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Der Kanzler

Auf seiner Burg ob Prag sah König Ottokar. Ein heißer Junitag neigte sich seinem Ende zu, schräghin fielen die Strahlen der Sonne über Stadt und Strom, und das weite, grüne Land schwamm im Lichte.

König Ottokar hatte das Haupt in die Hand gestützt und schaute auf die Mauern und Türme, die seine Stadt gleich einem Riesengürtel umschlangen, und auf die Menge ihrer hohen Giebel. Lange saß er also in der Fensternische. Dann atmete er tief auf, erhob sich, stieg die Stufen hinab, nahm einen Brief aus dem Gewande und begann lesend auf und nieder zu wandern im Saale.

Da öffnete sich unhörbar die Türe, und hinter dem schweren Teppiche trat eine schlanke, schwarze Gestalt hervor, verneigte sich tief, richtete sich gerade empor und faßte den König ins Auge, der mit gesenktem Haupte rastlos auf und nieder schritt.

»Du, Peter?« sagte Herr Ottokar, als sein Blick von dem Pergamente schweifte, und es war, als zuckte die Rechte und wollte das Blatt im Gewande verbergen. Dann aber schritt er in die Mitte des Saales, legte das Pergament auf den Tisch und belastete es mit einem Kristalle. »Was willst du diesen Abend noch?«

»Verzeihet, Herr König,« sagte der andere in tschechischer Sprache; »Eure Diener wissen, daß Euer unwürdiger Kanzler bei Tag und Nacht Zutritt hat.« Und wieder verneigte er sich.

»Was hast du mir zu sagen?« fragte der König aufs neue und setzte sich in einen hochlehnigen Stuhl an der Wand.

»Die Brandenburgischen Gesandten sind vor zwei Stunden in die Stadt geritten,« begann der Kanzler und trat neben den Tisch in die Mitte des Saales. »Ich habe sie für morgen früh auf die elfte Stunde vor Euch entboten.«

»Morgen wollte ich doch mit Herzog Niklas die neuen bayerischen Rosse beschauen,« sagte der König müde.

»Dann werde ich sogleich einen Voten in die Stadt schicken und werde die Brandenburger auf die dreizehnte Stunde bestellen – gebe aber dem Herrn Könige zu bedenken, daß die Rosse auch Herzog Niklas allein beschauen könnte,« antwortete der Kanzler.

»Höre, Propst Peter, du sprichst mit deinem Herrn und Könige!« sagte Ottokar, und eine jähe Röte fuhr über sein Antlitz.

Tief verneigte sich der Kanzler und sagte in deutscher Sprache: »Es ist die Angst, die Euern treuesten Diener allezeit vorwärts treibt. Ich sehe Euch zaudern und weiß, daß Ihr doch nicht mehr zurückkönnt, ich weiß, daß jetzt Tag für Tag Schlag auf Schlag geschehen muß. Verzeihet, Herr König, die Rosse sind's nicht allein, die Euch abhalten, die Gesandten zu empfangen. Verzeihet, Herr König –« Er stockte und fuhr nach einer Weile in tschechischer Sprache fort, und es klang weich und einschmeichelnd, was er vorbrachte: »Verzeihet, es ist Euch Botschaft aus Olmütz zugekommen – heute mittag.«

»Und wenn?« fragte Ottokar und lehnte sich zurück in den Sessel.

»Wenn Euch der Bischof Briefe schreibt, so hat das keine Gefahr. Wenn Ihr aber noch immer auf den Ratschlag des Witigonenfreundes hört, dann denke ich an die heidnische Frau im Liede, die des Nachts auflöste, was sie am Tage gewoben hatte.«

»Ich dächte, die heidnische Fürstin wob an einem Leichentuche, Kanzler,« sagte der König langsam.

»Ja, Herr König!« rief der und warf das dunkle Haupt in den Nacken. »Tag und Nacht weben wir an dem Leichentuche für den römischen König. Wollte Gott, daß wir ihn bald gar sänftiglich könnten dareinwickeln!« – »Er oder Ihr, Herr – das muß sich jetzt entscheiden,« fuhr er fort und hob die Rechte hoch empor. »Und wer ist denn er? Ein Gräflein, nichts weiter, hier zu Lande ein Schupan! Ein Strohmann ist er, dem ein paar Große drüben im Reiche den zerlöcherten Königsmantel umgehängt haben. Was hat er? Nichts! Borgen muß er bei Herren und Knechten. Nein, nicht so, er muß rauben, was er braucht, da und dort, und er tut's auch; denn die Kunst ist ihm wohlbekannt. – – Wer hat vordem gesprochen von dem Gräflein am Rheine? Und wer wird von seinen Söhnen und Enkeln weiter sprechen nach dieser Zeit?« – – – – – – – – »Wer aber seid Ihr, Herr König?« fragte der Kanzler mit starkem Nachdrucke, trat einen Schritt vor und hielt inne.

Da teilte sich der Teppich vor der Türe, und mit langen Schritten schob sich eine verwachsene Gestalt in grellgrünem Gewande hervor, stellte sich hinter den Kanzler, hob gleich dem Kanzler die Rechte, warf das Haupt zurück auf die gelbe Gugel und rief mit dem gleichen Nachdrucke: »Mein Vetter!«

»Geh weiter, Narr, wir können dich nicht brauchen!« befahl der König.

»Über den Scheitel des Bauern krabbelt die Laus – was kann es dem Weisen schaden, wenn sich einmal ein Narr in seiner Nähe niederläßt?« sagte der Zwerg, schwang sich auf den Fenstersims, zog die dürren Beine an den Bauch empor, umschlang sie mit den Armen, nickte dem Propste zu und sprach gelassen: »Fahre fort, wir hören!«

»Herr König!« rief dieser erregt.

Ottokar winkte. »Laß ihn, du sprichst zu mir!«

Mühsam suchte der Kanzler nach Worten; dann sprach er: »Ich denke, jede Scholle Erde im Böhmenlande weiß von Euern Ahnen und von Euch zu zeugen. Wir schauen zurück in die Vergangenheit und sehen sie dunkel hinter uns liegen. Wir lauschen im Volke und horchen, was es singt in seinen Liedern; wir nehmen die alten Schriften und fragen sie um die Vergangenheit. Und die Mädchen singen Heldenlieder, die Schriften zeigen uns überwachsene Wege, und die Dunkelheit wird zur Dämmerung – Lichtstrahlen gehen aus von den Häuptern Eurer Ahnen, Herr König! – – – Ich sehe die wundersame Frau, wie sie hinweist über die Berge und ihre Mannen ausschickt, und ich sehe den ledigen Zelter schreiten über die böhmische Erde, sehe, wie er sich seinen Pfad sucht, und ich sehe den ersten Herrn des Landes hinter dem Pfluge. Sie schreien: ›In Libuschas Namen sei uns gegrüßt, Herzog!‹ – Und er spannt die Ochsen aus, stößt den Haselstock in den Boden, zieht Brot aus der Tasche, gießt Wasser in seinen Holzbecher und lädt die Helden ein zum fürstlichen Mahle. Und ich sehe, wie aus dem Stocke drei Zweige schießen; ihrer zwei werden dürr und fallen ab, der dritte aber dehnt sich gewaltig, beschattet das Land, und Prschemisl spricht: ›Was staunet ihr? Wisset, daß aus Unserem Stamme viele Herren hervorgehen werden, doch immer wird nur einer herrschen!‹«

»Der da gerade heimlicherweise mehr Hirn im Schädel hat als die andern – nicht so, Vetter?« sagte der Narr und nickte dem Könige zu.

Mit unbeweglichem Antlitze fuhr der Kanzler fort: »Und ich sehe, wie er die Bauernschuhe aufhängt in der Kammer auf dem Wyschehrad, köstliche Gewänder umwirft und sich zur Fürstin Libuscha setzt auf den hohen Stein, und ich höre ihn raunen: ›Die Schuhe sollen hängen bis auf Kind und Kindeskind und sollen ihnen sagen, woher sie stammen!‹«

»Jeder aus dem Leibe seiner Mutter, ob's ihm nun die heiligen Schuhe bezeugen oder sein unheiliger Verstand,« rief der Narr mit Nachdruck.

Einen bösen Blick warf der Propst ins Fenster; dann fuhr er fort, und seine Stimme hob und senkte sich, die schmale Hand fuhr durch die Luft, die ganze Gestalt wiegte sich hin und her: »Seht Ihr sie nicht, die lange Reihe, Herr König, die lange Reihe, Ring an Ring, die von dort herunterzieht auf Euch und Euern Sohn, Ring an Ring, blank wie Gold ein jeder –?«

»Hm! Hm! Da und dort ein wenig rötlich, das Gold, blutrötlich, blutklebrig, wie's gerade kommt,« sagte der Zwerg.

Der König aber richtete sich empor und stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne.

»Puh! Puh!« jammerte der Narr, zog seine dürren Beine noch höher empor, stellte sich auf das Gesimse und rief: »So war's nicht gemeint, Vetter, – nicht!«

Neben dem Stuhle des Königs aber richtete sich ein gewaltiger Wolfshund auf, knurrte und wandte die Augen nicht von seinem Herrn.

»O weh, Vetter, o weh! Heiße ihn ruhig sein, deinen Wolf!« bat der Zwerg und trippelte hin und her. »Es ist ja alles wahr, Ring an Ring, eitel Gold und Glanz und Glück, gar nichts Rotes, gar kein Blut in deinen Ahnen, und ein Schuft, wer anders sagt. Puh, Vetter, heiße ihn ruhig sein, ich will auch schweigen! Heil dem ganzen Geschlechts!«

»Lege dich!« sagte Ottokar. Das schöne Tier streckte sich grollend neben seinen Herrn, und der Kanzler fuhr fort: »Wer sein Ohr auf den Boden drückt, der hört aus weiter Ferne die Rosse über die Heide traben, wer auf den Zug der Wolken sieht, der kann Sturm und Wetter voraussagen, und wer ein scharfes Auge hat, der sieht auf der Stirne eines Kranken die Schatten des Todes im voraus. Und da drüben, Herr König, da drüben liegt ein Kranker und zieht nur mühsam noch Atem. Ihr wißt's, wen ich meine, das römische Reich ist's, das sich zum Sterben streckt – –.«

Langsam glitt der Zwerg vom Fenstersimse, schlich unhörbar durch den Saal, trat hinter den Teppich, öffnete die Türe, trat aber nicht hinaus, sondern blieb lauschend stehen, warf die Türe ins Schloß und glitt ungesehen zwischen Wand und Teppich bis zu dem großen Kamine.

Knurrend erhob sich der Hund. König Ottokar legte die Hand auf seinen Kopf und drückte ihn zu Boden. Gleich einer Katze aber kletterte der Zwerg am Saume des schweren Teppichs empor, hoch empor bis an den Sims des Kamins, schwang sich hinüber, setzte sich behaglich, ließ die Beinchen hängen und lachte in sich hinein.

»Gar alt ist der Kampf zwischen uns und dem Reiche da drüben,« sagte der Kanzler, »und könnte man all das Blut zusammenfassen, das in diesem Kampfe vergossen worden ist, die Moldau träte über ihre Ufer. Haben sie Zwietracht bei uns gesehen, gleich sind sie zwischen den Hadernden mitten drinnen gestanden und haben den Raub geholt; haben sie Knechte gebraucht, so haben sie uns geknechtet, und zuletzt haben sie uns im eigenen Lande von Haus und Hof gedrängt und haben sich in unser Erbe gesetzt. Fluch ihnen!«

»Vetter,« rief der Zwerg und strampelte mit den Beinchen, »Vetter, das Erbe – –«

»Fluch!« sagte der Kanzler mit erhobener Stimme.

Aber noch lauter schrie der Zwerg: »Das Erbe war so verlaust, daß die deutschen Bauern allesamt Märtyrer geworden sind, klaglose.«

»Fluch ihnen!« fuhr der Kanzler fort. »Aber ich sage Euch, Herr König, die Zeit ist erfüllt, die Wolken künden's dem, der ihre Zeichen versteht, der Sturm kommt – der Zahltag, so nennt's wohl der deutsche Krämer drunten in der Stadt. Laßt Euch nimmer verführen vom Olmützer; denn er gehört zu unsern Feinden, mag er sich noch so freundlich stellen! – Er nutzt Euch nichts, Herr König. Kann der Bischof von Olmütz mit seinem Krummstabe in die Wolken stoßen? – – Er kann's nicht – und also kann er auch dem Sturme nicht Einhalt tun. – – Der Sturm kommt, und der Tag der Rache kommt, Herr König, und wohl dem, der dann gerüstet ist! – Rache, Herr König! Wißt Ihr noch, was Euch geschehen ist? Ich erinnere nicht gerne daran – aber ich muß. Der Tag der Rache soll ja kommen, der Rachetag für den Tag im Wintermonat vor zwei Jahren – der Zorn will mich ersticken –«

»So ersticke doch!« rief der Zwerg.

»Ich sehe den erhabenen König knieen vor dem Gräflein aus dem Reiche, und der Bettelmann gibt in Gnaden dem Urenkel der Libuscha sein böhmisches Erbe und nimmt ihm alles andere,« vollendete der Kanzler flüsternd seine Rede.

Regungslos saß König Ottokar, und seine Rechte lag auf seinen Augen.

Abermals begann der Kanzler: »Und für diesen Fußfall werdet Ihr dem Gräflein Euern Fuß auf den Nacken stellen. Schauet hinaus in die Welt, ich will Euch die Zeichen künden, Herr König! Ist mir's doch, als stünde ich auf einem hohen Turme und ließe meine Augen schweifen von Rom bis ans Nordmeer, von Frankreich bis nach Ungarn. Rom und der römische König, saget an, gehören die beiden nicht zusammen wie Klinge und Griff? Über ein kleines, und es liegt ein Abgrund zwischen dem römischen Könige und dem heiligen Vater. Ich habe Briefe von Rom gelesen, die künden mir's; hier lege ich sie auf den Tisch, leset sie, Herr König! – – – Und die drei Bischöfe am Rheine? Das Kindlein, das sie geschaffen, wächst heran, Herr König, und wird frech, und die Alten tragen Sorge, es möchte ihnen über den Kopf wachsen; darum setzen sie sich auf ihre Geldtruhen und machen mürrische Gesichter. In Mainz, in Trier und in Köln hat der Mann mit dem zerrissenen Wamse so viele Feinde als in Österreich und Böhmen – und drüben über den Wäldern, in Sachsen, in Braunschweig, da kümmern sie sich nicht mehr und nicht weniger um König Rudolf als um Euern Hund.«

Immer rascher sprach der Kanzler.

»Und wer bleibt ihm dann noch übrig, dem Königlein? Der Pfalzgraf und der Herzog von Bayern? Die beiden Brüder sind noch niemals so einig gewesen wie jetzt und Herrn Rudolf noch niemals so wenig geneigt wie jetzt. Das macht: der Wolf und die Füchse gingen gemeinschaftlich zum Jagen und erschnappten einen fetten Bissen – Österreich, Steier und die übrigen Länder. Da wollten die Füchse auch ihren Teil, aber der Wolf knurrte sie an und gab den Raub seinen Kindern. – Glaubt Ihr, das können die Füchse dem Wolfe vergessen? Niemals, Herr König, niemals, sage ich! – – – So steht der römische König da, verlassen, arm, gehaßt, und wird bald wieder als zerlumptes Gräflein gen Habsburg reiten. Euer Name aber wird aufs neue den Erdkreis erfüllen. – – Herr Rudolf ist umstellt von allen Seiten. Sie nennen Euch den goldenen König draußen im Reiche, und in Ungarn nennen sie Euch den eisernen König. Wagenweise habt Ihr Gold und Silber hinausgeschickt über die Waldberge, und an allen Höfen raunen sie von Euern Schätzen und von Eurer fürstlichen Milde und kriechen herzu aus allen Winkeln wie die Schlangen zum Feuer; gemächlich können wir Herrn Rudolfs Feinde zählen – und ihrer sind viele! Jetzt tretet hervor als der eiserne König – Gold und Eisen, die beiden regieren die Erde, und unbezwinglich ist der Mann, der über Gold und Eisen verfügt!«

»Vetter,« rief der Narr von seinem sichern Sitze, »Vetter, handle doch wie dein Ahnherr Sobieslaw, setze einen Preis von hundert Goldstücken aus – weißt du, wofür?«

»Gegen Ungarn rüsten wir –,« fuhr der Kanzler fort.

Aber der Zwerg schrie: »Weißt du, wofür? Wer dir einen Schild voll deutscher Nasen bringt, dem zahle sie!«

»Gegen Ungarn rüsten wir – begann der Kanzler aufs neue, und wieder schrie der Narr: »Vetter, wenn dann der Schild vor dir liegt, so schneide deine eigene Staufen-Nase ab, die du von deiner staufischen Frau Mutter her im Gesichte trägst –«

»Gegen Ungarn –,« begann der Kanzler.

»Und wirf sie oben auf die andern!« vollendete der Zwerg.

»Gegen Ungarn rüsten wir, Herrn Rudolf meinen wir. Über Wälder und Ströme fliegen unsere Briefe – Bayern, Regensburg, Meißen, Thüringen, alle haben sich mit uns gegen die Ungarn verbunden, und alle meinen sie den römischen König. Und die polnischen Fürsten gedenken der nahen Verwandtschaft mit uns, sie wissen, daß König Rudolf alle östlichen Länder unter seine Herrschaft bringen will, und ihr Land stinkt schon ohnedies von den deutschen Bauern, die gleich einem Strome darüber gekommen sind und sich spreiten in Frechheit, und deshalb lassen auch die polnischen Fürsten ihre Mannen reiten. – So stehen die Sachen – ein Wort von Euch, und es erhebt sich in Österreich ein Feuer bis an den Himmel – – Herr König!«

»Und verbrennt dich, Vetter, und Böhmen!« schrie der Kleine vom Borde des Kamins.

»Und wir, Herr König,« fuhr der Slave fort, »wir reiten heran mit unsern Freunden und werfen Scheit auf Scheit hinein, bis daß der römische König verbrennt mitsamt seiner Brut. – Herr König, wollt Ihr morgen die Brandenburger empfangen?«

»So sei es!« sagte Herr Ottokar müde, erhob sich aus seinem Stuhle und trat ins Fenster. Gedankenvoll schaute er auf die Stadt zu seinen Füßen. Dann sagte er langsam: »Und was wären wir ohne die Deutschen?«

»Glücklich, sagen die einen, roh und unwissend, sagen die andern,« fiel der Kanzler ein. »Ich aber denke, jetzt können wir beides sein ohne sie, wissend und glücklich – denn ich habe noch nie gehört, daß sich ein Mensch das ganze Leben lang ans Kleid seines Lehrers hängt.« – –

Auf die Türme der Stadt warf die untergehende Sonne ihre letzten Strahlen, Glockengeläute erhob sich ringsumher. Nahe dem Fenster stand der Kanzler, und sein bleiches Antlitz rötete sich im rosigen Widerscheine leuchtender Wolken. Er beugte das Knie, als wollte er seinem Herrn huldigen, und sagte: »Nach allen Enden des Himmels laufen unsere Fäden über die Länder, in der Mitte sitzen wir und haben die Macht. Vertrauet uns, Herr König, Euern Getreuesten! Durch Gold und Eisen seid Ihr ein großmächtiger Herr; aber edler als Gold und stärker als Eisen ist die Treue Eures Volkes.«

»Vetter,« rief der Narr, »Vetter, ich habe einmal ein großes Netz gesehen, und in seiner Mitte saß eine schwarze Spinne, die hatte alle Fäden gesponnen. Da kam ein Knabe und stach in das Netz, und siehe, die Spinne zog einen Faden aus ihrem Leibe, ließ sich eilig herab auf die Erde und verschwand in Heimlichkeit. Verlaß dich nicht auf diese Spinne!«

»Und höret nicht auf deutsche Narren, die Wasser im Kopfe haben!« sagte der Kanzler und erhob sich, verneigte sich tief und schritt rückwärts der Tür zu. Der rosige Schimmer war von seinen Zügen verschwunden, hinter einem bleichen, kalten Antlitze schloß sich der Teppich.

* * *

Die Dämmerung legte sich in das Gemach. Noch immer stand Herr Ottokar im Fenster und starrte hinaus.

»Vetter!« rief der Narr von seinem Sitze. »Vetter!« rief er zum zweitenmal.

»Bist du noch da?« fragte der König.

»Vetter,« bat der Kleine, »halte doch deinen Wolf, damit er mir nichts zuleide tue! – Darf ich kommen?«

»Komm!« sagte Herr Ottokar, ließ sich wieder in den Stuhl sinken und legte die Rechte auf das Haupt des Tieres.

Behende kletterte der Zwerg von seinem Sitze, glitt durch den Saal, kniete an der Seite seines Herrn nieder und bedeckte dessen Linke mit Küssen. »O Herr, Herr, Pipping hat Angst, Pipping hat große Angst!« schluchzte er. »Euer Wolf, Herr, und Pipping, es sind die einzigen, die's noch treu mit Euch meinen, und sogar die zwei trauen einander nicht. O Herr, trauet auch Ihr Eurem Kanzler nicht! Der hat eine lebendige Zunge – aber schauet näher hin, und Ihr werdet sehen, daß sie gespalten ist. Herr, laßt Euch nicht einspinnen! Pipping hat Angst, heiße Angst, Herr, nicht für sich selber, sondern für Euch. Ihr seid groß, Pipping ist klein. Wenn die Not kommt, dann schlüpft Pipping in ein Mausloch, und Euch erwürgt die Not, weil Ihr nicht ins Mausloch kriechen könnt. O Herr, o Herr, Pipping hat Angst, daß er an allen Gliedern zittert!«


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