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10

Ein glorreicher Frühsommermorgen war angebrochen. Er konnte die düstere Stimmung nicht verscheuchen, mit welcher der Graf aus einem unruhigen Schlaf erwacht war. Die Durchsicht der Rechnungen, an die er sich alsbald begab, vermochte es erst recht nicht. Bereits während des Reisejahres hatte er sein kleines Kapital beträchtlich angreifen müssen; hier gingen wieder Tausende weg. Noch ein paar solcher Aderlässe, und die Zinsen reichten selbst für diesen erbärmlichen Haushalt nicht mehr. Er konnte hingehen und Stallmeister in einer Reitschule werden; oder Versicherungsagent und sich aus jeder Thür hinauswerfen lassen. Da war es doch ganz gleichgültig, ob der alte Kasten ein paar Jahr früher oder später zusammenbrach. Hier war seines Bleibens so wie so nicht mehr. Vorher! Vielleicht. Aber jetzt? In ihrer Nähe, die doch hunderttausend Meilen von ihm getrennt war; ewig getrennt sein würde! Unmöglich. Verrückt wollte er doch auch nicht werden. Oder war er es schon gewesen, als er die Zweimalhunderttausend, die ihm der alte Herr für Schloß und Park geboten, nicht auf der Stelle nahm? Damals hätte er es noch gedurft: er war den Leuten nichts schuldig; er kannte sie nicht. Wollten sie einen so unsinnigen Preis zahlen – es war ihre Sache. Jetzt kannte er sie; war in ihrer Schuld abgrundtief. Jetzt konnte er nur sagen: wollt ihr den Bettel hier als Abschlagszahlung meiner Schuld von mir annehmen, er steht zu eurer Verfügung!

Und das wollte er ihr sagen, wenn sie kam.

Aber sie würde nicht kommen. Heute nicht und morgen nicht. Sie fürchtete natürlich, ihn in Verlegenheit zu setzen, wenn er sagen mußte: Sehen Sie, meine Gnädigste, hier haust der, den Sie in Ihrem pompösen Heim so königlich bewirtet haben!

Peters klopfte.

»Ein Brief, Herr Graf, aus Polchow vom gnädigen Fräulein. Der Bote wartet auf Antwort.«

»Geben Sie!«

Der Graf mußte seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um vor Peters scharfen grauen Augen eine ruhige Miene zu bewahren und das Zittern seiner Hände zu verbergen, während er das zierliche Billet erbrach und las:

 

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»Mein verehrter, lieber Freund!

Ihr Gehorsam, wie sehr Sie sich nach Männerweise damit brüsten, ist mir nicht über jeden Zweifel erhaben. Jedenfalls möchte ich Ihre Tugend auf keine zu harte Probe stellen und ziehe deshalb vor, das Präveniere zu spielen und heute nachmittag den Schloßherrn von Selchow aufzusuchen. Leider erst um fünf Uhr, da sich der Herr Landrat auf drei angemeldet hat, und ich nicht weiß, wie schnell ich den Edlen los werde. Ich komme allein; einmal, weil ich mir als spätes Mädchen das füglich leisten darf; zweitens, weil ich keine Duenna zur Disposition habe, da Frau Direktor Krafft in Greifswald ihrem Sohn, der sein Staatsexamen glänzend bestanden, gratulieren muß. Antwort, ob Sie mich empfangen können und wollen, bitte durch meinen Boten mündlich. Sie haben mir gestern einen so reizenden Brief geschrieben, daß Sie sich heute vergeblich bemühen würden, ein Pendant dazu zu liefern.

Ihre – da Sie auf diesen Titel einiges Gewicht zu legen scheinen – Freundin (ganz ergebenste selbstverständlich)

Becky Lombard.«

 

»Ich will den Boten selber sprechen,« sagte der Graf, das Billet zusammenfaltend und, wie aus Zerstreuung, in die Brusttasche steckend; »wo ist er?«

»Hält vor dem Schlosse, Herr Graf.« Er ging hinab, gefolgt von Peters, der unter leisem Kopfschütteln, die Augen wiederholt zur Decke des Treppenhauses aufhebend, sich selbst die Versicherung gab, daß er an der Geschichte keinen Anteil, am wenigsten eine Schuld habe. Unten am Fuß der Rampe stand Ernst, der zweite Reitknecht, neben seinem Pferde, die Kappe herunterreißend, sobald er des Grafen ansichtig wurde. Der Graf ließ sich dem Fräulein empfehlen und daß sie jederzeit willkommen sei. Er besah sich sehr eingehend den braunen Wallach; taxierte sein Alter auf fünf Jahre; erklärte ihn für ein kapitales Jagdpferd; fragte, ob das gnädige Fräulein ihn auch gelegentlich reite? und entließ den Mann mit der Weisung, das Tier bei der Hitze nicht abzujagen.

Dann ging er, anstatt wieder zur Bibliothek hinauf, durch den großen unteren Flur und eine Hinterthür in den Park.

Da schritt er gerade vor sich hin, bis er in den Haselnußgang gelangte, wo er sich vor jedem Späherauge gesichert wußte; nahm das Billet ans der Brusttasche, küßte es leidenschaftlich, um es, nachdem er es erst noch einmal, wie vorhin, mit den Blicken nur so überflogen, dann bedächtig gelesen, Silbe für Silbe, abermals zu küssen und wieder zu küssen, in immer sich steigernder Leidenschaft.

*

Es war fünf Minuten vor fünf, als der Graf, der, die Uhr in der Hand, an dem Fenster eines der Vorderzimmer stand, ihre Rappen in dem großen Hofthore rechts auftauchen sah. Eilig lief er die Treppe hinab und kam noch gerade zur Zeit, um sie, als der Kutscher die Pferde oben auf der Rampe vor dem Portal parierte, begrüßen zu können. Leicht sich auf seine dargebotene Hand stützend, schwang sie sich aus dem offenen Wagen. Sie war ganz in Weiß: ein Kleid aus weichem Wollstoff, das, eng anliegend, die wundervollen Formen des schlanken, elastischen Leibes nachzeichnen zu wollen schien. Unter dem breiten, reich garnierten Strohhut quoll das blauschwarze Haar in starken sich kräuselnden Wellen; ein lebhafteres Rot als sonst färbte die Wangen; aus dem lächelnden Gesicht strahlten die großen dunklen Augen. Der Graf war so berauscht von ihrer Schönheit, daß er nur verwirrte Worte stammeln konnte, während er sie über den unteren Flur die Treppe hinaufführte.

»Ich habe nur diesen einen bewohnbaren Raum,« sagte er, als ihnen Peters die Thür zur Bibliothek öffnete.

»Und mancher gäbe viel darum, wenn er einen solchen Raum hätte,« erwiderte Becky, sich in dem hohen, weiten Gemache umblickend.

Sie trat sogleich an eines der Fenster. Vor ihr lag der Park im milden Licht des Spätnachmittages; etwas nach links in schicklicher Entfernung hob sich die Kapelle aus dem Grün der ihre grauen Mauern umwuchernden Sträucher.

»Mein Gott! wie schön das ist!« sagte sie. »Wie furchtbar plebejisch kommt einem da seine banale Umgebung zu Hause vor!«

»Schelten Sie mir nicht auf Ihr Haus und seine Umgebung!« sagte der Graf. »Ich habe da so glückliche, schöne Stunden verlebt.«

»Wirklich?« sagte Becky, sich vom Fenster zu ihm wendend. »Denken Sie gern an Polchow zurück?«

»Mein Gott! ich zehre ja nur von der Erinnerung!«

»Aber das Zehren bekommt Ihnen vortrefflich.«

Sie musterte ihn lächelnd von Kopf zu Fuß. Zum erstenmale fand sie an seiner Erscheinung wirkliches Wohlgefallen. Ein gelegentliches Wort ihres Vaters aus den ersten Krankheitstagen kam ihr in den Sinn: das ist ein Mensch, wie von Stahl: ganz Muskel und Sehne. Während der Krankheit hatte er den Bart wachsen lassen müssen, dessen stachliche Sprossen ihm schlecht genug gestanden. Wie er jetzt, bis auf den langen, nach den Seiten weit abstehenden Schnurrbart, rasiert war, sah sie erst, wie fein die Züge trotz ihrer vielleicht zu großen Schärfe. Ein adliges Gesicht, sagte sie bei sich. Der richtige Aristokrat.

Sie wies auf den großen Tisch mit dem Lutherstuhl davor. »Und da arbeiten Sie?«

»Wenn man es arbeiten nennen kann! Ich habe es in der Jugend nicht gelernt; und in meinen Jahren –«

»Dreiunddreißig! Das imponiert mir mit meinen sechsundzwanzig doch nicht. Und Sie haben noch keine grauen Haare, wie ich. Ja, ja! sehen Sie!«

Sie hatte den großen Hut abgenommen und hielt ihm ihren Kopf hin, so, daß das volle Licht durch die Fenster darauffiel. Er brauchte nicht hinzusehen: schon früher hatte er ein paar Fäden bemerkt, die sich lichter durch das tiefe Schwarze zogen. Dafür hätte er so gern den schönen Kopf in beide Hände genommen; das mit schalkischem Lächeln zu ihm aufschauende Gesicht mit Küssen bedeckt.

»Eisgrau!« murmelte er.

»Also renommieren Sie nicht wieder mit Ihrem Alter! Und das sind Ihre Lieblingsbücher? Darf man sie sehen?«

»Sie würden lachen: ein paar Bände Memoiren und Walter Scott.«

»O! Walter Scott! Seine Männer sind oft gut. Aber seine Frauen ohne Ausnahme insipid and lackadaisical

»Sie wissen, ich verstehe kein Englisch.«

»Dafür sprechen Sie ein vorzügliches Französisch. Wo haben Sie das nur gelernt?«

»Ich war ein Jahr in Paris bei unserer Botschaft.«

»Und das erfahre ich jetzt erst? Aus Ihnen wird man doch nie klug werden. Welchen Gesprächsstoff hätte das für uns gegeben! Sie wissen: ich war zwei Jahre dort – eine Studentin.«

»Ja, wie kamen Sie nur darauf?«

»Wunderliche Frage! Wie kamen Sie dazu, Offizier zu werden?«

»Weil man mich mit zehn Jahren in die Kadettenanstalt gesteckt hat. Und auch wohl, weil meine Vorfahren sämtlich Soldaten gewesen sind.«

»Wie meine Gelehrte. Es liegt eben im Blut. Aber wir plaudern uns hier fest; und haben noch ein so großes Programm zu absolvieren! Erst das Schloß, wenn es Ihnen recht ist!«

»Lauter kahle Wände, gnädiges Fräulein!«

»Gerade die will ich sehen. Tapeziererarbeit habe ich zu Hause genug. Wollen Sie?«

Der Graf verbeugte sich schweigend und rief Peters, der auf dem Vorsaal Wache gestanden und nun vor ihnen herging, die Thüren zu öffnen. Dem Grafen war übel zu Mut. Er sagte sich, daß er lieber in eine Tod und Verderben speiende Batterie hineinreiten würde, als das schöne verwöhnte Mädchen durch die Armseligkeit der leeren großen Räume führen. Dennoch dankte er dem Himmel, der ihn davor bewahrt, ein paar davon mit Möbeln zu staffieren. Das wäre noch viel kläglicher gewesen.

Sie fand die weiten Säle und saalartigen Zimmer nicht kläglich. Wenn sie sie sich vorstellte, ausgestattet mit all der Pracht, die da hineingehörte, im funkelnden Glanz der vergoldeten Thüren, Supraporten, Wände und Plafonds; im Strahlenlicht von Hunderten und Hunderten von Kerzen auf den Kronleuchtern und Kandelabern; durchwogt von einer geschmückten, vornehmen Gesellschaft, deren Königin sie war – ihr schöner Busen hob sich ungestüm; ihre dunklen Augen blitzten; sie wußte ihrer Bewunderung eines so groß gedachten, wahrhaft feudalen Baues so beredten, so schmeichelhaften Ausdruck zu geben – dem Grafen wurde immer leichter ums Herz. In ihre Phantasien einer möglichen Ausstattung flocht er Reminiscenzen an die, welche er selbst noch mit seinen Kinderaugen gesehen. Sie fand da einige wundervolle Motive, auf die sie von selbst nicht gekommen wäre; anderes erklärte sie für unbrauchbar, veraltet. Zuletzt gerieten sie, zu des schweigend, in respektvoller Entfernung zuhörenden Peters größter Verwunderung in einen förmlichen Streit, bis sie beide lachen mußten, und das Fräulein erklärte: sie wären richtige Kinder. Was Peters mit einem heimlichen grimmigen Lächeln bestätigte.

Die Wanderung durch die vielen Räume hatte unter diesen Umständen lange gedauert. Als sie die Treppe hinabstiegen, deren grandiose Verhältnisse und reich ornamentierte Wangen aus massivem Eichenholz Becky höchlichst pries, dämmerte es bereits stark in der hohen weiten Halle, wo auf den Fliesen die Schritte wie in einer Kirche schallten. Im Park wurde es wieder licht, wenn es auch abendliche Lichter waren, die durch die Kronen der alten Eichen fluteten.

»Sehen Sie, Graf,« sagte Becky, »das ist nun mein Ideal. Einer meiner Mädchenträume war: ich wollte mir, Gott weiß wie, einen wundervollen Park schaffen mit Fontänen in großen steinernen Becken und Marmorfiguren, Kiosken und alle dem; und eine hohe Mauer herumziehen; und das so stehen und liegen und verwildern und verwachsen lassen dreißig Jahre. Dann wollte ich kommen und in meinem Park spazieren gehen. Daß ich darüber zu Jahren gelangen würde, in denen mir die Sache vielleicht nicht mehr so lustig erscheinen möchte, bedachte ich nicht. Und, gestehe ich es nur: ein wenig melancholisch ist die Erfüllung meines Traumes. Aber daß ich ihn nun doch erfüllt sehen darf, dafür bin ich dankbar. Ihnen, der Sie ihn mir erfüllt haben.«

Sie hatte, während sie so sprach, seinen Arm genommen; er blickte auf die wundervolle weiße Hand, von der sie den Handschuh abgezogen; von Zeit zu Zeit fühlte er ihre weiche Schulter die seine flüchtig berühren; ihr in das Gesicht zu sehen, wagte er nicht. Er wußte, daß er sie dann sofort an seine Brust reißen müsse. Und sie war gekommen im Vertrauen auf seine Ritterlichkeit, schutzlos! Sie mußte ihm heilig sein.

Ein Hase sprang dicht vor ihren Füßen über den Weg. Becky lachte, daß es in diesem Revier sogar Wild gab. Der Graf hatte den Eindringling seit dem Frühjahr nicht wieder gesehen. Es erschreckte ihn fast, ihm gerade jetzt nochmals so unverhofft begegnen zu müssen. Ein böses Omen, wenn einem ein Hase über den Weg läuft. Noch dazu, wie dieser, von links. Dann erreicht man das nicht, wozu man ausgezogen ist. Aber was wollte er denn erreichen? Ihre süße Nähe. Die hatte er. Ein Mehr gab es nicht. Für ihn nicht.

»Es ermüdet Sie,« sagte Becky. »Sollen wir umkehren?«

»O, nein! o, nein!« bat er. »Verzeihen Sie meine Schweigsamkeit! Ich höre Sie so gern sprechen. Ich möchte nur immer zuhören.«

Das ist sehr bequem, dachte Becky. Amüsant ist es gerade nicht.

»Und ich freue mich wieder, wenn Sie sprechen,« sagte sie. »Der Sprechende muß immer, er mag wollen oder nicht, ein Stück von seinem Inneren geben. Und das Ihre ist mir noch bis zur Stunde ein Buch mit sieben Siegeln.«

»O, mein Gott! mein Gott!« betete still der Graf.

Sie waren bis zu dem Gitterthor hinten im Park gelangt. Der Graf mußte der Stunde denken, als es klirrend hinter ihm zuschlug; und er, dem Gewitter entgegen, seinen Weg in die Felder begann – der Weg, der dann für ihn unter der Weide am Rain sein Ende nahm. Der Weide, unter der sie ihn fand. Und ihn rettete. Zu einem Leben, das ohne sie ihm bitterer war als der Tod, den er damals mit eilenden Schritten hatte kommen sehen.

Der Pavillon mit dem chinesischen Dach auf seinen vier gewundenen Eichensäulen machte Becky Spaß. Sie mußte durchaus hinauf, trotzdem sie der Graf vor der noch immer gefährlichen Treppe warnte. Oben in dem kleinen Raum mit seiner dumpfigen Luft lagen tote Fliegen auf den Fensterbrettern. Dem vermauserten Adler auf seiner Konsole hing der eine seiner ausgespannten Flügel nur noch an irgend einem Faden.

»Graf! Graf!« rief Becky lachend. »Nehmen Sie sich daran ein warnendes Beispiel! Wenn Sie mir auch so die Flügel hängen lassen, sind wir geschiedene Leute.«

»Scheiden werden wir doch einmal müssen,« sagte der Graf.

»Warum?« fragte Becky.

Der Graf antwortete nicht. Ihr »Warum« hatte so harmlos geklungen. Und ihm schlug das Herz bis in die Kehle!

Er ist positiv langweilig, dachte Becky.

Aber sie wollte, während sie durch den Park zurück nach der Kapelle gingen, das miserable Gefühl, von dem sie sich bedroht sah, nicht aufkommen lassen. Der Pistolenschießstand, an welchem sie vorüberkamen, bot ihr neuen Unterhaltungsstoff. Wie lange man brauche, um ein Aß aus der Karte schießen zu können, wenn man kein moderner Romanheld sei, der freilich mit der Kunst geboren werde? Ob der Graf ihr auf Polchow einen Schießstand einrichten wolle? Es sei da eine Lacüne in ihrer Bildung, die durchaus ausgefüllt werden müsse. Auch auf die Jagd würde sie schon gegangen sein; nur daß es ihr an einem Lehrmeister fehle. Herr von Plat habe sich schon wiederholt dazu erboten; aber das würde sich wohl nicht mit dem Respekt vertragen, der ihr als Gutsherrin zukomme. Was der Graf von Herrn von Plat halte?

»Ich kenne ihn zu wenig, um mir ein Urteil erlauben zu dürfen,« erwiderte der Graf ausweichend.

Sie waren zur Kapelle gelangt, an deren Thür Frau Peters stand und die Heranschreitenden mit tiefen Knixen empfing: in einem schwarzseidenen Kleide, das zwei Freiwillige aus Peters' Zuge ihr vor zehn Jahren geschenkt hatten, eine riesige rote Schleife, die der Graf scheußlich fand, an ihrem mehr als vollen Busen. Daß sie gekommen war, den Herrschaften die Kapelle aufzuschließen, konnte nur ein Vorwand sein: der Schlüssel stak stets im Schloß. In seiner weichen Stimmung wollte und konnte der Graf trotzdem die treue Seele nicht schelten; aber Becky war die Güte selbst. Sie freute sich die tapfere Hüterin des Schlosses wiederzusehen und schärfte ihr ein, für den Herrn Grafen vorläufig nur ganz leichte Sachen auf den Tisch zu bringen. Frau Peters versicherte dem gnädigen Fräulein unter immer tieferen Knixen, daß sie ihr Bestes thun wolle. Der Graf stand lächelnd dabei. Sie war so gut, wie schön. Und wie sie sich zu seinem Grundsatz bekannte: reserviert gegen Gleich- und Höherstehende; zuvorkommend gegen sie, die unter uns sind!

Frau Peters war entlassen; sie traten in die Kapelle. Durch eines der schmalen hohen Bogenfenster fiel ein Streifen rötlichen Abendlichtes über den Altar auf das Bild der Madonna, das sich nun aus dem Halbdunkel wie in seliger Verklärung abhob. Sie blickten längere Zeit schweigend hinauf. Dem Grafen in seiner Ergriffenheit erschien das ihm so vertraute Bild wie ein liebliches, segenspendendes Wunder; Becky fragte sich, ob jetzt feierliches Schweigen das Schicklichere sei oder ob sie etwas sagen müsse. Sie entschied sich für das letztere.

»Sie haben mir erlaubt, es zu kopieren,« begann sie leise; »und ich habe es versprochen. Bitte, geben Sie mir mein Versprechen zurück!«

»Aber warum das?« fragte der Graf, ganz erschrocken.

»Ich könnte sagen: ich finde, ich habe mir eine zu schwere Aufgabe gestellt. Das ist es nicht. Gerade die Schwere der Aufgabe würde mich reizen. Aber es soll Ihrer verstorbenen Mutter gleichen. Wäre das nicht, wäre es ein Bild, wie andere auch, und meine Arbeit mißlänge – was doch möglich ist – beleidigte ich schlimmsten Falles in Ihnen den Besitzer, der die verpfuschte Nachahmung eines ihm teuren Stückes in fremden Händen wissen soll. Wie es jetzt liegt, beleidigte ich den Sohn. Das möchte ich um alles nicht.«

»Ich gebe Ihnen Ihr Versprechen nicht zurück!« rief der Graf erregt. »Unter keiner Bedingung!«

»Wir wollen nicht miteinander rechten und streiten,« sagte Becky sanft; »die Heilige da möchte es nicht gern hören. Lassen Sie uns lieber noch schnell den Turm besteigen! Sie sagten vorhin, es sei der letzte Punkt Ihres Programms.«

»Bitte, folgen Sie mir!« sagte der Graf.

Sie stiegen die steinerne Wendeltreppe hinauf. Aber nicht die Steile der hier und da bröcklichen Stufen machte, daß dem Grafen das Herz schlug, als wollte es zerspringen. Er fühlte sich nur am Ende seiner moralischen Kraft. Und daß er, oben angelangt, vor ihr niederfallen und ihr seine Liebe bekennen müsse, auf die fürchterliche Gefahr hin, daß sie den Bettler von sich wies.

Nun waren sie oben, aus dem Dunkel der Treppe in dem Abendlicht, das durch die dünnen gotischen Pfeiler der Galerie von allen Seiten auf sie eindrang; wie ein rötlicher Zauberschleier auf den Massen der alten Parkbäume lag und die ehrwürdige Fassade des Schlosses streifte, daß es wie in bengalischem Schein stand, aus dem hier und dort ein Fenster in blendenden Strahlen funkelte. Zwischen Schloß und Park war der Blick frei, weit, weit über grüngoldige Wiesen und die helleren Kornbreiten in dem matten Gelb der Topasen. In den milden Lüften kein Hauch. Um die Galerie herum, durch die weiche Stille, schossen Schwalben, einzeln jetzt, jetzt in kleinen, pfeilschnellen, zirpenden Scharen.

Sie waren an die Brüstung herangetreten, nach der offenen Seite der Felder. Becky streifte den neben ihr Stehenden mit einem schnellen, spähenden Seitenblick. Er war tödlich blaß; sein Blick ganz starr; seine Lippen zuckten.

Wenn er jetzt nicht spricht, dachte Becky, ist der Tag verloren; ist alles verloren.

»Graf,« sagte sie, ohne ihre Stellung zu verändern, mit dumpfer Stimme. »Sie hassen mich; müssen mich hassen. Wie ich Sie hassen würde, wenn dies alles – all diese Herrlichkeit – meinen Vorfahren gehört hätte, jahrhundertelang; und gehörte nun Ihnen.«

Es kam nicht sogleich eine Antwort. Dann hörte sie eine gepreßte Stimme dicht an ihrem Ohr: »Und wenn ich nun zu Ihnen sagte: Nehmen Sie das Wenige, das noch mir gehört! Nehmen Sie es als einen Tribut, aus Gnade, von einem, der nur zu wohl weiß, daß der unermeßliche Dank, den er Ihnen schuldet, damit um nichts verringert wird!«

Sie wandte sich langsam und sah ihm voll in die Augen.

»Ja!« sagte sie. »Ich nehme es. Unter einer Bedingung: daß Sie zu der Gabe den Geber fügen.«

»Becky!«

Es klang wie der Jubelschrei eines Menschen, der sich aus der Gefahr des Todes plötzlich gerettet sieht, nachdem er schon die letzte Hoffnung hat schwinden sehen.

»Becky! geliebte Becky!«

Er hatte sie mit den Armen umschlungen: sie lag an seiner Brust. Er küßte die weichen Lippen wieder und wieder. Er glaubte, vor Wonne vergehen zu müssen.

* * *


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