Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Diemut

Der helle, volle Mond stand hoch über dem engen Tale. Und in dem engen, tiefen Tale flüsterten die dunkeln Bäume von den Kämmen der Berge bis hinunter an das starke Wildwasser, das zwischen Buchen und Erlen, zwischen hängenden Farnkräutern und schwankenden Wiesengräsern, zwischen fettem Lattich und blauen, duftenden Bergveilchen von Mitternacht gegen Mittag zur Donau floh. Auf den Wipfeln der Buchen und Erlen funkelten die Lichter des Mondes, und wo die Gewässer unter freiem Himmel dahinströmten, glänzte ihr Schaum wie flüssiges Silber. Zumeist aber griffen die Äste und Zweige herüber und hinüber, als wollten sie sich verschlingen ineinander, und in ihren schwarzen Schatten murmelten und schossen, brodelten und tosten über gewaltige Felsblöcke die schwarzbraunen Gewässer und rannten eilig, eilig zu Tale.

Drei Lichter blinkten über dem Ranatale in jener Nacht: das eine hoch draußen auf der Burg Ranariedel, die hier hereinschaut in das Ranatal, dort aber weit hinauf und hinab über den Donaustrom; das andere Licht sah von der Halde über die Buchen und Erlen und kam aus einem Fenster der Burg Falkenstein; und das dritte Licht schimmerte von Mitternacht herab auf den Falkenstein und weit hinaus auf Ranariedel und kam vom Altenhofe. –

Die Nacht ging ihren Weg; es war, als würde der Mond immer goldener, als würde das tiefe Tal mit seinen flüsternden Wäldern und seinen rauschenden Gewässern immer unergründlicher; als wüchsen die hohen Berge immer höher in den blauschwarzen Himmel hinein, als träten die weißen Mauern und Zinnen vom Falkensteine immer schärfer hervor über den Baumwipfeln. –

Und das Licht auf der Burg draußen am Strome erlosch – und die Nacht ging weiter ihren Weg; und das Licht hoch droben im Altenhofe erlosch – und es leuchtete nur noch das große Licht am Himmel und goß seine starken Strahlen in das finstere Tal, und es leuchtete nur noch das kleine Licht auf dem Falkensteine und warf seine schwachen Strahlen in die Ecken der engen Kemenate und flackerte hinaus durch das offene Fensterlein, hinein in die wonnige Nacht, wie ein Kindlein am späten Abende um sich schaut aus verschlafenen Augen – – und fernherauf klang das Tosen des Wildbaches.

Im Fenster auf einer der zwei schmalen Bänke saß Herr Zawisch. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt und sprach halb zu sich selbst und halb zu seinem Weibe, das nahe bei ihm auf dem Spannbette lag, das Haupt in die Hand stützte und keinen Blick von ihm wandte:

»So geht's bergab und ist nicht aufzuhalten. Wie ein Dieb schleiche ich des Nachts empor in mein Steinhaus, kann keinem mehr trauen, muß mich verbergen wie der gehetzte Hirsch. Zwei Mühlsteine sind's, und wir werden zwischen ihnen zerrieben.« – »Diemut,« fuhr er empor, »Diemut, ob dich wohl der Vater auch dem geächteten Zawisch gegeben hätte?«

Die Frau auf dem Spannbette lächelte und sagte langsam: »Eia, Zawisch, wie kannst du so reden? Bist du nicht mein Zawisch vorhin und jetzt, und ob sie dich ehren oder ob sie dich ächten, du bist mein lieber Herr in guten und in bösen Tagen. – Eia, Zawisch, trinke und freue dich, daß du wieder da bist – vier Monde sind's doch, nicht?«

»Vier Monde,« murmelte Zawisch.

»Und sei nicht so traurig – erzähle mir, was dich aufs neue bedrückt! Ich kann dir ja nicht helfen, aber ich kann dich trösten.« – – »Sicherlich kann ich das,« wiederholte sie, erhob sich vom Lager, nahm das weite Gewand zusammen, schritt schwerfällig an die Ampel und blies ihr Licht aus. »Hab's ja vordem auch manches Mal zusammengebracht,« vollendete sie. – – – »Wozu brauchen wir das Licht? Es flackert über die Gesichter und zeichnet ihnen schwarze Schatten unter die Augen und um den Mund – wie ein alter Mann bist du im Fenster gesessen,« sagte sie lächelnd, trat neben ihren Herrn, nahm sein Haupt zwischen die Hände, sah lange in seine Augen und küßte ihn. »Da lob' ich mir meinen alten Freund, den Mond. Wo der so voll hinscheint, ist alles ruhig und klar und gar nicht hoffnungslos.«

»Gar manches ist hoffnungslos auf der Welt, wo Sonne und Mond hinscheinen,« antwortete Zawisch.

»Hoffnungslos ist nichts,« sagte Frau Diemut ernsthaft; »hoffnungslos ist nicht einmal die Sünde.«

»Wo soll ich Trost finden?« seufzte Zawisch, nahm den Becher vom Simse und tat einen tiefen Zug, lehnte sich zurück und schaute mit düsteren Augen in das schmale, weiße Antlitz, das sich über ihn neigte. »Diemut, ich glaube du kennst mich: es ist nicht die Scheu vor dem Kampfe, sondern ich fürchte mich, weil ich meine Feinde nicht sehe.«

»Zawisch,« bat die Frau, und ihre Stimme klang weich, und sie zog ihren Herrn mit sich an das Ruhelager, »Zawisch, ich muß mich wieder auf das Spannbette niederlassen – ich bin so müde; Zawisch, setze dich zu mir her auf den Schemel da – so! – – Ach, Zawisch –!« – Und es brach wie Schluchzen aus ihr. – »Zawisch, weil du nur da bist bei mir!« Und sie schlang die Arme um seinen Nacken und bedeckte sein Antlitz mit Küssen.

»Diemut, hast du dich gefürchtet, als ich fort war?« fragte Zawisch und legte die Hand liebkosend auf ihren Scheitel.

»Ich habe gefürchtet, daß ich dich nicht mehr sehen werde bei deiner Wiederkehr.«

»Diemut, was ist dir denn?« fragte Zawisch erschrocken.

»O, nichts Besonderes,« sagte sie rasch und versuchte unter strömenden Tränen zu lächeln. – »Zawisch, erzähle mir zuerst, was dich aufs neue bedrückt! Dann will ich auch von meinen kleinen Leiden reden.«

»Kann ich dir helfen? – Sage! Sage!« drängte Zawisch.

Diemut schüttelte das Haupt: »Nein, du nicht, und niemand auf der weiten Welt,« antwortete sie. »Aber du sollst mir erzählen, ich bitte dich darum.«

»Das ist bald gesagt!« stieß Zawisch hervor. »König Rudolf hat mit König Ottokar seinen Frieden geschlossen. Das ist jetzt – warte – – neun Monate her –«

»Und hat euch, doch allesamt, die ganze Sippe, in diesen Frieden aufgenommen?« unterbrach ihn Frau Diemut.

»Aufgenommen, ja, und nicht aufgenommen – das Wort im Briefe kann nach Belieben gedeutet werden,« sagte Zawisch. »Und das weiß ich erst seit acht Tagen. – Was aber, frage ich, haben wir verbrochen, daß uns der Kanzler jetzt verfolgt wie Räuber und Mörder? In einem ungerechten Kampfe haben wir unsere Schwerter unbefleckt erhalten – das ist unser ganzes Verbrechen!«

»Würdest du auch heute noch Herrn Ottokar die Hilfe verweigern?« fragte das Weib.

Zawisch blickte sie voll an und fragte langsam: »Ist der römische König heute nicht mehr mein oberster Lehnsherr?«

Verwirrt schloß Frau Diemut die Augen und griff nach seiner Hand. »Verzeih, verzeih mir! Ich weiß, daß du stets nur das Rechte tust,« sagte sie leise.

»Nun sind wir geächtet,« fuhr Zawisch fort, »von dem geächtet, der vormals selber in Acht und Bann gewesen ist. Und wahrlich, seine Schuld ist's nicht, daß wir noch auf unsern Burgen sitzen und daß er nur Neuhaus und Austi weggenommen hat. – Austi erst vor vier Wochen, weißt du's?«

»Das erste Wort!« sagte Diemut.

»Dann weißt du auch nicht, daß der König unsern Wok mit Neuhaus belehnt –«

»– daß Wok aber diese Gnade ausgeschlagen hat!« fiel Diemut ein.

»Du weißt es?« fragte Zawisch.

»Ich weiß nichts und weiß es doch ganz fest: Wok hat sich mit keiner von euern Burgen belehnen lassen!«

»Seit drei Monaten ist er aus Prag verschwunden « sagte Zawisch und schaute dann schweigend vor sich hin.

»Ich will es kurz machen,« begann er plötzlich. »Siehe, seit acht Tagen habe ich die Kunde: König Rudolf will uns beschützen. Aber seit acht Tagen ist es mir auch klar: er wird es nicht können, er ist zu schwach. Und heute nachmittag, als ich von Passau herunterfuhr, und noch mehr heute abend, als ich in der Dunkelheit mit Burkhard heraufstieg, da trat mir's vor die Augen so fest und bestimmt: Wir Witigonen können nimmer bestehen auf der Grenzscheide zwischen Böhmen und dem Reiche, und über eine kurze Weile müssen wir zu Grunde gehen.« – –

»Zawisch,« fragte Diemut, legte das Haupt zurück auf den Polster und schaute hinauf an die Balken, »Zawisch, bist du glücklich gewesen mit mir?«

»Aber Diemut, ich bin es und werde es immer sein, solange ich lebe!«

Heftig schüttelte sie das Haupt, Tränen schossen aus ihren Augen, sie tastete nach seiner Hand und legte sie auf ihre Brust. »O daß du bei mir bist, Zawisch! – Zawisch, lege dein Haupt hieher, neben das meinige – so! O, so ist's recht, lieber Herr, so halte still!« – »Weißt du,« sagte sie und lächelte, »das Kind regt sich und hüpft – siehe, ich gehe jetzt in den Kampf und werde daraus nimmer zurückkommen, das fühle ich.«

Zawisch wollte auffahren von seinem Schemel, aber das Weib hielt ihn sanft zurück und spielte mit seinen Haaren. »Es wird mir schwer,« sagte sie, »aber ich weiß, es muß sein. – – Zawisch, bist du glücklich gewesen mit mir?«

»Glückselig, Diemut!« kam die Antwort zurück.

»Zawisch, dann sei gesegnet!«

Sie richtete sich auf und stützte das Haupt in die Hand. »Zawisch, nimm doch die Laute und singe mir das erste Lied von damals – weißt du's noch? – das Rosenlied!«

»Diemut, ich kann doch nicht. Sage mir, was hast du denn?«

»Der Kampf, der Kampf, Zawisch,« flüsterte sie ernsthaft; »morgen geht's in den Kampf. – Zawisch, nimm doch die Laute und singe! Ich habe noch viel mit dir zu reden – aber zuerst singe mir das Lied, ich bitte dich!«

Da nahm er die Laute und griff in ihre Saiten, und leise, leise strömten ihre linden Töne durch die mondhelle Kemenate hinaus in die Nacht, zitterten über den silberglitzernden Baumwipfeln und erstarben im Rauschen der Bergwasser. Und Herr Zawisch begann mit tiefer Stimme zu singen:

Heihoh! Die Rosen blühen
Und glühen allzumal
An jeder grünen Hecke,
In jedem tiefen Tal.

Und auch mein Schildesröslein
Es brennt in aller Glut –
Heihoh, da muß ich reisen;
Allhier tut's nimmer gut!

Heihoh! Lieg still und verfaule,
Graugelbes Pergament –
Der Schüler wird ein Reiter,
Das Blatt hat sich gewend't!

Heihoh, du finstere Stube –
Die Tür' schlag' ich ins Schloß,
Rotröslein steck' ich ans Koller
Und schwing' mich auf mein Roß!

Heihoh, stickdumpfige Zeche,
Du Wirt mit dem feisten Gesicht –
Heihoh, ich reit' aus dem Tore,
Heihoh, und wende mich nicht!

Heihoh, ihr schalen Gesellen,
Sitzt, sumpft und besauft euch in Ruh'!
Ich jag' mit dem Wind um die Wette
Der sinkenden Sonne dort zu.

Heihoh, und wenn sie gesunken
Hinunter in glühender Pracht,
So jag' ich im Scheine der Sterne –
Klingklang! – durch die schweigende Nacht.

Heihoh! Ich möchte reiten
Allfort und immerzu –
Es glühen und locken die Rosen
Und lassen mich nimmer in Ruh.

Heihoh! und es glühen die Rosen
Und lassen mich nimmer in Ruh:
Der Allerschönsten im Lande –
– Heihoh, der werf' ich sie zu!

»Das war schön,« sagte Frau Diemut, stand auf und ging ins Fenster; »so schön wie damals, Zawisch! – – – Weißt du noch, weißt du noch, wo du mir das Lied zum erstenmal gesungen hast? – O laß, ich, ich will es sagen, ich will's noch einmal durchdenken mit dir! – Hinter unserm Hause ist's gewesen, am ersten Abende, als du zu uns kamst von Passau her; unter der Eiche ist's gewesen, am Steintische aus der Wiese. Zawisch, weißt du's noch? Der Vater hatte seine Freude an dir, ich bückte mich über das Tüchlein und getraute mich nicht, zu dir aufzuschauen. Du aber saßest und sangst ein Lied nach dem andern, bis die Fledermäuse sich aus dem Turme hoben. Und eines jeden Liedes Sänger wußtest du zu nennen und konntest erzählen von seinen Abenteuern. Zwischenhinein aber sangst du auch ein Lied und sagtest nichts dazu, und wenn dich dann der Vater fragte nach dem Sänger, dann riefst du lachend: ›Einer, den ich gut kenne, ein unstäter Geselle, heißt Nemo und wohnt nahe bei mir im Bischofshause zu Passau.‹ – Und die Lieder von diesem Nemo gefielen mir am allerbesten, und ich wußte ja doch gar nicht, daß du der Nemo selber warst. – – Zawisch, weißt du noch das andere Lied, das Lied, das du mir im Herbste darauf gesungen hast?«

»Welches, Diemut?« fragte Zawisch und fuhr langsam über die Saiten.

»Zawisch, das schöne Lied!«

»Sag nicht, das schöne Lied!« bat Zawisch.

»Deine Lieder sind schöne Lieder,« wiederholte das Weib nachdrücklich.

»Wer die Nachtigall hat schlagen hören, dem genügt die Amsel nimmer und nimmermehr,« sagte Zawisch. »Dir gefallen meine Lieder, und hernach wird sie der Wind verwehen.«

»Nachtigall und Amsel schlagen beide schön, jede an ihrem Orte,« kam's aus dem Fenster zurück. »Zawisch, singe mir noch das eine Lied! – Es dünkt mich, gestern wäre es gewesen, und ist doch schon drei Jahre her; die Wälder in ihren gelben und roten und grünen Farben ziehen sich hinunter und hinunter, hinaus und hinaus ins weite, klare Land hinein und glänzen im goldenen Lichte; die Luft ist so warm, ich sitze zu deinen Füßen – Zawisch, singe mir das Lied!«

Und Zawisch begann zu singen:

Flieg, Feifalter, fliege
Unterm Sonnenschein,
In den Schlummer wiege
Leise dich hinein!

Sommer, der dich küßte,
Daß die Hülle brach,
Sommer geht zur Rüste,
Herbst wird's allgemach.

Flieg, Feifalter, fliege
Unterm Sonnenschein,
In den Schlummer wiege
Leise dich hinein!

Mit den weißen Fäden
Spielt die linde Luft,
Über Wald und Hügeln
Ruht ein blauer Duft.

Flieg, Feifalter, fliege
Unterm Sonnenschein,
In den Schlummer wiege
Leise dich hinein!

Mit den weißen Fäden
Fliegt, ach, fliegt mein Sinn
Über Stoppelfelder
Um die Wette hin.

Flieg, Feifalter, fliege
Unterm Sonnenschein,
In den Schlummer wiege
Leise dich hinein!

Sommer, der mich küßte,
Daß die Rinde brach,
Sommer geht zur Rüste,
Herbst wird's allgemach.

Flieg, Feifalter, fliege
Unterm Sonnenschein,
In den Schlummer wiege
Leise dich hinein!

* * *

Zawisch stand auf, trat ins Fenster zu seinem Weibe und zog ihr Haupt an seine Brust.

Sie aber atmete tief auf und faltete die Hände. Lange standen sie also in der großen Einsamkeit. Gleich fernen Gesängen klang es empor aus der rauschenden Rana, von den Halden empor strömte der süße Duft des frischen Heues zum Fenster herein. Und es war, als streckte sich jedes Blättlein, jeder Halm empor in die silbernen Lichtfluten der Mondnacht, alles empor, empor – alles empor!

»Zawisch,« sagte Frau Diemut plötzlich, löste ihr Haupt aus seinen Händen und blickte fast scheu in sein Antlitz, »Zawisch, du wirst einst ein großmächtiger Herr werden! Ich weiß es alles – seit gestern nacht. Da konnte ich lange nicht schlafen und dachte so viel an dich. Dann schlief ich dennoch ein und sah ein Traumbild. – Höre: Auf dem Bergfried in Wittinghausen saßen wir. Du drücktest mich an dich – so – so – nimm mich ganz nahe an dich! Ich weiß, es war heller Tag. Da wuchsen dir aus einmal Flügel, weitmächtige Flügel, und du warst ein großer Falke. Und dann stiegst du empor und wandtest dich langsam und sahst mich an – so, Zawisch, gerade so wie jetzt, mit deinen großen, tiefen Augen – ich aber saß traurig und hatte doch meine Freude an deinem hohen Fluge. Und allgemach wurde um mich her alles ganz dunkel, und ich konnte mich nimmer regen. Aber dich sah ich immerfort, immerfort, golden und glänzend. – Zawisch, mich friert, schließe den Laden! – –«

Es durchschauerte ihren Leib; sorgsam schloß Zawisch den Laden und führte sie durch die Dunkelheit an das Ruhebett.

»Es ist nichts,« sagte sie. »Aber setze dich auf den Schemel und gib mir deine Hand! – Der Falke flog langsam über die Wälder, hinein nach Böhmen, und ich sah eine große Stadt mit Türmen und Mauern und Toren, alles in der Dunkelheit, und sah, wie sich der Falke niederließ auf den höchsten von allen Türmen – – – und auf einmal sah ich ihn gar nicht mehr, den goldenen Falken, denke nur, wie seltsam; es war heller Tag geworden, und der Turm war leer, und die Sonne schien wie immer; ich aber verlor im Traume den Atem und schloß die Augen ... Und träumte weiter und sah den Falken abermals in einem Saale, und er saß auf der Hand einer wunderschönen Frau und spielte mit einer goldenen Krone, mit einer goldenen Krone! – –

Und dann« – – »Nein, jetzt ist die Geschichte aus,« sagte sie, und wieder ging ein Zittern über ihren Leib.

»Diemut, du bist krank. Lege dich zur Ruhe!« bat Zawisch und küßte sie.

»Zawisch, bleibe bei mir!« flehte sie und klammerte sich an ihn. »Bleibe, ich muß dich ja trösten, jetzt ist noch Zeit, morgen nimmer! – – – Zawisch, laß dich nicht blenden vom Glücke und laß dich nicht schrecken vom Unglücke. Freud und Leid kommen beide von den gleichen Höhen, fließen beide einher in gleichem Bette, sollen beide dein Schiff tragen, daß es hinlaufe an sein Ziel. Kannst auch von deinem Schiffe aus niemals erkennen, ob Freude in Wahrheit Freude sei – ob Leid in Wahrheit Leid. Vieles, was dir als Freude erscheint, ist Leid, und manches Leid wäre große Freude, wenn deine Augen es nur sehen möchten.«

»Du tröstest mich ja nicht, Diemut! Du warnst mich und warnst mich vor etwas, das nicht ist.«

»Ich tröste dich nicht, Zawisch?« fragte sie und hob sich auf dem Lager. »Lieber Herr, öffne doch den Laden, es ist so finster hier!«

Umflossen vom Lichte des Mondes saß das Weib auf dem Ruhebette. Bleich war ihr Antlitz, ihre Augen standen weit offen.

»Zawisch! Ich sehe alles nahe, ganz nahe. Ich kenne mich nicht und weiß doch, daß ich's bin. Ich sehe die Erde, uralt liegt sie da unter dem blauen Himmel, ich sehe, wie sie in den Sonnenstrahlen sich schmückt, immer wieder, immer wieder; ich sehe die Ähren schwanken auf den Feldern, ich sehe die Trauben glühen unter dem Laub, ich sehe die dunkeln Wälder und höre ihr Rauschen, ich sehe die grünen Auen und die zahllosen Blumen, sehe die hellen Wassertropfen gleich Perlen brechen aus den harten Gesteinen und von den Bergen springen zu Tal und unaufhaltsam eilen ins Meer, und aus dem Meere tauchen wieder empor die glänzenden Perlen, und Schiffe mit weißen Segeln tragen sie an alle Enden der Erde. Herrliche Frauen winden sich die Perlen um den Nacken, und da schimmern und leuchten und locken sie. Ja, ich sehe die uralte Erde, wie sie sich schmückt von Jahr zu Jahr mit neuem Glänze; ich sehe die Wolken ziehen und mit den Wolken die Sehnsucht; vor meinen Augen funkeln die Augen der Männer, der Ruhm gleißt ihnen entgegen, und sie erzittern. – Aber ich sehe tief hinein in die Erde und sehe in ein großes, großes Grab. Mich täuschen die Ähren nicht, mich trügen nicht die Trauben in all ihrer Glut; durch die lebendigen Wälder muß ich schauen auf die toten Felsen, durch die kristallenen Wellen auf den finstern Meeresgrund, und durch die Augen der Menschen dringt mein Blick tief hinein in ihre Herzen. Zawisch, hüte dich, steuere fest, schau nicht zur Rechten und nicht zur Linken, laß dich nicht berücken! Aus den Eingeweiden der Erde steigt der Herrscher empor, dem die Erde gehört, fährt herauf durch ihren vieltausendjährigen Moder und tritt urplötzlich neben den armen Menschen. Heiße Worte flüstert er ihm zu und reckt die dunkle Gestalt und bohrt die scharfen Augen in seine Seele, streckt die mächtigen Arme aus, wirft Nebel dahin und dorthin, verdunkelt die Sonne, wirft seine eigenen Lichter dahin und dorthin, schwächt die Menschenaugen, daß sie haften müssen an der gleißenden Rinde, und als glühende Perlen fallen ins arme Herze seine lockenden Worte: Dies alles will ich dir geben – bete mich an!«

»Du redest irre, Diemut, liebe Diemut,« sagte Zawisch. »Ich bin geächtet, Diemut.« Seine Stimme zitterte, und er breitete die Arme aus.

»Ich rede nicht irre, lieber Herr,« sagte das Weib und wehrte ihn ab, »nein, sicher nicht irre. Aber ich sehe über große Länder und sehe dich mitten darinnen. Warum rennen sie denn über die Erde auf Rossen und auf Wagen, diese armen Gerippe, und jagt eines dem andern die Herrschaft ab und den Purpur und hüllt seine Knochen darein?«

»Macht und Herrschaft müssen sein auf Erden, die sind von Gott verordnet,« antwortete Zawisch.

»Müssen sein,« sagte Diemut; »aber es regiert dabei noch ein anderer Wille als Gottes Wille. Ich kann's nicht klar sehen, nur das weiß ich: der andere Wille kommt aus der Tiefe der Erde.« – – Dann fuhr sie fort: »Wenn du zur Erde schaust, so spiegelt sich die Erde in deinen Augen und beirrt dich. Wenn du auf die Menschen schaust um dich her, dann beirren die armen Gestalten deinen Sinn. Wenn du zum Himmel schaust, dann spiegelt sich seine Bläue oder seine Wolken spiegeln sich in deinen Augen und beirren dich. Wenn du aber deine Seele mit all ihrem Sinnen und Trachten ganz einzig auf den ewigen Gott richtest, dann beirrt dich nicht die Erde, dann beirren dich nicht die Menschen, dann beirrt dich nicht der blaue und nicht der bewölkte Himmel – dann regiert dich der ewige Gott! Und also sollte ein Herrscher schauen, dächte ich.«

»Diemut, Diemut, deine Wangen glühen, du redest in Gesichten. Diemut, lege dich zur Ruhe!« sagte Zawisch und umschlang ihre Gestalt.

»Zawisch,« flüsterte sie und schmiegte sich wie ein Kind an seine Brust, »Zawisch, wirst du dann auch zuweilen an deine Diemut denken?«

»Aber sage mir, Diemut, warum willst du denn nicht mehr leben?«

»Nicht mehr leben wollen?« lächelte sie, und die Tränen tropften von ihren Wangen. »Aber Zawisch, warum sollte ich nicht mehr leben wollen? Ich darf ja nicht mehr leben!«

Lange hielten sich die beiden umschlungen und wußten nichts zu reden miteinander. Auf einmal aber erhob sich Frau Diemut und ging zu der Truhe, die hinten an der Wand der Kemenate stand.

»Zawisch!« sagte sie, kam langsam zurück und legte ein kleines, abgegriffenes Buch in seine Hände. »Zawisch, das behalte du, und wenn du einmal des Trostes bedarfst, dann begib dich in die Einsamkeit und lies in diesem Buche!« – – – »Wisse,« setzte sie zögernd hinzu und faltete die Hände unter der Brust, »ich habe niemals Geheimes vor dir verborgen in meinem Herzen, und doch trage ich seit etlichen Monden das größte Geheimnis in mir. Wisse, das Buch ist von deiner Mutter; ein alter Mann, den ich wohl kannte, der brachte mir's nicht lange nach ihrem Tode, und der Mann – hat – – durch den Mann bin ich zur Lyonerin geworden – gleich deiner Mutter, Zawisch.«

Mit aufgerissenen Augen stand Zawisch vor seinem Weibe. »Alle Heiligen!« stieß er hervor; »Diemut, Diemut, bist du von Sinnen? Meine Mutter? Weißt du, daß in Passau fast alle Monate etliche von diesen auf dem Holzstoße brennen müssen?«

»Das habe ich jeden Tag gewußt,« sagte sie und richtete sich hoch auf, »und habe doch nicht anders handeln können, Zawisch. Ja, ich weiß es: Sie fahen nach uns, sie binden uns, sie führen uns vor ihre ungerechten Richter. Sie martern unsere Glieder und pressen das Geheimnis unseres Lebens aus unseren Seelen und verdammen uns. Sie schleppen unsere Leiber auf ihre Scheiterhaufen, sie brennen uns zu Asche, sie streuen die Asche ins fließende Wasser. Was tut's? Wir brennen unseren Feinden auf dem Gewissen; mögen sie dafür unsere vergänglichen Glieder verbrennen – Feuer gegen Feuer, Brand gegen Brand! – Von den Bergen stürzen sich die Quellen, sie können nicht anders, durch die Täler strömen die Gewässer, immerfort dem Meere zu. Und von Lande zu Land muß schreiten unsere Lehre und muß bringen Tod dem Fleische allerwärts und Leben dem Geiste – was tut's, wenn die Bekenner fallen zur Rechten und zur Linken? Das Bekenntnis wird siegen. Zawisch, wenn sie mich morgen nach Passau schleppten –«

Ein Hornstoß unterbrach die Stille der Nacht. Von der Höhe des Turmes kam die Antwort. Langgezogene, unverständliche Rufe tönten in die Kemenate. Zawisch öffnete die Türe und lauschte. Aus der Tiefe drang Lichtschein, Burkhard stieg empor. »Herr,« sagte er, »über dem Graben steht einer, der will Euch Botschaft bringen vom Bischof.«

»Laß ihn herüber!« befahl Zawisch, und seine Stimme klang heiser.

Dann trat er zurück, umschlang sein Weib und raunte: »Diemut, sag's um Gottes willen zu keinem Menschen! Lege dich jetzt zur Ruhe – ich will dir die Magd schicken ? –«

»Verstehst du mich?« fragte Diemut forschend.

»Ich bin wahrhaftig erschrocken,« antwortete Zawisch; »und wenn ich dich auch nicht verstehe, so weiß ich doch, daß du nichts Böses tun kannst – – und meine Mutter – – – Diemut, ich bin wahrhaftig erschrocken!«

* * *

Als die Mittagsonne über dem Tale leuchtete, lag in den Armen der toten Mutter ein toter Knabe. Herr Zawisch kniete am Bette wie vor etlichen Stunden, und wie vor etlichen Stunden barg er das Haupt am Herzen seines Weibes. Aber das Herz war kalt, ganz kalt; das Antlitz war weiß wie der Kalk an der Wand, und der Mund bewegte sich nicht mehr.

Die Kerzen brannten, und niemand sagte: »Bist du glücklich gewesen mit mir, Zawisch? Komm her, Zawisch, singe mir doch das Rosenlied!« – Totenstille war's in der Kemenate.

* * *

Im Pirschgewande stand am zweiten Morgen Ritter Burkhard auf der Halde vor dem Falkensteine. Drunten im Tale zogen graue Nebel, im Grase blitzte der Tau, die Höhen strahlten im Lichte des Tages.

Zu ihm trat Wolf, der Knecht, mit dem Jagdspeere.

»Muß immer daran denken, Herr,« sagte er und wies mit dem Daumen über die Schulter zurück; »das ist ein hart Ding, so jung sterben müssen.«

»Ein hart Ding? Ein grausam Ding, gar nicht auszusinnen!« murrte Burkhard, und es zuckte und zitterte um seine Augen. »Die – die – die – – solch ein Weib gibt's nimmer landauf, landab.«

»Und daß ihr Kind auch hat tot sein müssen!« sagte Wolf.

»Je nun,« kam's zurück, »ist so besser ausgehoben als bei uns – jetzt werden blutige Zeiten – – heia, mir soll's recht sein!«

Und er pfiff den Hunden, schritt den Abhang hinunter und verschwand im Walde.


 << zurück weiter >>