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Erlöst

Auf der großen Ebene von Budweis lasteten die Morgennebel. Gleich dunkeln Riesen standen die hohen Erlen in dem grauen Dunste, schienen zu dampfen, verloren sich mit ihren Wipfeln im webenden, wallenden Rauche, und leise tropften ihre Blätter.

Und zwischen den tropfenden Erlen hin, bedeckt von den Morgennebeln, murmelten die Wellen der Moldau und zogen zu Tale, eilig, eilig zu Tale.

Mit Geschrei schossen weiße Möven einher über die Wiesen, flogen nahe auf den braunen Wassern, schlugen die Wellen mit ihren Fittichen, strichen über die Büsche und ließen sich verschlingen von den Nebeln des Morgens.

Im Röhrichte verborgen klagten Wasservögel, aus den Wellen warf sich ein Fisch in die Luft und stürzte klatschend zurück, da wieder, dort wieder, und es zogen die Wellen eilig, eilig zu Tale. – –

Höher stieg die Augustsonne und begann den Kampf mit den Nebeln. Stärker tropften die Bäume. – Lichtstrahlen drangen durch die wallenden Nebel, und die Nebel ballten sich und teilten sich und ballten sich wieder und schwankten hin und her im Lufthauche. Die Sonne aber ließ nicht ab, mit Macht kämpfte ihre Wärme, und der Lufthauch des Morgens half kämpfen. Wilder kreischten die Möven, gleich silbernen Blitzen strichen sie hin und her. Auf und ab brausten und wogten die Nebel und zerrissen unter den Pfeilen des Lichtes. Die Morgensonne hatte gesiegt.

In den Kronen der Erlen hingen noch graue Fetzen, an den Waldhügeln draußen gegen Morgen hingen noch graue Wolkengebilde, über den eilenden Moldauwellen zog der Nebel gegen Mitternacht, und es war, als dampfte der braune Strom; auf Gras und Kraut aber blinkte und funkelte und blitzte der Tau, ein glänzendblauer Sommerhimmel wölbte sich über der Ebene von Budweis, über dem fernduftigen Waldgebirge, das von Mittag hereinragte in das große Bild. Die Sonne spiegelte sich in den eilenden Gewässern, die Morgensonne hatte gesiegt.

* * *

Gegen Norden erhob sich am Strome auf ihren hohen, kahlen Felsen die Feste Froburg aus der Ebene, starr, trotzig, wuchtig und schweigend; und gleich der finsteren Feste auf den rotbraunen Felsen schwieg auch ringsumher das weite, grünprächtige Land.

Um den grauen Bergfried spielte die Morgenluft. Aber keine Fahne blähte sich über seinen Zinnen. Auf dem Firste des roten Palasdaches saßen Tauben und sonnten sich. Aber kein Menschenantlitz war zu schauen, nicht auf dem Bergfried, nicht hinter den Brustwehren der Zingeln. Ja, im starren Schweigen lag die Burg der Witigonen.

* * *

Fernher von Budweis kam auf den Flügeln des Windes leises Geläute, klang zitternd in der wonnigen Luft und erstarb in den mitternächtigen Waldhügeln. Aber es war kein Mensch, so weit sich das Land erstreckte, kein Mensch, der sich gewendet hätte, kein Mensch, der gelauscht hätte auf die Melodien der singenden, klingenden Glocken. – – – – Aus den Waldhügeln hob sich ein Falke hoch in die Luft und stand als ein schwarzer Punkt über der Froburg im Äther. Vom Dachfirste flatterten die weißen Tauben und verbargen sich. Langsam kreiste der Falke und flog gen Mitternacht.

* * *

Leise nur murmelte die Moldau.

* * *

Da brach ein langgezogener Hornruf durch die Stille, und in rascher Folge kam ein zweiter, kam ein dritter Hornruf. Auf den Zingeln der Burg ward es lebendig, Sturmhauben blinkten, Kriegsknechte liefen hin und her. Auf der Plattform des Bergfrieds stand der Wächter und stieß wieder und wieder ins Horn.

Dichtgedrängt beugten sich die Männer über die Brustwehren und schauten stromabwärts auf die Prager Straße.

Wilde Hornrufe antworteten aus dem Waldtale. Wieder und wieder stieß der Wächter auf dem Bergfried in sein Horn.

* * *

Die Hörner schwiegen. Die Männer schauten.

Trompeten schmetterten im Tale. Rosse wieherten hell auf. Kommandorufe ertönten:

König Wenzel kam mit Heeresmacht, kam mit Rossen und Wagen gezogen auf der Prager Straße. König Wenzel ließ ein Lager schlagen auf den Wiesen an der Moldau, der Froburg gegenüber.

* * *

In der Mitte des Lagers erhob sich das Königzelt und war weithin sichtbar über den Zelten der Ritter und über den Zelten und Holztreifen der Kriegsknechte. Es war ein köstliches Zelt, lieblich anzuschauen und gut zu bewohnen. Aus Seidenschnüren waren feine Windseile gedreht, weiß und rot geschachtet und auch von Seidenstoffen gefertigt waren seine Wände, und der goldene Löwe von Böhmen glänzte auf seinem Hute. Lieblich anzuschauen war das Zelt. – Und gut war es zu bewohnen, das Zelt des Königs: Schwere, wollige Fußteppiche lagen gebreitet in seinem Innern; von Kampf und Not, von Sieg und Tod erzählten die bunten Stickereien seiner Wandteppiche; zwischen Zelt und Hut hindurch strich ungehindert der leichte Lufthauch vom Strome her; ein Ruhelager war gerüstet aus schwellenden Polstern. Das Zelt war eine köstliche Wohnung. –

Und König Wenzel saß auf den Polstern inmitten der gestickten Bilder: Da ritt auf verdecktem Rosse sein Vater Ottokar und trieb mit Herrn Wok von Rosenberg und Herrn Budiwoj von der Krummenau die Ungarn in die March. – Dort stand der Slavenapostel Methodius und taufte Borschiwoj, den Herzog von Böhmen. – Hier stand der Hirte David und holte aus mit seiner Schleuder, und vor ihm ragte gleich einem Baume der Riese Goliath und lächelte grimmig herunter auf den Kleinen. – Dort bückte sich arglos Herr Siegfried und trank aus dem Waldquell, und hinter ihm hob der grimme Hagen den Jagdspeer. – Gar viele Gedanken mochten über einen kundigen Mann kommen, wenn er die Bilder besah auf den bunten Behängen des Zeltes. Aber König Wenzel schaute nicht auf das Heldenantlitz seines großen Vaters, er schaute nicht auf den gebräunten Ahnherrn, der nur mit Mühe den steifen Nacken beugte über dem Taufbecken, er schaute nicht hinein in den düsteren Wald auf den glänzenden Helden – er saß in brütenden Gedanken inmitten aller seiner Pracht auf dem Polsterlager, nahm schweigend von einer silbernen Schale getrocknete Datteln und Kubeben und gelbschimmernde Quittenstücklein, saß und aß unablässig und machte ein finsteres Gesicht.

Und vor ihm stand einer, der war anzusehen wie der grimme Hagen droben im gestickten Teppiche: gewaltig war sein Leib, rot war sein Antlitz, kohlschwarze, glänzende Locken fielen ihm auf die Schultern. Es war der Herzog von Troppau.

»In seiner Treife hockt er und rührt sich nicht und schaut auf seine Ketten, Herr Bruder. Er ist jämmerlich anzusehen – lange bin ich gestanden und habe durch die Ritze gelugt – er ist zu einer völligen Erbärmlichkeit geworden,« sagte Herzog Nikolaus und lächelte; aber sein Lächeln glich dem Blitzstrahle, der ein finsteres Gewässer helle macht auf einen kurzen Augenblick. »Er wird mürbe, Herr Bruder, mürbe zum Brechen.«

König Wenzel schwieg und aß.

»Wie habe ich mich gesehnt nach dieser Zeit,« fuhr der Herzog fort, »gesehnt, wie sich ein Mensch sehnt nach seiner Geliebten! Drei Jahre lang trug ich meinen Haß in der Brust; dann schlug ich los und ward von ihm vernichtet. Acht Jahre lang mußte ich hernach schweigen und von seiner Gnade leben, und fressen wollte mich der Haß mit seiner Glut.«

König Wenzel aß und schwieg.

»Das war eine unsagbare Wonne,« fuhr Nikolaus fort und begann auf und nieder zu wandern im Zelte, »das war ein Gefühl, als ich ihn damals warf im Saale, daß er mit Dröhnen zu Boden schlug, als ich auf ihm kniete und ihn würgte, als ich wahrnahm, wie seine gespannten Muskeln schlaff und schlaffer wurden, als mein Todfeind unter mir lag, ein Haufen Fleisch und Knochen – noch ein Druck – – und er wäre liegen geblieben für immer. Aber ein Tor, wer seine Rache in einem einzigen Zuge trinkt! Schlürfen, langsam schlürfen mußt du sie wie einen schweren, feurigen Wein, den der Kluge zerfließen läßt auf der Zunge, tropfenweise, alle Tage wieder. So schlürfte ich meine Rache, als der tote Bündel unter meinen Händen wieder zu atmen begann, als die Muskeln sich langsam regten, ich half ihm auf die Beine, seine Ketten klirrten in meine Ohren, und ich schlürfte meine Rache. Und jetzt hockt er da – ein paar Schritte weit nur brauche ich zu gehen, dann schaue ich ihn mit meinen leiblichen Augen – so klein, so schwach, so zerstört, ein Mann mit mürben Knochen und mit verdorrtem Fleische. – – – Das ist ein königlicher Gedanke gewesen, Wenzel, Heil deinem Schwäher, den ich hasse, solange ich lebe – aber hier hat er meinem Hasse gedient! Ein Siegeszug der Rache ist's; die Teufel in der Hölle müssen sich freuen darüber.«

»Sprich nicht so gottlos, Nikolaus,« sagte König Wenzel, schlug das Kreuz und machte ein angstvolles Gesicht; »das von den Teufeln will ich nimmer hören!«

»Du ziehst ja selber mit von Burg zu Burg, Herr Bruder!« rief der Herzog, blieb stehen und lachte spöttisch auf den bleichen Wenzel hinüber.

»Könige müssen den Heiligen und der Gerechtigkeit dienen,« kam's von den Lippen Wenzels. »Herr Zawisch hat vor Zeiten meinen Vater verraten, er hat meine Mutter betört, er hat nach Herrschaft getrachtet für sich und seine Sippe, er hat mir Gift gegeben, er ist ein Ketzerfreund. Ich diene den Heiligen, wenn ich ihn klein mache.«

»Diene du den Heiligen, ich diene meinem Hasse!« sagte Herr Nikolaus und begann aufs neue hin und her zu wandern. »Ein königlicher Gedanke!« lachte er laut. »Sie haben sich verschanzt auf ihren Bergen, und ihre Speicher und Keller strotzen – wir aber ziehen sachte heran und rufen ihnen ein einzig Wörtlein hinauf, führen einen einzigen armseligen Gefangenen nahe herzu, greifen ihm unters Kinn, richten sein Antlitz in die Höhe, lassen einen mit dem nackten Schwerte hinter ihn treten – – und als hätten wir das Zauberrütlein: Die Zugbrücken rasseln, die Tore tun sich auf – – – und wir ziehen weiter und schwingen das Rütlein unter der nächsten Burg. Heia, Bruder König! Austi, Strasch, Reusch, Lomnitz, Winterberg, Skalitz, Wittinggau sind unser, morgen fällt die Froburg, dann ziehen wir in die Krummenau, dann nehmen wir Rosenberg, Wittinghausen, alles mit dem Zauberrütlein, Herr Bruder, und über eine kleine Weile werden die Hochmütigsten im Lande – Bettler sein! – – Ich freue mich, wenn der Witigo auf die Zingel tritt, der freche Kumpan. Ich sehe schon sein höhnisches Lachen, aber das Lachen soll ihm vergehen, wenn wir die Jammergestalt heranführen. Hochmütiger Witigo, jetzt wird's Ernst!« –

König Wenzel hatte die letzte Dattel gegessen.

* * *

Sie führten den Gefangenen aus der niederen Holztreife, sie trieben ein Stück Holz zwischen seine Zähne und banden es fest mit Riemen, daß er nicht sprechen konnte, sie hoben ihn auf ein Troßpferd, sie umringten ihn, nahmen weiße Tücher und Fichtenzweige in die Hände und ritten im Abendsonnenscheine aus dem Lager.

Auf den Zingeln der Froburg drängten sich die Krieger und schauten hinunter ins Tal. Langsam rückte die waffenlose Schar heran, die weißen Tücher grüßten, die grünen Zweige neigten sich, es war, als wollten die Königischen zu einem Feste fahren. Langsam hob sich eine weiße Fahne auf der äußersten Zingel der Froburg, und im leichten Lufthauche des Abends blähte sich das Friedenszeichen.

Sie sprangen von ihren Rossen, hoben den Landherrn auf die Erde, setzten auf starken Fähren über den Fluß. Vor ihnen ragten die roten und braunen Felsen aus dem Tale.

Stille, furchtbar stille war's ringsumher; nur die Moldauwellen murmelten und schossen vorüber, nur die Erlen flüsterten im Windhauche des Abends, und die Rosse am anderen Ufer stampften den Rasen.

Im weiten Kreise standen die Königischen, und in ihrer Mitte stand Herr Zawisch und sah empor zu der Burg seines Geschlechtes.

Seine Gestalt war verdorrt, sein Antlitz war gelb wie das Wachs einer Kerze, tief in ihren Höhlen lagen die matten Augen, ein langer, weißer Bart wallte auf seinen Gürtel herab, weiße Locken lagen auf seinen gekrümmten Schultern.

Unverwandt schaute Zawisch empor zur Burg seines Geschlechtes. –

Ein kurzer Hornruf tönte hernieder von der Feste. Der Burgwächter hob seine Stimme: »Hallo – was – ist – euer – Begehr?«

»Im – Namen – des – Königs – heißt – euch – der – Herzog – Niklas – die – Tore – öffnen!« erscholl die Antwort des Rufers aus dem Tale.

Wildes Schreien und Pfeifen erhob sich auf den Mauern der Burg.

Regungslos standen die Königischen auf der Wiese, regungslos stand Herr Zawisch und schaute empor zur Burg seines Geschlechts. Langsam bewegte sich die Gestalt des Troppauers über den Rasen, und auf den Mauern der Froburg höhnten die Kriegsknechte.

»Kennt – ihr – den – Zawisch?« erhob der Rufer aufs neue seine Stimme. Aber seine Worte verhallten im Hohngeschrei der Feinde.

Da schwenkte der Herzog von Troppau das Tuch, und es ward stille auf der Burg.

Wieder hob der Rufer seine Stimme: »Kennt – ihr – den – Zawisch?«

Wutgeheul antwortete aus der Höhe.

Wieder schwenkte Herzog Niklas sein Tuch, trat neben den Gefangenen und wies mit der Linken auf ihn und schwenkte höhnend das Tuch.

Über die Zinnen der äußersten Mauer beugte sich ein Mann und äugte lange ins Tal. Stille war's.

»Witigo – schau – dir – den – Zawisch – an!« rief Herzog Niklas mit gellender Stimme.

»Zawisch!« kam es in langgezogenem Schrei aus der Höhe, und der weißhaarige Mann auf der Wiese starrte empor zur Burg seines Geschlechtes.

Regungslos standen die Königischen im Kreise, regungslos standen die Männer auf der Witigonenburg, leise blähten sich die weißen Wimpel, leise murmelten die Moldauwellen und schossen vorüber.

»Zawisch!« kam es abermals durch die Stille, und es klang, als riefe ein Vater sein verlorenes Kind.

Langsam hob Herr Zawisch die gefesselten Hände und schüttelte sie. Und der Mann auf der Mauer droben schlug die Hände vor sein Angesicht.

Stille war's.

Die kleinen, funkelnden Augen des Troppauers schauten von dem Gefangenen hinauf zu dem Manne auf der Mauer und zurück zu dem Gefangenen und wieder hinauf, er wiegte sich hin und her, er ballte das Tuch zusammen und ließ es lange herabhängen auf den Rasen. Stille war's, sehr stille. –

Der Herzog winkte mit dem Tuche, und wiederum schrie der Rufer: »Und – wenn – ihr – euch – weigert – so – fällt – das – Haupt – des Zawisch – auf – den – Rasen!'«

Mit beiden Armen stützte sich Herr Witigo auf die Brustwehr und schrie hernieder: »Das – werdet – ihr – niemals – wagen!«

»Bei – des – Königs – Ehre!« antwortete Herr Niklas.

»Wer – kann – schwören – bei – der – Ehre – eines – Hundes?« kam die Antwort ins Tal, und Hohngeschrei erhob sich auf den Mauern und vermischte sich mit dem Wutgeschrei der Königischen.

Jähe Röte hatte das Gesicht des Troppauers überzogen.

Herr Witigo aber winkte und rief: »Der – Zawisch – ist – Herr – über – die – Froburg – er – soll – befehlen!«

»Der – Zawisch – wird – schweigen – es – fehlt – ihm – die – Sprache!« antwortete der Troppauer.

»Zawisch – Bruder – sprich!« kam es in langgezogenen Tönen von der Burg.

Stille war's. Höhnend schaute Herr Niklas auf den Gefangenen.

Der stand und sann. Auf einmal aber warf er das Haupt in den Nacken, hob die gefesselten Hände hoch empor, gleich einem Flehenden, und ließ sich langsam aus die Kniee nieder.

Totenstille herrschte noch einen Augenblick im Kreise der Königischen. Dann aber lachte Herzog Niklas hell auf und schrie: »Ich sehe ihn knieen und um sein Leben betteln!« Und ringsumher murmelten lachend die Feinde: »Er kniet, er kniet!«

Und es kniete der weißhaarige Mann auf dem Rasen unter der hochragenden Burg seines Geschlechtes und hob die mageren Hände empor zu dem blondhaarigen Manne, der unverwandt herniederspähte.

»Hast – du – dich – satt – gesehen?« schrie der Herzog hinauf.

Da wandte sich Herr Witigo und rief ein paar kurze Worte zurück auf die Seinen.

»Hallo! – Gib – Antwort!« schrie der Troppauer und stampfte. Aber weitauf sperrten sich seine Lider, und der Mund blieb ihm offen: An alle Zinnen, vom Bergfried herab bis zu den äußersten Mauern, hängten die Witigonenmannen wie mit einem Schlage ihre weißglänzenden Schilde, und hundert- und hundertmal grüßte von der Froburg die rote Rose ins Tal.

Aufrecht stand Herr Zawisch und schaute dem Herzog ins Angesicht. –

»Zawisch!« rief Witigo.

Vorgeneigt lauschte der Gefangene.

»Zawisch! – Habe – ich – das – Zeichen – recht – verstanden? – Soll – ich – die – Feste halten – dann – kniee abermals!«

Und abermals ließ der Gefangene sich nieder auf seine Kniee und hob die gefesselten Hände gleich einem Flehenden empor.

Wildes Geschrei erscholl von allen Zinnen der Burg auf die Königischen herab.

Der Herzog aber schwang das weiße Tuch: »Witigo – dann – fällt – sein – Kopf – morgen – früh – so schwöre ich!«

»Ihr – werdet's – niemals – wagen!« kam gellend die Antwort ins Tal. –

»Auf, zurück!« befahl der Troppauer. – –

Die Fähren stießen vom Ufer, die Ruder griffen in die braunen Wellen. Schweigend saßen die Königischen auf den Bänken, schweigend sprangen sie ans Land und ritten mit Herrn Zawisch über die Wiesen.

Von der Froburg aber leuchteten die roten Rosen in das abendliche Land hinaus.

* * *

Neben dem Lager, nahe am Waldstrome brannten und qualmten Pechpfannen, harte Schläge dröhnten durch die Nacht, laute Rufe hallten hin und her: eifrig zimmerten die Kriegsknechte an einem hochragenden Gerüste.

Und im Zelte des Königs brannten viele Wachskerzen. Sie flackerten im Lufthauche der Nacht, und in ihrem flackernden Lichte schienen sich die ernsten Züge des Slavenapostels zu bewegen, die Hand, die das heilige Wasser goß über Borschiwois Haupt, schien zu zittern – und auch das rote Antlitz des Herzogs im Bilde bewegte sich, und es war, als wollte sich sein Mund verziehen.

König Wenzel saß auf seinen weichen Polstern, und vor ihm stand Herr Nikolaus.

König Wenzels Angesicht war aschgrau, und bei jedem Schlage, der vom Richtplatze herübertönte, zuckte er zusammen.

»Muß es denn sein?« fragte er den Bruder.

»Es muß sein!« antwortete der Herzog.

»Muß?« rief Wenzel und erhob sich. »Wer kann mich zwingen? Ich bin der König von Böhmen!«

»Deine Ehre, Herr Bruder! Ich habe bei deiner Ehre geschworen, und der Witigone hat dich beschimpft vor deinen Knechten – dich, den König von Böhmen!«

»Ich kann nicht!« jammerte Wenzel und sank wieder auf die Polster.

»Was kannst du nicht?« fragte der andere und trat nahe herzu.

»Ich kann ihn nicht töten,« sagte Wenzel und schaute angstvoll zu seinem Bruder hinauf.

»Wer verlangt das vom böhmischen Könige?« fragte Herr Nikolaus.

»Du sagtest ja doch –«

»Ich habe gesagt: Die Frechheit dieser Sippe ist groß, und ihr Trotz muß gebrochen werden. Ich habe gesagt: Dieser Aufrührer muß aufs Blutgerüst. Sonst habe ich nichts gesagt, Herr Bruder. Du aber bist erschrocken wie ein Knabe,« antwortete der Herzog.

»Witigo wird die Feste übergeben,« stieß Wenzel hervor.

»Er wird's nicht tun. Dies Holz kenne ich,« antwortete Herr Nikolaus.

»Es ist fürchterlich!« jammerte Wenzel und schlug die Hände zusammen. »O wäre ich auf dem Hradschin!«

»So reite zurück nach Prag,« sagte Nikolaus und stampfte mit dem Fuße; »reite, Herr Bruder, und laß den Herold vor dir schreien: ›Da kommt der König von Böhmen, über den die Waldbarone lachen, wie man lacht über einen tanzenden Affen!‹«

»Herzog Nikolaus!« kreischte der König, raffte sich auf und schlug nach dem Bruder. Der aber fing den Schlag auf, und alles Blut wich aus seinem Angesichte, er hob die gewaltige Faust, und König Wenzel sank abermals auf die Polster.

Ein gurgelnder Ton kam aus der Kehle des Troppauers. Dann aber preßte er die Zähne aufeinander, daß sie knirschten, seine Faust öffnete sich, und die offene Hand legte sich auf das Herz – tief geneigt wie ein Höfling stand der Bastard vor seinem Könige.

»Das Blut des Vaters rinnt in deinen Adern, mein Herr Bruder. Er hätte seine Freude an dir gehabt. Als ein wahrhaftiger König bist du vor mir gestanden – verzeih, ich hatte dich erproben wollen, und jetzt neige ich mich vor dir.«

»Das will ich meinen; keiner höhnt mich ungestraft!« sagte Wenzel und unterdrückte einen tiefen Atemzug.

»Keiner, auch nicht der Witigo,« bestätigte der Bastard, nahm die Hand vom Herzen und richtete sich in die Höhe. »Und ringsumher stehen deine Knechte und wahren deine Ehre wie das Licht ihrer Augen. Aufs Blutgerüste muß der Zawisch –«

Wenzel zuckte zusammen.

»Aufs Blutgerüste, er muß! – Aber, Herr Bruder, kann einer nicht auch wieder herniedersteigen vom Blutgerüste?« fragte Nikolaus ganz leise und sah lauernd auf das Antlitz des Königs.

»Ich verstehe dich,« rief Wenzel; »du willst, daß ich sie schrecke, Bruder!«

»Du? Wer mutet dem Könige zu, daß er den Missetäter auf das Gerüst stoße? Du bist der König von Böhmen, und deine Knechte sind deine Knechte. Wer kann verlangen, daß du hier im Lager bleibst alle die Tage? Die von Budweis werden jauchzen, wenn du sie grüßest. Wäre ich der König von Böhmen und besäße einen getreuen Bruder und Knecht, ich machte mich auf, übergäbe diesem Bruder den Befehl im Lager und ritte nach Budweis.«

»So – meinst – du – nach Budweis?« sagte Wenzel und blickte zu Boden. »Ich will mir's morgen überlegen.

»Wenn der Morgen graut, führen wir den Zawisch an deinem Zelte vorbei. Er wird schreien nach dir, Herr Bruder, er wird deine Gerechtigkeit anrufen – sie werden die Köpfe zusammenstecken im Lager – –«

»Muß es morgen sein?« fragte Wenzel angstvoll. »Morgen ist Feiertag!«

»Wenn ich mich recht erinnere, so hat es der König vorhin selber befohlen,« sagte Nikolaus und fuhr fort: »Wäre aber der König ferne von hier, dann wäre es nicht nötig, daß er den Verräter wieder und wieder sähe! – Der König reitet nach Budweis, der Zawisch besteigt das Gerüste – die auf der Froburg haben scharfe Augen – – wie leicht kann es kommen, daß dieser Witigo die Feste dennoch übergibt?«

»Und dann müßte er nicht sterben, der Zawisch?« fragte der König.

»Dann stiege der Zawisch vom Gerüste, das Lager würde abgebrochen, und wir zögen alle miteinander in die Berge. – Denke nur, wie leicht es also kommen kann, Herr Bruder! Ja, sicherlich wird es also kommen.«

»Ich bin der König von Böhmen. Meine Ehre lege ich in deine Hände, Bruder Nikolaus,« sagte Wenzel und erhob sich würdevoll von seinem Sitze. »Wahre meine Ehre!«

Tief neigte sich der Bastard. Dann fragte er lauernd: »Wann reitest du?«

Wenzel besann sich. »Morgen in der Frühe.«

»Mit Tagesgrauen kommt der Zawisch hier vorüber, ich hab's geschworen,« sagte Nikolaus.

»Kann's nicht später sein?«

»Ich hab's geschworen!«

»So reite ich vor Tagesgrauen.«

»Die Nacht ist hell, der Weg ist gut gebahnt,« sagte Nikolaus. »Das Hämmern möchte deine Ruhe stören.«

Der König sann. Unablässig tönte das Hämmern ins stille Zeit. »Laß die Rosse satteln, ich reite!«

»Und übergibst mir den Befehl für den ganzen morgenden Tag?« fragte Nikolaus lauernd und wandte sich.

»Für den ganzen Tag!«

»Hernach vor den Rittern und Herren in aller Form Rechtens!« sagte Nikolaus und hob das Zelttuch. –

Draußen flimmerten die Sterne in der köstlichen Nacht.

Der Bastard stand stille. »Den Schimpf vergesse ich dir niemals, Knabe, und den Tag will ich nützen, König von Böhmen! Aber es ist eine Kleinigkeit, über dich zu herrschen, du eitler Schwächling,« murmelte er.

* * *

Die Fackeln lohten und rauchten, die Rosse scharrten den Rasen, die Sterne flimmerten.

Der König stieg zu Pferde, und der Herzog hielt ihm den Stegreif.

»Werdet Ihr lange zu Budweis liegen, Herr König?«

»Morgen abend reite ich wieder unter die Froburg.«

»Und wer hat den Befehl im Lager, Herr König, bis zu Eurer Wiederkehr?«

»Du, Herzog von Troppau,« sagte König Wenzel, zog den Handschuh von der Rechten und gab ihn dem Bastarden.

Tief verneigte sich Herr Nikolaus, und im Scheine der Fackeln, unter den flimmernden Sternen ritt König Wenzel nach Budweis. Dumpf klangen hinter ihm die Hammerschläge vom Richtplatze.

* * *

Schweigend standen die Wachen rings um das Lager her und lauschten hinaus in die Nacht, schweigend standen die Wachen auf den Zinnen der finsteren Burg und lauschten hinunter ins Tal. Und im Lager und auf der Burg schliefen Gerechte und Ungerechte dem Morgen entgegen. –

Unaufhaltsam aber, gleich der ewig rinnenden Zeit, strömten die Moldauwellen zwischen den hohen Waldbergen, spülten über die Wurzeln der Hohenfurter Erlen, murmelten empor zum Herrenschlosse in der Krummenau, schossen gurgelnd in die finsteren Gräben von Budweis und rannen weiter, vorüber am Lager, vorüber an der Froburg, weiter, weiter, ins böhmische Land hinaus.

* * *

Und wiederum hoben sich die weißen Nebel aus den Gewässern, krochen über die Wiesengründe, woben ihre Schleier und deckten Gute und Böse ringsumher, und die Sterne funkelten darein – die ewigen Sterne.

Da kamen Traumgestalten aus den Tiefen der Wälder, Traumgestalten in wogendem Gewimmel, stiegen hernieder zum dunkeln Waldstrome, setzten sich auf seine Wellen, schaukelten sich, hielten Zwiesprache mit den eilenden Wassern und kamen hinunter ins Tal von Budweis. Traumgestalten, schwankende, flatternde Traumgestalten, unsichtbare Geister, kein menschliches Auge vermochte sie zu schauen, und kein menschliches Ohr verstand ihr Flüstern und Murmeln. Von den Wassern ließen sie sich tragen an ihren Ort, auf den Nebeln schritten sie dahin wie auf festgezimmerten Brücken, schwangen sich wie im Spiele über die Gräben und Palissaden des Lagers und kehrten ein in der finsteren Holztreife inmitten des schlafenden Lagers – der grimmigen Wache zum Hohne.

»Komm, Kind, komm, Kind,« lispelten die Träume neben dem schlafenden Manne; »komm, Kind, komm, Kind!« sangen sie, und niemand verstand ihr Singen. – »Der Nachtwind säuselt in den Erlen,« dachte der Sarjant und lehnte den Rücken an die Holzwand der Treife. – »Komm, Kind, geh mit uns, Kind!« sangen die Träume über dem schlafenden Manne, und der schlafende Mann rührte sich, seine Kette klirrte, seine Brust hob sich – und wäre es nicht so finster gewesen in der Treife, ein Lächeln wäre zu sehen gewesen auf den eingefallenen Zügen, ein Lächeln, als huschte ein flüchtiger Sonnengruß über winterliches Land. »Komm, Kind, geh mit uns, Kind!« sangen die Traumgestalten. »Komm! Komm, Kind!«

Und sie breiteten ihre Fittiche, führten die müde Seele im Fluge empor aus ihrem Elende und zeigten ihr ferne, ferne Lande, strahlend im Glänze der Sonne, durchströmt von lieblichen Bächen, geschmückt mit Blumen und Blüten – hoch, hoch empor über das Elend der Zeit trugen sie seine Seele, zurück in eine ferne Vergangenheit, zurück in die Tage der Jugend.

»Komm, Kind, komm, Kind, geh mit! – – Kind, sag an, wie siehst du aus? Wo sind denn die goldenen Locken von damals? Du hast weiße Locken, Kind, schneeweiße Locken. Wenn das deine Mutter wüßte! – – Nein, nein, glaub's nicht, Kind, es war ein böser Traum, und jetzt bist du erwacht; jetzt vergiß den Traum, armes Kind, jetzt vergiß das Elend – ein Traum war alles, und golden sind deine Locken wie damals! – – Tränen hangen an deinen grauen Wimpern! Kindlein – eia, wer wird weinen? Auf, springe hin zu deiner Mutter, laß dir die Augen trocknen! Und wenn sie fragt – Knabe, warum hast du geweint? – dann birg dein Antlitz in ihrem Schoße wie einstmals, laß dir deine Haare zurecht streichen von ihrer Hand, von ihrer weichen, weichen Hand, wie einstmals, und sag ihr: Mutter, es hat mir nur geträumt, es hat mir nur böse geträumt! – – ? Wir wollen zum Vater gehen! sagt die Mutter – – – O Mutter, Mutter, es war nur ein Traum, und ich bin noch ein Kind!«

Zwischen Vater und Mutter schmiegt sich der Knabe wie vor langen, langen Jahren, ein Zittern geht über seinen Leib, aufs neue brechen die Tränen aus seinen Augen. – »Weine dich satt, liebes Kind, weine aus deines Herzens Grunde! Wenn das Eis brechen soll, dann müssen aus den Flügeln des Föhns die schweren Wolken kommen, der Regen muß träufeln, der warme Regen, auf das erstarrte Land. Weine dich satt, liebes Kind, armes Kind!« – – – – »Der Traum, Vater, Mutter, der böse Traum! Ich lief den murmelnden Wassern nach und lief im Sonnenscheine und lief aus dem Waldtale. Die Wasser lockten mich, die Sonne lockte mich, mein Herz trieb mich und pochte und pochte – ich lief, ich lief hinein ins Land. – – – Da war mir's, als ob sich die Sonne langsam, langsam höbe in unermeßliche Fernen, und als ein schwaches Sternlein stand sie über mir; kalter Wind, kalter, rauher Wind fuhr mir entgegen. Ich hielt inne, ich verwunderte mich und ich ging wieder vorwärts – aber es war mir, als klirrten Ketten an meinen Füßen – – langsam, ganz langsam ging ich – – – hört ihr die Ketten klirren? Der Frost kam über mich. Stille stand ich und lauschte – und wollte mich wenden. – Ich wollte zurück, ich wollte zu euch, Vater, Mutter. – Da hörte ich eine Stimme, die fragte mich: Wohin? Wohin? – Ich will heim, heim! schrie ich. – Heim? So geh doch vorwärts – dann kommst du heim! – Dort ist meine Heimat! schrie ich und wollte mich wenden. – Nein, dort, dort! antwortete die Stimme. Vorwärts! Auf diesem Wege kommst du endlich heim! – – – Und unaufhaltsam ward ich fortgerissen, ward ich vorwärts getrieben. Vor mir, neben mir, hinter mir gingen Gestalten in buntem Gewimmel, alle gingen vorwärts, alle vorwärts nach einer Richtung. Und während ich mit ihnen ging, rief ich: Wohin des Weges? – Vorwärts, vorwärts! antworteten die meisten. – Wohin? fragte ich wieder und lief und lief. – Wohin? Nun, vorwärts! Was anders als vorwärts? – – Heim, heim! flüsterte da einer und dort einer. – Die meisten aber schrien: Vorwärts, vorwärts! – Und sie stießen sich untereinander auf ihrem gemeinsamen Wege.«

»Liebes Kind,« sagt da die Mutter, streichelt die Wangen des Knaben, hebt sein Kinn empor und schaut in seine großen Augen, »Kind, zeige uns deine Hände!«

Finster wird das Angesicht des Knaben, es ist, als säße jetzt ein starker Mann auf seinem Platze, und er verharrt in tiefem Sinnen. Dann aber geht ein Lächeln über die Züge, er hebt die Augen zur Mutter und wendet sie zum Vater, und es ist wieder der goldlockige Knabe, der seine Rechte der Mutter und seine Linke dem Vater in den Schoß legt.

Vater und Mutter beschauen die Hände lange, lange Zeit, und sachte, sachte tropfen heiße Freudentränen auf die reinen Kinderhände, und sie breiten die Arme aus und schließen ihren Knaben hinein.

* * *

Tiefauf seufzt der Knabe: »Vorbei, vorbei – daheim, ganz, auf ewig daheim! – – O Vater! O Mutter! – – –«

»Aber – Mutter – sag an, wohin gehst du auf einmal? Bleibe doch bei mir – ich bitte dich! Und auch du, Vater – Vater, wohin gehst du? – Bleibet doch, mich ängstigt der Traum – der böse Traum! – Da renne ich ja noch unter den andern! Wie, ihr hört mich nicht? – Vater, Mutter! – Wie wird es doch so kalt um mich her! – Wohin? Wohin? Wehe, nehmet mich mit euch! Wehe, wo bin ich? – – – Da ist unsere Burg und läßt sich übergolden vom Abendsonnenscheine, da strömt der Fluß, da ragt der Wald – wie oft bin ich im Fenster droben gestanden zwischen euch, Vater, Mutter, und aus dem abendlichen Walde stiegen die weißen Nebel. – – – Wo seid ihr doch, Vater, Mutter? Ich sehe euch nicht – helft mir – – ich versinke! Helft – – – – – – – – – ? ?! O wie kalt, o wie dunkel, ganz dunkel um mich her! Nur auf der Burg das Funkeln. – – – – Herr Gott, da stehen Vater und Mutter im Fenster und schauen herunter ins dunkle Tal und winken. – – – – Ist das die Burg meines Vaters? – Nein! Es ist eine fremde Burg, und sie steht in einem fremden Lande – – und doch, und doch, ich kenne die Burg, ich kenne die Türme, ich kenne den Palas, ich kenne die wehenden Fahnen – oft sah ich dich leuchten hoch über meinem Elende, du Burg mit deinen tausend, tausend Fenstern, oft streckte ich die Arme aus voll Sehnsucht nach dir. – – Auf, auf! Was stehe ich von ferne? Heran! Deine Felsen will ich ersteigen – ich fliege – – ach nein, noch stehe ich im Dunkeln – – – Herr, sende mir deine Engel! – – O wie kalt rings um mich her! – Wer ruft? Vater, Mutter – ich sehe euch winken, ich höre euch rufen – – Diemut, auch du – o Diemut – was ruft ihr? – Daheim? Daheim? – Hilf, Herr Gott, ich versinke! Vertritt mich armen Sünder, o Dornengekrönter! – Ich komme, reichet mir die Hände, traget mich – hebet mich! – Wie helle, wie so sehr helle!« –

»Herr Zawisch! Herr Zawisch!«

Der alte Mann lächelte in seinen Träumen.

»Herr Zawisch, der Tag grauet. Wachet auf!«

Langsam richtete der Gefangene sich empor, und das Lächeln verschwand von seinen Zügen.

»Was willst du?« fragte er und schaute in das harte Angesicht, das sich über ihn neigte.

»Stehet auf, Herr Zawisch, der Priester wartet vor der Türe!«

»Ich bin bereit,« sagte der Gefangene und erhob sich vom Lager.

Seine Ketten klirrten. Gebückt stand er da und beschattete die Augen mit der Hand.

»Stelle doch das Licht ein wenig zur Seite – es tut mir weh – – es ist so helle, so helle.«

* * *

Wiederum war die Nacht heraufgezogen, wieder wallten die Nebel über Strom und Land, und in den Nebeln hob sich die finstere Masse des Blutgerüstes empor.

Das Lager schlief – nur zuweilen riefen sich die Wachen an, nur zuweilen schlug ein Roß gegen die Holzwand einer Treife.

Rings um das Blutgerüste her glühten die zusammengesunkenen Wachtfeuer, und neben einem dieser verglimmenden Feuer standen zwei Kriegsknechte, ein alter und ein junger, und flüsterten miteinander.

»So glaubt Ihr also, Vetter, daß ihm andere Leute einreden, dem König?« fragte der junge Sarjant.

»O du!« sagte der Alte und deutete an seine Stirne. »Der Wenzel muß mehr gegen seinen Willen tun an einem einzigen Tage als unsereiner in einem ganzen Monat, und unsereiner ist ja doch nur ein armseliger Sarjant. – Den da droben auf den blutigen Brettern, den kann er nicht anschauen: deswegen ist er nach Budweis geritten.« – »Er kann ihn nicht anschauen!« wiederholte er lauter und stieß den Speerschaft hart auf den Boden.

»Wenn Euch einer hörte, Vetter!« flüsterte der Junge.

»Soll mich hören, wer will!« zischte der alte Sarjant. »Dem sein Blut schreit so wie so zum Himmel, und ein alter Kerl kann sein Maul auch nicht zubinden, wenn ihm die Galle auf die Zunge läuft – das muß er ausspucken. Und dieses tut er jetzo, mein Sohn.« – – – Und der Kriegsknecht spie aus und murmelte: »Zum ersten, und das gilt dem Niklas!« Dann spie er wieder aus und murmelte: »Zum zweiten, und das gilt dem Wenzel! – – Und zum dritten, paß auf, das gilt allen, die den da droben ins Verderben gebracht haben!«

»Mein Lebtag vergeß' ich nicht, wie tapfer der Zawisch hinaufgestiegen ist,« meinte der Junge.

»Und wie er die Binde von den Augen gerissen hat!« sagte der Alte. »Und wie er gegen den Herzog hin gerufen hat – so hat er gerufen: ›Im Angesichte des lebendigen Gottes werfe ich dir heute den Handschuh vor die Füße, du Mörder!‹ – – Und wie er den Mörder herausgestoßen hat! – In Zeit und Ewigkeit möcht' ich nicht in des Herzogs Haut stecken!«

»Der schert sich nichts um solch ein Wort von einem Toten,« flüsterte der andere. »Habt Ihr den Herzog angeschaut, wie der Kopf auf die Bretter gepoltert ist?«

»Nein, hat mich nicht gelüstet,« grollte der Alte.

»Mich schon,« sagte der Junge. »Große Herren muß man sich allzeit genau anschauen. Gelacht hat er, der Herzog, mit dem ganzen Gesicht!«

»Lacht manch einer, weil er sich gerade stark fürchtet,« sagte der Alte. – – »In fünf gerechten Fehdezügen bin ich hinter ihm gelaufen mit dem Speer, hinter dem Helden, der da droben liegt in seinem Blute so schändlich – – und hätt' mir einer vor vier Jahren in Mähren im Kloster Raigern gesagt: Der da jetzt für den König die Räuber über die Klinge springen läßt, den wird der Wenzel –«

»Nicht so laut!« flüsterte der Junge.

»– den wird der Wenzel mit dem Schwerte richten lassen über eine Weile wie einen armen Schächer – ich hätt' ihn einen Narren gescholten.«

»Horch!« raunte der Junge. »Am Wall her kommt einer gegangen.«

»Ich hör's,« antwortete der Alte, und beide senkten die Speere.

Aus dem Nebel löste sich eine hohe Gestalt.

»Wer da?«

»Laßt mich heran, ihr Herren!« antwortete eine dumpfe Stimme.

»Es ist ein Mönch – seht Ihr's?« flüsterte der Junge.

»Was habt Ihr da zu suchen?« rief der Alte.

»Mein Oberer sendet mich. Mein Oberer ist heute neben dem armen Sünder gegangen und gestanden; jetzt ist er unpaß, und doch geziemt sich's, daß man bete an der Leiche.«

»So geht herzu und betet für ihn und uns, ehrwürdiger Vater!« sagte der Alte.

Mit gesenktem Haupte schritt der Mönch an das Blutgerüste und klomm die Leiter empor. Die Bretter der Plattform knarrten unter seinen Fußtritten.– ? ?

»Schaut nur – ist's nicht, als stünde da droben ein Riese?« flüsterte der junge Sarjant.

»Das tut der Nebel, der verzerrt die Gestalten,« sagte der andere.

»Und schaut nur, wie hell es wird mit einmal!« raunte der Junge.

»Der Mond will durch den Nebel dringen,« meinte der alte Kumpan.

»Mich dünkt, das ist ein seltsam Leuchten und Blinken,« sagte der andere und schlug heimlich das Kreuz.

* * *

Stille war's, nur die Gewässer murmelten, nur der Lufthauch flüsterte in den Erlen am Strome.

Wie sie im Frühlichte unter dem Schwertstreiche zusammengebrochen war, so lag jetzt im Nebel der Mondnacht die Gestalt des großen Witigonen im geronnenen Blute neben dem Blocke, und nahe dabei lag das weißhaarige Haupt.

Lange stand der Mönch vor dem Haupte. Seine Hände waren gefaltet, seine Lippen bewegten sich im Gebete.

Wachsgelb schimmerten die Züge des abgeschlagenen Hauptes, die Augen waren geschlossen, der tiefe Todesfriede hatte sich über das Antlitz gelegt, ganz wenig war der Mund geöffnet – fast als wollte er sagen: »Daheim!«

Langsam ließ der Mönch sich nieder auf die Kniee, hart an dem Haupte des Toten. Segnend breitete er die Hände aus, faltete sie, beugte sich tief herab auf das Haupt, breitete die Hände abermals aus und beugte sich noch tiefer herab, als wollte er das Haupt verdecken und verhüllen mit seiner weiten, braunen Kutte. – – Mit Inbrunst schien der Mönch zu beten für die Seele des armen Sünders. –

Jetzt erhob er sich, jetzt raffte er die Kutte zusammen, jetzt ging er zur Leiter und tastete sich bedächtig Sprosse um Sprosse hinab.

»Gott halt' euch!« sagte er mit tiefer Stimme, als er an den beiden Wachen vorüberkam.

»Gott vergelt' Euch!« antwortete der Alte.

Der Mönch verschwand im Nebel.

* * *

Hufschläge klangen von fernher: Durch Nacht und Nebel jagte Herr Witigo den Waldbergen zu – und am klopfenden Herzen, unter der braunen Kutte, barg er das Haupt seines Zawisch. –

Des andern Morgens ergab sich die Froburg.

 

Ende.


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