun auch auf der Landstraße, das heißt: eigentlich im Wasser; es lief mir über die Stiefel – ein richtiger See. Und der Regen schlug mir ins Gesicht, und – und – der Anblick, wie sie nun mit dem toten Menschen – ich dachte ja, er war tot – ich konnte nicht hinsehen. Dann hatten sie ihn im Wagen; Karl mußte sich zu ihm setzen; Friedrich war wieder auf dem Bock. Fort war der Wagen. Wir auf der Straße im Wasser. Glücklicherweise war es nicht weit bis zum Hof. Ich wär doch kaum hingekommen, hätte mich nicht Becky unter den Arm genommen und mir Mut zugesprochen. Da erfuhr ich auch erst, daß es der Graf sei.«

»Ja, Kinding, das ist merkwürdig genug. Kannte ihn doch keiner. Freilich, wer sollte es sonst sein!«

»Das sagte Becky auch. Sie war ihrer Sache ganz sicher.«

»Sieht ihr gleich. Und hat darauf hin ihre Befehle gegeben wegen des Zimmers, und daß wir es nach Selchow hinüber sagen lassen sollten und alles andere. Na, Kinding, wir waren auch nicht schlecht erschrocken, als der Wagen vorfuhr. Glücklicherweise war Pasedag da. Er half ihn uns aus dem Wagen. Dann ließ ich ihn von seiner Wäsche holen. Na, Kinding, ich bin lange genug verheiratet gewesen und habe erwachsene Kinder. Da hab ich mich denn nicht lang besonnen. Pasedag half ja auch und machte seine Sache ganz gut. Unser Windhund von Junker wollte sich natürlich auch wichtig machen; ich habe ihn sehr deutlich hinauskomplimentiert – ich mochte ihn nicht dabei haben, den häßlichen Menschen. Aber jetzt muß ich fort. Übrigens Schwester Betty – die mag ich wohl leiden. An der haben wir eine gute Acquisition gemacht. So! nun wird geschlafen! Verstanden? Gute Nacht, Kinding!«

»Gute Nacht! Was ich noch fragen wollte – geht sie auch zu ihm ins Zimmer?«

»Wer? Fräulein Becky?

Ännchen nickte. Frau Krafft besann sich einen Augenblick, bevor sie, bereits den Thürgriff in der Hand, antwortete: »Kinding, was Fräulein Becky thut oder nicht thut, da darf bekanntlich kein Mensch – na, gute Nacht, Kinding!«

*

Mitternacht war längst vorüber; Doktor Wachsmut, der noch einmal bei Becky im Salon gewesen, hatte sie eben verlassen. Das Fieber war auf zweiundvierzig weniger einen Strich gestiegen; der Kranke lag völlig apathisch. Ätherinjektionen in heroischen Dosen. Noch sei nicht alle Hoffnung aufzugeben; freilich stehe jetzt stärker als zwei Stunden vorher ein letaler Ausgang zu befürchten.

Becky ging, die Hände auf dem Rücken, in dem hell erleuchteten Gemache ruhelos hin und her.

Zu befürchten! Für wen? Für den Arzt? Was war es ihm, ob der Mann starb oder am Leben blieb? Einer von den Vielen, die ihm durch die Hände gingen! Für sie? Sie hatte ihn gehaßt, grimmig gehaßt. Als sie ihn da an der Weide liegen sah und bei dem ersten Blick wußte, daß er es war, den keiner von den anderen gesehen hatte, und den man nur in dem Unwetter so liegen zu lassen brauchte, und, war er nicht bereits tot, morgen war er es sicher – warum hatte sie gethan, was sie gethan, und nicht das Gegenteil? Mitleid? Sie hatte keins verspürt. Aber mit dem Blitze, der in dem Moment so grell aufflammte, hatte es sie durchzuckt: ist er's, und er muß es sein, so hast du ihn in der Gewalt, abhängig von dir, an dich gefesselt mit einer Kette, die erst Dankbarkeit heißt, und dann –

Das wird sich finden. Man wird sehen, was man dann thut. Jawohl, mein lieber Graf: wir werden sehen –

Und darum dürfen Sie nicht sterben! Das wäre eine neue Schändlichkeit von Ihnen! Und ich will es nicht! Ich verbiete es!

Sie stampfte mit dem Fuße, und die ruhelose Wanderung begann von neuem.

Man kann von einem Menschen in seinem Zustande nicht verlangen, daß er gut aussieht. – Ich habe ihn mir häßlicher gedacht. – Wie er da im Bett lag: wachsbleich, mit den geschlossenen Augen, doch ein vornehmes Gesicht. – Und die Hände merkwürdig zierlich für einen Mann. – Von der Größe! Er muß fast einen Kopf größer sein als ich –

»Und ich will nicht, daß er stirbt!« rief sie so laut, daß sie sich erschrocken umsah, ob es einer gehört haben könne.

Sie war an eines der Fenster getreten und starrte in die Nacht hinein. Es war sehr finster, trotzdem hier und da ein Stern durch die schwarze Wolkendecke schimmerte. Der Regen hatte schon seit Stunden aufgehört; jetzt auch der Wind. Es war ganz still. Aus dem Fenster über der Pferdestallthür zur Rechten kam ein schwacher Lichtschein. Sie hatte befohlen, daß einer von den Leuten aufblieb, im Falle doch noch einmal in die Stadt geschickt werden mußte.

Zweiundvierzig Grad! Und Wachsmut hatte ein so bedenkliches Gesicht gemacht! Wenn sie Professor Guttmann noch gleich jetzt holen ließ? Es sah wie ein Mißtrauensvotum gegen den anderen aus. Was lag daran? Und warum gerade Guttmann, den sie als Arzt noch gar nicht kannte? Warum nicht –

Daß sie daran nicht gedacht hatte!

Sie schritt eilig nach der Thür und drückte ein paarmal heftig auf den Knopf für das Dienerzimmer. Es währte für ihre Ungeduld eine Ewigkeit, bis jemand kam: Philipp, der zweite Diener. Ob das gnädige Fräulein geschellt habe?

»Ja. Gehen Sie nach dem Inspektorhaus! Wecken Sie Herrn von Plat! Ich lasse ihn bitten, sofort zu mir zu kommen! Sofort!«

Der Mann war eiligst aus der Thür. Das »Sofort« der Gnädigen hatte so scharf geklungen. Becky trat an den Tisch mit der Schreibmappe für ihre kleine Korrespondenz, die sie vom Salon aus zu erledigen pflegte, nahm ein Blatt und schrieb: »Geheimrat Lombard. Bonn. Graf lebensgefährlich krank in meinem Hause. Bitte inständigst umgehend zu kommen. Becky.«

Als sie das Telegramm noch einmal überflog, stockte sie bei dem Worte »inständigst«. Plat würde es natürlich lesen. Es mußte ganz geschäftsmäßig sein, ohne eine Spur besonderer Anteilnahme. Der Vater würde ihren Wunsch auch so erfüllen – diesmal, wie allemal.

Sie zerriß das Blatt in kleine Stücke und schrieb ein neues Telegramm, in welchem »inständigst« fehlte.

Rasche Schritte kamen den Korridor herauf; ein leises Klopfen an der Thür; Plat trat herein, in seinem gewöhnlichen Anzug; er mußte noch aufgewesen sein.

Der junge Mann bestätigte das. Herr Arndt sei erst vor einer Stunde nach Haus gekommen; sie hätten noch zusammen gesessen und des Ereignis des Tages durchsprochen. Was das gnädige Fräulein zu befehlen habe?

Becky hatte einen Augenblick gestutzt. Der zweite Inspektor war mit einer Kommission in Stralsund gewesen und nicht vor morgen früh zurückerwartet. Sie hätte ihm den Vorzug gegeben; für ihn war der nächtliche Ritt einfach eine dienstliche Angelegenheit; bei Plat bekam die Sache den Anstrich einer persönlichen Gefälligkeit. Das hätte sie gerade in diesem Falle gern vermieden. Aber es war nun zu spät; sie konnte Plat nicht so wieder wegschicken.

Sie sagte mit gut gespielter Ruhe: »Es thut mir leid, Herr von Plat, daß ich Sie derangiere. Ich möchte sofort eine Depesche nach Greifswald haben. Der Krankheitsfall des Grafen, sagt mir Doktor Wachsmut, ist ein höchst eigentümlicher, der sehr selten vorkommt. Für meinen Vater sind gerade solche Fälle vom größten Interesse. Er wird es mir danken, wenn ich ihn veranlasse, herzukommen. Die Nacht ist sehr dunkel. Ich weiß, das macht Ihnen nichts. Sie sind von Ihrer Heimat her an nächtliche Ritte gewöhnt. Lassen Sie sich Mustapha satteln! Er geht sehr sicher und ist dabei ein schnelles Pferd! Hier ist die Depesche.«

Plat nahm das Blatt mit einer Verbeugung entgegen, höflich-respektvoll, innerlich empört. Dieser lächerliche Sums um den verdammten Grafen! Interessanter Fall! Firlefanz! Dahinter steckte was anderes. Und ihn damit belästigen! Sollte er Rache nehmen auf der Stelle? Thun, was er schon hundertmal gewollt: sie in seine Arme reißen, sie abküssen über das ganze himmlische Gesicht? Vor einem Zeugen brauchte er sich in dieser Stunde nicht zu fürchten.

»Warum sehen Sie mich so sonderbar an?« fragte Becky, als er, anstatt nun zu gehen, sie schweigend anstarrte.

»Ich finde Sie heute schöner als je,« murmelte er, während ihm das Herz bis in die Kehle schlug.

Es war das erste Mal, daß er auch nur annähernd so Kühnes wagte. Was würde die Wirkung sein?

»Merkwürdig genug,« erwiderte Becky, ohne daß Miene und Stimme auch nur die mindeste Erregung verrieten. »Ich habe heute einen schlimmen Tag gehabt. Das pflegt sonst nicht schöner zu machen. Was ich noch sagen wollte: mein Vater antwortet bei wichtigeren Sachen immer umgehend. Sie haben wohl die Güte, das Rücktelegramm abzuwarten. Es kann jetzt in der Nacht in einer Stunde da sein. Spätestens in zwei. Der Gasthof von Witte ist ja unmittelbar neben dem Telegraphenamt.«

»Die Wünsche der Gnädigen sind für mich Befehle,« erwiderte Plat. Er hatte gehofft, sie werde ihm wenigstens die Hand reichen. Es geschah nicht.

Sie nickte nur mit dem Kopfe und sagte mit empörender Gleichgültigkeit: »Ich danke Ihnen im voraus.«

»Daß dich der Satan hole!« knirschte er, während er den Korridor hinabschritt, durch die Zähne. »Dich und deinen Grafen!«

»Der Mensch wird frech!« murmelte Becky, mit einem finsteren Blick nach der Thür, durch die Plat gegangen war. »Ich habe ihn verzogen. Werde mich in Zukunft vor ihm in acht nehmen müssen.«

Sie stand wieder an dem kleinen Schreibtisch, auf dem die Fetzen des zerrissenen Telegramms lagen.

»Vor dem Vater brauche ich das nicht. Er weiß, was ich will. Was ich will? Daß er nicht stirbt. Das will ich. Daran hängt jetzt alles. Später werde ich wissen, was ich weiter will. Ich habe es noch immer im rechten Augenblicke gewußt.«

Das Licht auf dem Schreibtisch löschte sie aus; die Lampen ließ sie brennen. Man würde im Laufe der Nacht vielleicht noch einmal im Salon zu erscheinen haben.

*

Die Nacht verlief, ohne im Zustand des Kranken eine wesentliche Veränderung hervorzubringen. Ebenso der folgende Tag. Die Temperatur schwankte zwischen zweiundvierzig und dreiundvierzig; der Puls zwischen hundertfünf und -zehn. Am Morgen war Professor Guttmann gekommen und hatte den jüngeren Kollegen, der durchaus in die Stadt zurückmußte, abgelöst. Die Herren schienen über die Natur der Krankheit und deren Behandlung einverstanden. Doch fand Professor Guttmann, es sei ein vortrefflicher Gedanke von Becky gewesen, den Vater herbeizurufen. Er wollte bis zur Ankunft des Geheimrats, die Abends gegen neun zu erwarten stand, bleiben.

Der Geheimrat, den der Wagen von Greifswald abgeholt hatte, kam zur festgesetzten Stunde. Eine neue gemeinschaftliche eingehendste Untersuchung, der eine lange Konsultation der beiden Gelehrten in Beckys Arbeitszimmer folgte. Der Geheimrat hatte in der Methode der Behandlung einige nicht unwesentliche Veränderungen vorgeschlagen, denen der Professor gern zustimmte.

»Und könnte ich es nicht,« sagte er, im Begriff aufzubrechen; »dem großen Meister gegenüber dürfte ich nicht einmal eine eigene Meinung haben.«

»Sie sind zu bescheiden, lieber Freund,« erwiderte der Geheimrat, der sich nun ebenfalls erhoben hatte; »sind es immer gewesen.«

Der Professor stand nachdenklich. »Wollen Sie mir noch eine Frage verstatten,« sagte er plötzlich. »Sie betrifft nicht unseren Patienten.«

»Bitte!«

»Hat Ihr Fräulein Tochter irgend einen Grund, an dem Verlauf und eventuellen Ausgang der Krankheit einen leidenschaftlichen Anteil zu nehmen?«

»Ich wüßte keinen,« erwiderte der Geheimrat, über die unerwartete Frage innerlich sehr betroffen. »Sie hat den Grafen gestern zum erstenmal gesehen. Woraus schließen Sie auf einen leidenschaftlichen Anteil?«

»Es fiel mir gleich heute morgen auf,« sagte der Professor. »Bei unserer ersten kurzen Unterredung über den Fall. Ihr Blick – Sie wissen, welche wichtige, oft entscheidende Rolle für uns Psychiater der Blick spielt – hatte einen auffallend gespannten, bohrenden Ausdruck. Denselben, den ich noch wiederholt im Laufe des Tages beobachtete, besonders, als sie gelegentlich: ›Er darf nicht sterben‹ in einer Erregung sagte, die mir über den Grad gewöhnlichen menschlichen Interesses weit hinauszugehen schien.«

»Ich zweifle nicht an der Richtigkeit Ihrer Beobachtung,« entgegnete der Geheimrat. »Aber sollten die Seltsamkeit des Falles, die schlaflose Nacht, das Bewußtsein der großen Verantwortung, die sie auf sich genommen hat, nicht eine noch größere Erregtheit, als welche Sie bei meiner Tochter konstatieren, zureichend erklären? Nehmen Sie dazu die konstitutionelle Leidenschaftlichkeit ihres Temperaments. So war sie schon als Kind. Handelte es sich um was immer – wollte sie es einmal, konnte sie nichts auf der Welt davon abbringen.«

»Das ist die Signatur der großen Charaktere,« sagte der Professor. »In der stählernen Kraft ihres Willens besitzen sie das Geheimnis ihrer Erfolge. Nur daß dabei leider die Gefahr der Überspannung dieser Kraft so nahe liegt. Aber es wird höchste Zeit für mich, aufzubrechen. Besonders, da meine Kleine mich begleiten soll.«

Es war der Wunsch des Professors gewesen, daß Ännchen heute abend mit ihm nach Hause fuhr. Fräulein Lombard habe gerade Unruhe genug um sich herum. Ännchen wäre gern geblieben; aber da Becky dem Vater offenbar nur aus Höflichkeit widersprach und selbst Frau Krafft meinte, sie sei jetzt wirklich hier nicht an der rechten Stelle, fügte sie sich mit ein paar heimlich geweinten Thränen in das Unvermeidliche und beruhigte sich vollends, als Becky ihr beim Abschied einen Kuß gab und sagte: »Auf Wiedersehen, darling, wenn hier alles wieder in Ordnung ist!«

*

Den Geheimrat hatten die Bemerkungen des jüngeren Freundes tief getroffen, und die Bedeutung seines Wortes von der Gefahr, mit welcher die Überspannung der Willenskraft drohe, war ihm gewiß nicht entgangen. Auf der langen Fahrt hierher die halbe Nacht und den ganzen Tag hindurch hatte er hundertmal geseufzt: was will das werden? Und in der Stille der Ecke des Coupé fromm zu dem Gott seiner Väter gebetet: er möge das Unheil, das seinem Hause drohe, gnädig abwenden. Aber nie vergessen, hinzuzufügen: daß er sich fern von der Sünde wisse, den Tod des Grafen zu wünschen; vielmehr bereit und entschlossen sei, seine ärztliche Pflicht zu thun und all seine Kunst aufzubieten, ihn am Leben zu erhalten. Dann hatte sein Gebet eine andere, bestimmtere Wendung genommen: es möge Gott gefallen, das Herz der Tochter zum Rechten zu lenken, da er, der Vater, nur zu deutlich fühle, daß er nichts über sie vermöge.

Nun mußte zum Überfluß Guttmann ihn an seine Ohnmacht erinnern und an die Stärke von Rebekkas Willenskraft, die so leicht zum Verderben ausschlagen könne!

In so schwere Gedanken verloren, begab er sich, nachdem er noch einen kurzen Besuch im Krankenzimmer gemacht und Schwester Betty einige neue Instruktionen gegeben, in den Salon, wo er sich von Becky erwartet wußte.

Sie saß an dem Theetisch; er nahm schweigend in ihrer Nähe Platz.

»Du nimmst eine Tasse?«

»Ich bitte darum.«

»Wir sind jetzt unter uns, Vater. Wirst du ihn durchbringen?«

»Ich hatte nur eben erst in meiner Klinik einen völlig analogen Fall, der glücklich verlaufen ist.«

»Du willst mir ausweichen. Ja oder Nein? Du weißt es.«

»Ich weiß es nicht, mein Kind. Wir stehen alle in Gottes Hand.«

»Deren Werkzeuge ihr Ärzte seid.«

»Gewiß: nicht mehr. Und wenn mir gelingt, was ich als Arzt hoffe, als Mensch wünsche, was gedenkst du zu thun?«

»Ich sagte es dir schon neulich abend: ich werde ihn heiraten.«

»Du verzeihst mir die triviale Bemerkung: zum Heiraten gehören zwei.«

»Gewiß: er und ich.«

»Und wenn seine Absichten nicht mit den deinigen zusammenfallen?«

»Sei unbesorgt: er wird thun, was ich will.«

»Welche Bürgschaft hast du dafür?«

»Eben meinen Willen.«

»Der Wille ist ein stählerner Bogen. Aber auch der stärkste Bogen bricht, wenn er überspannt wird.«

»Sollte da nicht Professor Guttmann aus dir sprechen?«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil ich die Blicke bemerkt habe, mit denen er mich heute ein paarmal angesehen hat. Er ahnt, was in mir vorgeht. Es ist sein Metier. Übrigens ist es mir jetzt sehr gleichgültig, ob er oder ein anderer es ahnt. Mein Entschluß steht fest.«

»Und was erhoffst du für dich, wenn du ihn nun wirklich ausführst?«

»Eine Zukunft nach meinem Sinn. Wir werden den Sommer, falls wir nicht reisen, auf dem Lande verleben: hier oder in Selchow, wo Schloß und Park selbstverständlich in dem alten Glanze wiederherzustellen sind. Den Winter in Berlin oder Paris. Für die vornehmen Elemente unserer Gesellschaft wird der Graf sorgen; für die künstlerischen und wissenschaftlichen ich. Du wirst deine Freude daran haben.«

»Wenn ich es erlebe!«

»Das wirst du sicher. Du gehörst durchaus zu meinem Programm. Ich will nicht nur sagen dürfen, ich habe einen berühmten Vater gehabt.«

»Kind! Kind! das – alles, was du da sagst: es heißt Gott versuchen.«

»Wenn es einen giebt – ich meine einen in deinem Sinne: einen persönlichen Gott – so liebt er sicher die Menschen, die nach dem Maß ihrer Kraft stark sind, wie er nach dem Maß der seinen.«

»Und doch könnte gerade von ihm, diesem persönlichen Gott, dir ein Hindernis kommen.«

»Wie meinst du das?«

»Nehmen wir an, was wenigstens nicht unwahrscheinlich ist – die Tradition in diesen vornehmen Familien geht in dieser Richtung – der Graf ist ein gläubiger Christ. Wird er nicht wünschen, daß du zu seiner Religion übertrittst?«

»So bleibt es eben ein unerfüllbarer Wunsch.«

»Und wenn er es verlangt?«

»Werde ich ihm begreiflich machen, daß es Unsinn ist, etwas Unmögliches zu verlangen. Wer an keinen persönlichen Gott glaubt, kann sich zu keiner geoffenbarten Religion bekennen. Das ist doch einfache Logik.«

»Für die nicht alle Männer empfänglich sind; in Glaubenssachen am wenigsten.«

»Mag sein.«

»Denke an des alten Horaz Wort: respice finem

»Ich vermute, es ist für Dichter eine gute Regel; im handelnden Leben würde man nicht weit damit kommen. Übrigens scheint mir dies eine cura posterior. Wenn der Fall eintreten sollte, werde ich wissen, was ich zu thun habe. Soviel sehe ich schon jetzt: es wird wesentlich davon abhängen, welches Motiv ihn treibt: Überzeugung oder Caprice.«

»Das dürfte in der Sache selbst nichts ändern.«

»Ich meine doch: dem artigen Kinde gewährt man vielleicht gegen seine Überzeugung eine Bitte, die man dem eigensinnigen entschieden verweigert.«

Hier kam Frau Krafft in den Salon, eilig: der Kranke habe plötzlich zu delirieren angefangen; Schwester Betty lasse fragen, was sie thun solle?

»Ich habe es vorausgesehen,« sagte der Geheimrat ruhig. »Wir werden eine böse Nacht haben. Sehr wahrscheinlich auch eine männliche Hilfe brauchen. Diese Delirien nehmen nicht selten einen tobsüchtigen Charakter an. Wie wär's mit Herrn von Plat?«

»Arndt scheint mir geeigneter,« sagte Becky. »Er hat sich schon wiederholt angeboten. Wollen Sie so freundlich sein, Frau Direktor, ihn zu avertieren?«

Frau Krafft hatte das Gemach verlassen; Becky ergriff ihren Vater bei der Hand: »Wenn – du weißt, was ich meine. Ich bitte, ich beschwöre dich: laß mich rufen! Ich habe die feste Überzeugung: er stirbt nicht, wenn ich zugegen bin. Versprich es mir!«

Der Geheimrat sah zu ihr auf. Da war der Blick, den Guttmann vorhin geschildert hatte. »Ich verspreche es,« sagte er tonlos.

*

Der Geheimrat war nicht mehr so eng an die Universität gebunden. Für das Sommersemester hatte er keine Vorlesungen angesagt; seine Thätigkeit an der Klinik stark eingeschränkt. So drängte ihn nichts zur Abreise. Auch interessierte ihn in der That – abgesehen von so vielen gewichtigen Nebenrücksichten – die Krankheit, welche einen eigentümlichen Verlauf nahm, auf das lebhafteste. Würde die Krisis, die er erwartete, an dem von ihm prognostizierten Tage eintreten? Und wohin würde die Wage neigen? Sie hatte schon ein paarmal unheimlich tief gestanden, so tief, daß der Geheimrat, seinem Versprechen getreu, die Tochter an das Krankenbett hatte rufen lassen müssen. Es war ja selbstverständlich der Lauf der Natur und Gottes Wille gewesen, daß der Tod den Fuß, den er bereits auf die Schwelle gesetzt hatte, wieder zurücknahm, und nicht die Wirkung jenes starren Blicks, den sie auf den Kranken gerichtet hielt, bis die Gefahr langsam, wie grollendes Gewitter, sich wieder verzog. Den frommen Mann hatte es doch seltsam berührt. Er war mit seinem Wissen zu Ende. Ja, was da vor seinen Augen geschah, ging gegen die Wissenschaft. Hier schien es, als ob die Einwirkung von Mächten ins Spiel kam, deren Existenz für seinen verstorbenen Freund Zöllner in Leipzig ein Dogma gewesen war, das mit wissenschaftlichen Gründen zu bekämpfen er sich eigentlich immer geschämt hatte. Gab es doch eine vierte Dimension? Einen Bereich, in welchem Dämonen ihr Wesen trieben? Dann, da ohne Gott nichts sein kann, also auch dieser Bereich Gottes sein mußte, wie standen seine Bewohner zu ihm? Vermutlich, wie die Menschen, nur in höherem Grade: gläubig und als Diener? oder ungläubig und als Widersacher? Und wie verhielt es sich mit Rebekka? Nicht gut. Zweifellos nicht gut. Aber Gottes Wege sind unerforschlich. Wenn er diesen Weg, der scheinbar noch weiter von ihm wegführte – die trotzige, unnatürliche Leidenschaft, die sich ihrer bemächtigt – doch gewählt hatte, sie zu seiner Dienerin zu machen? Er, der Arzt, diesmal noch in höherem Sinne Werkzeug in der Hand Gottes war, der den Kranken durch ihn retten wollte? Und wieder durch den Genesenen sie, die in der Liebe zu ihm, den sie hatte retten helfen, endlich doch die Liebe Gottes fand?

So war es nicht das Triumphgefühl des siegreichen Arztes, sondern die Dankbarkeit des Gläubigen, der sein Gebet erfüllt sieht, was die Seele des alten Mannes tief bewegte, als der kritische Tag nach seiner Berechnung eintrat und einen entschiedenen Umschwung zum Besseren brachte. Von Stund an sank das Fieber von der fürchterlichen Höhe, auf der es sich so lange gehalten, tiefer sogar, als wünschenswert. Doch das brachte keine neue Gefahr, und der Geheimrat durfte aufatmend sagen: er ist gerettet. Er hätte jetzt abreisen können, und zögerte von einem Tag zum anderen. Es habe ihn diese Campagne ungewöhnlich stark angegriffen. Er fange jetzt doch an, die Last seiner siebzig Jahre zu empfinden. Er müsse sich durchaus erst ein wenig erholen, bevor er in Bonn wieder an die Arbeit gehe.

Der eigentliche Grund war: das seltsame Begebnis, dessen erste Stadien er miterlebt hatte, fesselte ihn zu sehr; er wollte den Fortgang, wenn auch nur für kurze Zeit, weiter beobachten. Der Patient erwachte, sehr allmählich freilich, zum Bewußtsein. Wie weit, ließ sich nicht wohl entscheiden, da der Grad der Teilnahme, die er seiner Umgebung zuzuwenden begann, nur aus der mehr oder weniger großen Klarheit seines Blickes zu ermessen war; er bisher auch nicht einmal einen Versuch zum Sprechen gemacht und der Geheimrat streng verboten hatte, ihn durch vorzeitige Fragen aufzuregen. Blieb es doch zweifelhaft, ob er selbst nur seinen getreuen Peters erkannte, wenn der, wie er es jeden Tag pünktlich that, von Selchow herüberkam, sich nach dem Befinden des Herrn Grafen zu erkundigen, und ihm dann wohl auf ein paar Minuten der Zutritt an des Bett des Rekonvalescenten gestattet wurde. Gestern hatte er allerdings, nachdem er das braune, schnauzbärtige Gesicht längere Zeit angestarrt, zuletzt, wie in Verwunderung, leise den Kopf geschüttelt. Aber dadurch gerade wurde bewiesen, daß ihm das Verständnis für die Situation, in der er sich befand, noch keineswegs aufgegangen war.

Alles das entging dem Auge des Geheimrats nicht. Wie es aber, was ihn zumeist zu wissen verlangte, um die Tochter stand, darüber blieb er im Dunklen. Die gehobene Stimmung, in der sie augenscheinlich lebte, konnte die jetzt in sicherer Aussicht stehende Genesung des Grafen zur alleinigen Quelle haben. Es konnten da aber auch andere Motive im Spiel sein, die, waren sie auch untergeordneter Natur, immerhin mitzählten.

Hatte doch der brennende Wunsch dieser letzten drei Jahre sich ihr endlich erfüllt: die Scheidewand, welche zwischen Polchow und den benachbarten Edelsitzen für immer aufgerichtet schien, war gefallen!

* * *


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