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7

Wie streng auch die Zurückgezogenheit gewesen, in welcher der Graf auf seinem einsamen Schlosse gelebt, die Kunde von seiner Heimkehr war doch überall hin in die Nachbarschaft und nicht zuletzt auch auf die Höfe der Standesgenossen gedrungen. Man hatte mit Bestimmtheit darauf gerechnet, er werde demnächst seine Antrittsbesuche machen, und sich sehr verletzt gefühlt, als ein Tag nach dem anderen hinging, ohne daß es geschah. Allerdings war es ein eigentümlicher Zufall: wie lebhaft auch die Verbindung mit Berlin; wie oft man hinüberfuhr, die Ausstattung für eine Tochter zu besorgen, einen Hofhalt, eine Wagneroper mitzumachen, vielleicht nur einmal bei Hiller oder Dressel zu soupieren – niemand hatte Gelegenheit gehabt, den Grafen persönlich kennen zu lernen. Gerade gesucht hatte man diese Gelegenheit freilich nicht. Dazu lag keine Veranlassung vor, eingedenk des unreputierlichen Lebens, das der Graf Vater geführt und durch das er bei hoch und niedrig gerechten Anstoß erregt hatte. Sehr wahrscheinlich lastete die Erinnerung eines so anrüchigen Vaters auf dem Gemüt des Sohnes um so schwerer, als, wenn einer als abgehaust gelten konnte, er der Mann war. Immerhin, die Bassedows waren ohne Widerspruch die weitaus älteste Familie in der Landschaft. Man konnte einen Bassedow – noch dazu den Letzten seines Stammes – nicht übersehen. Die Empörung, daß er seine Standesgenossen in so brüsker Weise schnitt, war gerechtfertigt.

Nun wurde die Nachricht von den letzten, so höchst merkwürdigen Begebnissen überall bekannt, wenn auch in ihren Einzelheiten auf die verschiedenste Weise erzählt. Die einen wollten ihn vom Blitz erschlagen, die anderen bloß getroffen und der Hälfte seiner Kleidung beraubt wissen. Jene ließen ihn auf freiem Felde, diese an der Wegseite von dem Schäfer, andere von einem der Inspektoren, wieder andere von dem Fräulein selbst gefunden werden, als sie von Faschwitz, wohin sie in einer geschäftlichen Angelegenheit gefahren, nach Polchow zurückkehrte. Die letztere Version wurde durch so viele Details erhärtet, daß sie als die allein richtige galt. Nun lag der Graf in Selchow – krank, schwer krank, hoffnungslos, mit einem schwachen Schimmer von Hoffnung – unter der Obhut von Fräulein Lombard, die – darüber war nur eine Stimme – sich in der wunderbaren Affaire sehr gentil benahm; es ja aber auch freilich dazu hatte.

Damit war nun die Aufmerksamkeit auf Fräulein Lombard abgelenkt; vielmehr das Interesse, das sie von Anfang an erregt, aufs neue und lebhafter als je zuvor entfacht. Wieviel war nicht schon im Laufe dieser letzten drei Jahre über sie geredet worden: ihre auffallende Schönheit, ihren unermeßlichen Reichtum, ihre tolle Caprice, so große Güter allein bewirtschaften zu wollen! Man war ihr oft genug begegnet: die Damen bei ihren Ausfahrten über Land, auf den Straßen oder in den Läden von Greifswald; die Herren nicht selten zu Pferde, wenn sie in Begleitung eines ihrer Inspektoren oder nur eines Groom ihre Güter beritt. Dann hatte man – je nach seiner Gemütsart – die Eleganz der Wagen, die Kostbarkeit der Tiere bewundert oder sich darüber geärgert, wie so eine sich leisten durfte, wovon auch der Reichste von ihnen die Hände lassen mußte. Immer hatte sich »die Jüdin« als Gegenstand des Gespräches behauptet, und mehr als einmal hatte man aus Herren- und Damenmunde die Bemerkung hören können: schade doch, daß sich anständigerweise mit »der Person« nicht verkehren läßt.

Der Zufall wollte, daß eine Woche, nachdem das Unglück, das, den Grafen betroffen, bekannt geworden, so ziemlich der ganze Adel der Gegend auf einem Parteitage im Gasthaus von Witte in Greifswald sich zusammenfand. In einer späteren Abendstunde hatte sich ein intimerer Kreis näherer Nachbarn um den Grafen Grieben-Griebenow geschart, und das Gespräch, das sich nun freier erging, sich bald auf das große Ereignis des Tages konzentriert. Dabei stellte sich, zu heimlicher Verwunderung jedes einzelnen, betreffs des Falles eine seltene Einmütigkeit in den Ansichten der Gesamtheit heraus: es sei ebenso Standes-, wie christliche Pflicht, hier nicht, wie Vogel Strauß, den Kopf in den Sand zu stecken, sondern zu dokumentieren, daß, wie Graf Grieben, der im Herrenhause saß, sich ausdrückte: man das Herz auf dem rechten Fleck und Gefühl für den Stand habe, der der Rotüre ausgeliefert sei und vor die Hühner gehe, wenn eine Krähe der andern die Augen aushacke; oder – es weniger drastisch und parlamentarischer zu sagen – nicht zusammenhalte, wie Hand und Handschuh. Seinetwegen: Flintenkolben und Flintenlauf. Auf den Fall angewandt: man sei verpflichtet, dem Grafen Bassedow, da er denn schließlich doch noch lebe, seine Teilnahme in demonstrativer Weise kund zu thun. Freilich könne man sich nicht verhehlen, daß die Sache ihren starken Haken habe. Mit einer schriftlichen Anfrage nach seinem Befinden sei es offenbar nicht gethan; man müsse zweifellos persönlich vorgehen; wobei denn, wie die Dinge lägen, eine Berührung mit den jüdischen Leuten in Polchow kaum zu vermeiden sei. Hier meldete sich Herr von Bornfeld-Lassow: er wolle das Risiko auf sich nehmen. Man fand das sehr schneidig, aber nicht völlig zweckentsprechend. Herr von Bornfeld sei erst seit einem halben Jahr in dem Kreise angesessen und geborener Hinterpommer, während es sich doch hier um eine specifisch neuvorpommersche Angelegenheit handle. Herr von Bornfeld mußte das zugeben; übrigens habe er nichts weniger als die Absicht gehabt, sich vorzudrängen; höchstens die, seine Erfahrung zu bereichern, zu welcher der, sei es gesellschaftliche, sei es geschäftliche Verkehr mit Juden bisher nicht gehört habe.

Da sich mehrere der Anwesenden, besonders Baron Klebenow-Landelin, durch diese in etwas gereiztem Ton vorgebrachte Bemerkung verletzt zu fühlen schienen, drohte die Diskussion eine um so leidigere Wendung zu nehmen, als die Stunde inzwischen sehr vorgerückt war und die Reihe der geleerten Sektflaschen auf dem Nebentische eine namhafte Ziffer aufwies. Graf Grieben hielt es hier für seine Pflicht, sich ins Mittel zu legen. Man werde, hoffe er, einräumen, daß ihm alle die Eigenschaften beiwohnten, von denen vielleicht eine und die andere dem jüngeren Freunde fehlten, wie sehr man ihm auch für seine durchaus wohlgemeinte, man dürfe ohne Übertreibung sagen: hochherzige Offerte zu Dank verpflichtet sei. So erbiete er sich denn, an erster Stelle in Polchow persönlich nachzufragen. Es bleibe dann den anderen Herren überlassen, ob sie diesem Beispiele folgen wollten, oder der Meinung seien, es möge bei diesem repräsentativen Vorgehen ihres Seniors ein für allemal sein Bewenden haben.

Das Herrenhausmitglied feierte einen neuen Triumph seiner Beredsamkeit: sein Vorschlag wurde mit Einstimmigkeit zum Beschluß der Gesellschaft gemacht, die dann die schon lange harrenden Wagen bestieg und sich durch die warme Frühsommernacht zu ihren respektiven näher oder ferner gelegenen Landsitzen tragen ließ.

Graf Grieben aber, seinem Versprechen getreu, fuhr am folgenden Tage, der ein Sonntag war, um zwölf Uhr, der landesüblichen Visitenstunde, vor dem Herrenhause in Polchow vor und schickte seine Karte hinein. Der Diener kam in überraschend kurzer Zeit zurück: das gnädige Fräulein bedaure, den Herrn Grafen nicht empfangen zu können.

*

Die Nachricht von der Zurückweisung des Grafen Grieben wurde mit obligater Schnelligkeit in der Nachbarschaft herumgetragen.

»Geschieht dem alten Esel ganz recht,« sagte Karl von Bornfeld. »Wie wird sie ihn denn empfangen, wenn er ohne die Gräfin kommt! Ich habe es vorausgesehen; wollte mir aber nicht weiter den Mund verbrennen. Was meinst du, Lieschen? willst du mit?«

»Na, natürlich!« sagte Lieschen. »Ich verspreche mir riesigen Spaß davon.«

Herr von Bornfeld rief durch das offene Fenster dem Verwalter, der gerade über den Hof ging, zu: er solle sogleich die Halbchaise anspannen lassen.

*

Das junge Ehepaar wurde in Polchow sofort empfangen und konnte nicht genug rühmen, mit wie großer Liebenswürdigkeit. Fräulein Lombard sei eine Dame comme il faut, die sich auf jedem Hofball zeigen und Furore machen würde. Der Geheimrat, ihr Vater, quite the gentleman, vor dem man, trotzdem er nur ein kleiner Herr sei und ein bißchen lisple, riesigen Respekt haben müsse. Graf Bassedow befinde sich seit gestern außer Gefahr, was zweifellos auf Rechnung der kolossal sorgfältigen Behandlung komme. Mit der Rekonvalescenz werde es freilich nicht so schnell gehen und er so bald nicht von Polchow fortkönnen. Na, er befinde sich da in einer famosen Assiette, um die man ihn beinahe beneiden möchte!

Die kühnen Pioniere fanden ein Vergnügen darin, überall von ihrer Entdeckungsfahrt zu sprechen. Vermutlich trugen sie die Farben ein wenig stark auf; die Neugier wurde deshalb nicht weniger lebhaft entfacht. Und da das Eis nun einmal gebrochen war, vergab man sich am Ende nichts, wenn man dem Beispiele folgte. Je schneller man das that, desto besser; desto weniger gewann es den Anschein der Nachahmung; desto mehr sah es wie eine freie Entschließung aus.

So denn geschah es, daß bereits innerhalb der nächsten zwei Tage Baron Zarrentien-Züssow, Freiherr von Pfahlen-Wiepkenhagen, Baron Klebenow-Candelin, Herr von Ivenak-Ivenak in Polchow Besuch machten, sämtlich mit ihren Gemahlinnen, ausgenommen Herr von Pfahlen, der Junggesell war. Fräulein Lombard war jedesmal zum Empfange bereit gewesen; der Geheimrat, ihr Vater, hatte sich stets in ihrer Gesellschaft befunden. Man fand allerseits die von Herrn und Frau von Bornfeld zuerst kolportierten Nachrichten durchweg bestätigt, bis auf die Schilderung der Einrichtung, die doch luxuriöser sei, als man sie sich danach vorgestellt. Das sei aber wirklich das einzige, was auf Polchow nach Parvenütum schmecke. An dem Benehmen von Tochter und Vater fand man nichts auszusetzen. Es sei sogar merkwürdig, wie solche Leute zu diesem Aplomb kämen!

*

Die erwiesenen Höflichkeiten mußten selbstverständlich erwidert werden – eine weitere Last, die der Vater mit der Langmut auf sich nahm, welche Becky nicht anders an ihm kannte. Ihr war es augenscheinlich keine. Im Gegenteil. Mit offenbar stets neuem Vergnügen bestieg sie ein paar Tage hintereinander den offenen Landauer und ließ sich an des Vaters Seite durch die lachenden Felder auf nicht immer glatten Wegen über manchmal große Entfernungen von Besuch zu Besuch tragen. Plaudernd, scherzend, in der besten Laune. Die besonders glänzend war, wenn man einen Besuch hinter sich hatte und einem anderen entgegensah; oder nach Absolvierung des Pensums, sich auf der Rückfahrt befand. Welch sonderbare Leute waren das! Wie umwitterte sie alle ein Duft, als hätten sie jahrelang wohlverpackt in einer Kiste auf dem Boden gestanden! Ihre sämtlichen Ideen mußten erst einmal ausgeklopft werden! Wenn man diese konfusen Anschauungen von Welt und Menschen Ideen nennen wolle, was Plato sich jedenfalls höchlichst verbeten haben würde! Ob diese Leute wohl jemals ein Buch in die Hand nähmen! Und hätten sie doch wenigstens noch Geschmack! Aber diese Frisuren, diese Toiletten der Damen! Diese Zimmereinrichtungen, bei denen man nicht wisse, was grausamer sei: die fürchterlichen Möbel aus den zwanziger und dreißiger Jahren oder die krampfhaften Anstrengungen, durch einen ungeschickten Tapezierer die Sache »stilvoll« machen zu lassen! Dabei wunderten sich die Antediluvianer noch, wenn die Wogen der Neuzeit über ihren hohlen Köpfen zusammenschlügen! Es sei zum Erbarmen! Aber spaßhaft! ausnehmend spaßhaft!

Der Geheimrat konnte das gar nicht finden. Er hütete sich, es laut werden zu lassen. Noch vielmehr eine Frage, die ihm fortwährend auf den Lippen schwebte, an die Tochter zu thun: Und du kannst dich mit dem Gedanken tragen, einen Mann heiraten zu wollen, der aus diesen Kreisen hervorgegangen ist? beständig in ihnen gelebt hat? Zweifellos ihre Ansichten und Anschauungen teilt? Zweifellos für mich, der ich ihn doch kennen gelernt habe? Zweifellos für dich, sobald du ihn kennen gelernt haben wirst?

Oder trug sie sich mit diesem Gedanken nicht mehr? War es trotz alledem nur eine Blase gewesen, wie ihr geschäftiges Gehirn so viele trieb; und die nach kurzer Zeit zerplatzten, ohne eine Spur zu hinterlassen?

Es sprach so manches dafür. Das Widerspruchsvolle ihres Planes konnte einem so klaren Kopfe unmöglich entgehen. War es doch, als ob sie die Geißel der Satire über die Standesgenossen des Grafen nur so heftig schwang, um sich nebenbei selbst zu treffen und zur Vernunft zu bringen! Vor allem aber: wo war das leidenschaftliche Interesse geblieben, das sie in den ersten Tagen an dem Ergehen des Kranken nahm? Sie wußte: die Lebensgefahr war vorüber; die nächsten Tage würden ihm das volle Bewußtsein wiedergeben; eine Begegnung, die vielleicht schon die Entscheidung brachte, stand vor der Thür. Und keine Spur von Erregung! Es war unbegreiflich oder ließ sich nur durch die Annahme begreifen: sie hatte eingesehen, daß sie hart daran gewesen war, eine ungeheure Thorheit zu begehen, und nun einen entschiedenen Rückzug angetreten. Die Klugheit riet, ihr dabei jedes Hindernis aus dem Wege zu räumen. Sein längeres Bleiben hätte ein solches Hindernis werden können. Jedenfalls ersparte er ihr, wenn er ging, eine Beschämung, die ihrem stolzen Sinn fürchterlich sein mußte.

Er kündigte seine Abreise für den nächsten Tag an. Als Arzt habe er hier nichts mehr zu thun; die weitere Behandlung des Rekonvalescenten sei bei Doktor Wachsmut in vortrefflichen Händen; für einen bedenklichen Fall, der aber sicher nicht eintrete, sei Professor Guttmann stets zur Hand. Er selbst sehne sich nach seinem stillen Studierzimmer in Bonn mit dem Blick auf den geliebten Rhein. Sollte der Graf, was nicht unmöglich, nachträglich herausbringen, wer in letzter Zeit sein Arzt gewesen, bitte er, ihm einen freundlichen Gruß auszurichten. Ännchen komme sicher mit ihrem Vater in Greifswald auf den Bahnhof; so könne er da von ihnen sich verabschieden. Er hoffe, im Herbst das liebe, kleine Fräulein abermals als Gast auf Polchow vorzufinden.

Becky versprach es. Der alte Herr fuhr davon, vermißt von allen, außer von seiner Tochter, die durchaus das Feld völlig frei für sich haben mußte; und von Wladimir von Plat, der sich sehr viel lieber nicht in dem Bereich der durchdringenden schwarzen Augen sah.

*

In der Nacht nach der Abreise des Geheimrats hatte der Graf ganz besonders tief und ruhig geschlafen.

»Das bringt ihn um eine Woche weiter,« sagte Schwester Betty.

Erst gegen zehn Uhr erwachte er.

Er lag, ohne sich zu regen, mit weitgeöffneten starren Augen lange Zeit, ganz erfüllt von einem Gefühl seligen Behagens, von dem er meinte, die geringste Bewegung, die er mache, müsse es verscheuchen. Er vermochte auch sonst nichts zu denken, als sei er eben ins Leben getreten, ohne die mindeste Erinnerung einer Vergangenheit, ohne die Ahnung einer Zukunft.

Dann kam eine Veränderung in sein Empfinden zugleich mit einer vagen Vorstellung: als ob ihm das Licht der Sonne wieder scheine, nachdem er lange, sehr lange durch eine völlig finstere Höhle gewandert.

Nur daß hier und da in weiten Zwischenräumen ein matter Schein hereingefallen sei, der sofort wieder verschwand. Aber doch lange genug währte, um ihn eine und die andere Gestalt wie durch einen Flor oder Nebel erblicken zu lassen. Gestalten, von denen diese und jene sich öfter gezeigt haben mußten, und die wohl deshalb klarer als die anderen in seiner Erinnerung standen: ein nicht mehr ganz junges Mädchen, das ein graues Kleid, eine hohe weiße Schürze trug und glatt gescheiteltes braunes Haar hatte; eine große, schlanke, blonde, schon ältere Frau mit Augen von einem sehr intensiven Blau. Sodann ein paar Männer, von denen er einige entschieden vorher im Leben nicht gesehen hatte. Andere wieder hatte er gesehen: einen Mann, der einmal in seiner Schwadron gedient, erst als gemeiner, dann als Gefreiter. Hatte Arndt geheißen. Ein ordentlicher Mensch und guter Reiter mit seinen etwas krummen Beinen. Dann seinen Peters. Der hatte immer ein kurios trauriges Gesicht gemacht – ganz lächerlich traurig. Dann den Geheimrat Lombard. Das heißt: ihn hatte er eigentlich nicht gesehen, nur die schwarzen glänzenden Augen. Die aber desto deutlicher.

Traumbilder alle aus der weiten finsteren Höhle. Besonders ein Frauenbild, das ihn durch seine Schönheit erschreckt hatte. So etwas träumt man eben. Und nur in so weiten, finsteren Höhlen.

Ein Geräusch, wie von einer aufgehenden Thür, machte ihn die Augen ein wenig wenden, ohne daß er seine Lage veränderte. Es war die große blonde Frau, die in nicht großer Entfernung an ihm vorüberging nach einem verhängten Fenster, das er jetzt erst bemerkte, ebenso wie die weibliche Person, die da in einem Lehnstuhle saß und offenbar das graue Mädchen mit dem glatt gescheitelten Haar aus seinem Höhlentraume war. Das Mädchen stand auf und ging mit leisen Schritten vom Fenster weg an ihm vorüber nach der Thür, durch welche die Frau gekommen sein mußte, während diese sich an Stelle des Mädchens in den Lehnstuhl setzte.

Der Vorgang verwunderte ihn höchlichst. Einen so lebhaften Traum hatte er entschieden noch nicht gehabt.

Oder war dies gar kein Traum?

Aber was dann? Was bedeutete das alles? Wer waren diese Menschen? Was wollten sie?

Er hatte eine Bewegung gemacht. Die blonde Frau war sofort aufgestanden und zu ihm getreten, ganz nahe an ihn heran. Erst jetzt bemerkte er, daß er in einem Bette lag.

»Wo bin ich?« fragte er leise.

»Bei guten Freunden,« erwiderte die blonde Frau.

Er ließ an ihr vorüber seine Blicke durch das Gemach schweifen. Es war weit und hoch; trotz der grünen Dämmerung, die es erfüllte, konnte er alle Gegenstände deutlich erkennen: einen hohen Glasschrank mit Büchern, auf dem eine Büste stand; ein paar große Bilder in goldenen Rahmen an den Wänden; grünseidene Möbel. Der Vorhang an dem Fenster, das er zur Hälfte sah, ebenfalls von grüner, aber lichterer Seide. Zumeist fiel ihm ein Tisch in der Nähe des Fensters auf, mit Flaschen und Fläschchen besetzt, von denen lange Papierstreifen herabhingen.

»Es scheint, ich bin krank gewesen,« sagte er.

Ein freundliches Lächeln huschte über das Gesicht der blonden Frau. »Ja,« erwiderte sie; »recht krank.«

»Lange?«

»Es sind heut gerade vierzehn Tage.«

Der Graf dachte nach. »Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?«

»Mein Name ist Frau Krafft.«

»Und ich – ich befinde mich hier bei Ihnen? In Ihrem Hause?«

»So lange Sie krank sind, ich meine, bis Sie wieder völlig gesund sind, gehört das Haus Ihnen.«

Der Graf verfiel abermals in Nachdenken.

Das war eine ausweichende Antwort. Warum wollte man ihm nicht ohne Umschweif sagen, wo er sich befand? Er war in einem fremden Hause. Das konnte doch nicht weit von dem seinen sein. Wie wäre er sonst dahingekommen, als er –

Und urplötzlich sah er sich auf dem Wege nach seinem Hause im Gewittersturm. Und erinnerte sich, daß er sich sehr krank gefühlt, und vom Wege nach einem Baum getaumelt war, an dem er zusammenbrach. Und wie er zu sterben gemeint hatte. Und das letzte, was er sah, ein Wagen gewesen war, aus dessen Fenster sich eine Dame bog. Und die Pferde, die im Geschirr stiegen, waren Rappen gewesen – dieselben Rappen, mit denen der Geheimrat Lombard bei ihm in Selchow –

Frau Krafft erschrak sehr, als sie bemerkte, daß auf den bleichen Wangen ihres Pfleglings, während er so still, die Augen nach oben gerichtet, dalag, eine Röte sich bildete, die mit jeder Sekunde tiefer wurde.

Um Gotteswillen, dachte sie, was habe ich da angerichtet?

Zu ihrem großen Trost kam hier Schwester Betty wieder ins Zimmer; Frau Krafft warf ihr einen hilfeflehenden Blick entgegen; die Schwester trat rasch herzu; der Graf sah auf sie, dann auf Frau Krafft, dann wieder auf sie.

»Meine Damen,« sagte er abermals ganz leise; »bitte, befinde ich mich hier –«

Die Röte auf den Wangen war womöglich noch gestiegen.

»In Polchow,« sagte Schwester Betty entschlossen; »in dem Hause von Fräulein Lombard.«

»Ich danke Ihnen,« sagte der Graf fast unhörbar.

»Möchten Sie jetzt eine halbe Tasse Thee nehmen?« fragte die Schwester.

Die Lippen des Grafen bewegten sich tonlos. Es sollte wohl nein bedeuten. Die Röte von den Wangen schwand; er lag regungslos da mit geschlossenen Augen. An den Spitzen der Wimpern hingen plötzlich Tropfen. Er wandte das Gesicht der Wand zu. Die Frauen traten von dem Bett zurück bis an das Fenster und blickten sich ernst in die Augen.

Sie, die weitaus am meisten um den Kranken gewesen waren, hatten wiederholt höchst auffallende Äußerungen aus seinem Munde gehört, die, waren sie auch im Delirium gethan, darauf schließen ließen: es werde der Augenblick, in welchem er erfuhr, wo er sich befand, ein sehr bedenklicher sein. Es war zwischen ihnen verabredet worden, die schließlich unvermeidliche Aufklärung so langsam, so vorsichtig wie möglich herbeizuführen. Nun hatte das unverhofft schnelle Erwachen des Patienten zum vollen Bewußtsein ihre Absicht vereitelt. Die Fieberröte auf seinen Wangen war entschieden ein schlimmes Zeichen. Zwar daß die Erregung sich in Thränen aufgelöst, ließ eine erfreuliche Deutung zu.

Schwester Betty zuckte die Achseln.

Geschehen war es nun einmal. Man mußte die Folgen abwarten.

*

Sie hätten günstiger nicht sein können. Die Rekonvalescenz nahm einen überraschend schnellen Fortgang. Nach weiteren acht Tagen erklärte Doktor Wachsmut, daß Schwester Bettys Dienste fortan entbehrlich seien. Ihr kam es insofern gelegen, als sie jetzt doch fortgemußt hätte, eine kranke Dame auf mehrere Monate an die Riviera zu begleiten. Dennoch wurde ihr der Abschied schwer. In ihrer langjährigen Praxis war ihr noch kein Patient vorgekommen, der seine Bitten mit solcher Höflichkeit aussprach, für jede geringste Dienstleistung sich so dankbar erwies. Als sie zum letzten Mal, schon im Reiseanzug, an sein Bett trat, konnte sie nur mit Mühe ihre Thränen zurückhalten; auch der Graf war sichtlich bewegt. Er griff nach einem kostbaren Ring, den man von seinem abgemagerten kleinen Finger genommen und neben ihn auf das Nachttischchen gelegt hatte.

»Lassen Sie, Herr Graf!« sagte Schwester Betty; »wir dürfen nichts geschenkt nehmen.«

Er hatte ihre Hand gefaßt und sie an die Lippen gedrückt, ehe sie es verhindern konnte.

»Ich bin noch nie reicher belohnt,« schluchzte sie, während sie, das Taschentuch gegen das Gesicht drückend, das Zimmer verließ.

*

Er durfte jetzt auf Stunden das Bett verlassen und auf dem kleinen Balkon, der zum Zimmer gehörte und von dem ein Treppchen zu dem Garten hinabführte, eine Decke über den Knien, vor der Sonne durch eine herabgelassene Marquise geschützt, in einem sinnreich bequemen Krankenstuhl vor sich hindämmern.

Weiter brachte er es vorläufig nicht, ganz erfüllt von seligem Entzücken. Welch unergründliche Tiefen in des Himmels durchsichtigem Blau! Wie wonnig das Grün des Rasenplatzes, der Sträucher und Bäume! Wie weich die linde Luft! Wie balsamisch der süße Blumenduft! Wie melodisch das leise Summen und Surren der Insekten! Und gar das Singen der Vögel! So, gerade so hatten sie gesungen, als er noch ein kleiner Knabe war und um die Knie der Mama herumspielte in dem Selchower Park! Da drüben in der Schneise des jungen Tannenwaldes über dem Hügelrücken ragte die schlanke Spitze des Kapellenturmes. Hundert Schritte davon stand sein altes Schloß. Gott sei Dank, daß er von ihm nichts sah! Nichts von dem Klopfen und Hämmern hörte, das sie da jetzt vollführten, hier in der grünen, blühenden, singenden Einsamkeit!

*

Aber sie konnte ja nicht ewig währen. Da kamen sie und gingen, die Boten von der Welt da draußen. Dieselben, an deren Kommen und Gehen er nun schon so lange gewöhnt war, nur daß sie jetzt deutlichere Physiognomien annahmen, bestimmtere Reden führten, Fragen stellten, Antworten zu erwarten, ihn in die Welt zurücklocken, zurückzwingen zu wollen schienen. Doktor Wachsmut! Hatte der Mann immer eine goldene Brille auf der Stumpfnase und so große rote Hände gehabt? So viel von seiner Landpraxis und dem Agrariertum gesprochen, das, wie die Verhältnisse lägen, vollauf berechtigt sei? War Frau Krafft stets so voll von drolligen Geschichten gewesen, die sich sämtlich auf den Gütern in zweimeiligem Umkreis zugetragen haben sollten?

Es erschienen auch neue Menschen: ein Mann, den er in seinem Höhlentraum bereits gesehen zu haben sich erinnerte, und der sich jetzt als Inspektor Arndt vorstellte. Der Graf zeigte sich erfreut. Ein Kamerad von der zweiten Eskadron! Gefreiter! Ritt einen famosen Wallach, um den er ihn manchmal beneidet habe! Ein bißchen stark Durchgänger freilich, was dem Reiter bei der nächtlichen Rekognoszierungspatrouille auf dem letzten Manöver, die sie zusammen gemacht, beinahe verhängnisvoll geworden wäre!

»Der Herr Graf weiß noch alles!« berichtete Herr Arndt triumphierend in dem Inspektorzimmer.

Nach dem so liebenswürdigen Empfang eines Menschen, der in seinen Augen nur ein »Knote« und völlig untergeordnetes Subjekt war, hielt es Herr von Plat für die höchste Zeit, dem Herrn Grafen seine Aufwartung zu machen.

Der Besuch hatte nicht eben lange gedauert, und der junge Herr schien von dem Resultat nicht besonders erbaut, als er beim Verlassen des Hauses Pasedag auf dem Hofe begegnete. Er äußerte sich freilich nicht ausführlich; bemerkte aber so nebenbei: der Graf trage wohl die Nase ein bißchen höher als nötig. In seinem Inneren gestand er sich: er habe möglicherweise eine große Dummheit begangen. Er hatte zuerst von seinen Familienverhältnissen gesprochen; seinem russischen Schwager – auch seine Mutter sei eine Russin – deshalb sein Vorname: Wladimir; von »unseren Gütern« in Ostpreußen, die er, als der älteste Sohn, demnächst übernehmen werde. Bis so weit hatte der Graf, wenn auch ohne besondere Teilnahme, doch aufmerksam, höflich zugehört. Dann war er auf seine gegenwärtigen Verhältnisse übergegangen: wie er gemeint habe, seine landwirtschaftlichen Kenntnisse durch einen Aufenthalt in Neuvorpommern erweitern zu sollen, und dabei allerdings in eine wunderliche Lage geraten sei. Ein Mann von Stande, wie er, auf einem Gute, das jüdischen Leuten gehöre, das sei denn doch am Ende ein wenig komisch! Glücklicherweise habe er es nicht mit einem jüdischen Herrn, sondern nur mit einer jüdischen Dame zu thun. Und Damen gegenüber – das wisse der Herr Graf ja – schaffe man sich die Situation nach seinem Geschmack. Wie sie sich der Herr Graf schaffen werde, wenn er erst – was ja nun in nächster Aussicht stehe – die persönliche Bekanntschaft von Fräulein Rebekka Lombard gemacht. Notabene: »Rebekka« dürfe sich nur der alte Geheimrat mit den schwarzen Semitenaugen verstatten. Wehe jedem anderen, der von ihr nicht als von Fräulein »Becky« spreche oder denke! Denn hier auf Polchow seien auch die Gedanken nicht zollfrei.

Herr von Plat hatte bei dem allen sehr unterhaltsam und sogar witzig zu sein geglaubt und war deshalb einigermaßen betreten gewesen, als das Gesicht des Grafen, je länger er sprach, immer mehr einen Ausdruck annahm, den er sich nicht recht zu erklären wußte, bis er ihn mit den in sehr bestimmtem Ton gesprochenen Worten unterbrach: »Wie sehr ich Ihnen auch für Ihre interessanten Mitteilungen verbunden bin, ich darf in meiner Gegenwart nicht so von einer Dame sprechen lassen, deren Gastfreundschaft mir zu teil wird, weit über alles gewöhnliche Maß hinaus.«

Er hatte dann etwas von: »nicht so ernst gemeint« gemurmelt und, wie er glaubte, in guter Haltung seinen Rückzug angetreten, mit dem festen Entschluß, dafür an dem hochmütigen Kerl bei nächster Gelegenheit eine Revanche zu nehmen, die »sich gewaschen haben sollte.«

Der Graf aber, nachdem der unliebsame Besuch ihn verlassen, war noch ein paar Minuten, still vor sich hinbrütend, dagesessen und hatte dann mit hastiger Bewegung die Glocke auf dem Tischchen neben ihm ergriffen, Peters herbeizurufen, der bereits seit einer Woche gänzlich nach Polchow übergesiedelt war, seinem Herrn beim Aus- und Ankleiden und den Gehversuchen im Zimmer Beistand zu leisten.

»Ich lasse bei dem gnädigen Fräulein anfragen, ob sie mir die Ehre erweisen will, mich für eine Minute zu empfangen.«

Peters war höchlichst erstaunt. Es war das erste Mal, daß der Herr Graf seine Zimmerschwelle überschreiten wollte. Noch heute Morgen hatte der Doktor zu ihm gesagt: keine Extravaganzen, Herr Peters, wenn ich bitten darf! Dies schien Peters eine sogar sehr große zu sein; aber Mut zum Widerspruch fand er doch nicht; wollte sich nur erlauben, zu fragen, ob er den Herrn Grafen nicht wenigstens vorher ein bißchen zurechtmachen dürfe?

Daraus wurde nicht eben viel. Der Herr war von einer Ungeduld, ganz gegen seine Gewohnheit. Die war ihm wohl noch von der Krankheit sitzen geblieben.

Er kam nach kürzester Zeit zurück: das gnädige Fräulein lasse bitten.

Glücklicherweise hatte der Graf nicht weit zu gehen: zu größerer Bequemlichkeit des Geheimrats hatte Becky aus seinem Zimmer, das jetzt das des Grafen war, eine Tapetenthür nach ihrem großen Salon anbringen lassen. Peters, der beordert war, den Grafen durch diese Thür zu führen, öffnete sie ihm.

* * *


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