Friedrich von Sontheim
Geschichte der Liebe
Friedrich von Sontheim

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Die Reformation war nach ihrer ganzen Anlage und Entstehung der große Entscheidungsmoment, welcher jeder freieren Richtung die Bahn zu gemeinsamer Entfaltung eröffnen, welche die Jahrhunderte lang in beständigem Ringen mit dem Geiste der alten Zeit begriffenen und endlich zu siegreicher Selbstständigkeit gelangten Elemente eines neuen Bewußtseins zu eigenthümlichem Leben vereinigen, zu geschichtlich anerkannter Geltung bringen sollte. Allein sie schlug, wie wir gesehen haben und wie sich an unserem Gegenstande gerade mit besonderer Deutlichkeit nachweisen läßt, in eine die begonnene Entwickelung um Jahrhunderte zurückwerfende Reaktion über, ganz analog dem mit dem ersten Auftreten des Christenthums zur einseitigen Uebergewalt gelangten abstrakten Spiritualismus. Wie aber jede Reaktion den Stachel des neuen Fortschritts in sich trägt, so auch das lange in seiner natürlichen Entwickelung zurückgehaltene Princip des Protestantismus; und wie die der Reaktion folgende neue Bewegung alles Alte in sich zusammenfaßt, es aber in rascherer Bewegung, in kürzeren Kreisen sich zur neuen Krisis abwickeln läßt, so sehen wir mit dem Wiederaufleben des freieren protestantischen Geistes im achtzehnten Jahrhundert die ganze frühere Entwickelung, nur in viel bewußterem und daher auch anschaulicherem und interessanterem Verlauf, gleichsam wie einen Mikrokosmus der Weltgeschichte an uns vorübergehen.

Die letzten Schilderungen betrafen Erscheinungen, in welchen sich der mit der Reformation zurückgebrachte einseitige Spiritualismus am schroffesten ausprägt; es ist aber schon bemerkt worden, daß es so nicht überall sein konnte, daß das Leben selbst mit seiner gesunden Natürlichkeit diesen Abstraktionen sich jetzt ebenso widersetzte, wie in jenen früheren Zeiten. Wie gestaltete sich nur das Leben da, wo das endliche Dasein und die idealen Forderungen ihre Spitzen gegenseitig an einander abstumpften? Hier begegnet uns jenes prosaisch-nüchterne, beschränkt-gemüthliche Philisterleben, wie es Jahrhunderte hindurch die breiteste Basis der allgemeinen Zustände war und es zu sein auch jetzt noch nicht aufgehört hat. Die spiritualistisch-religiöse Moral, welche grundsätzlich jede Aeußerung der Sinnlichkeit niederhalten sollte, fand es, auf diese Unmöglichkeit verzichtend, gerathener, dieselbe in einen bestimmten Kreis einzuschließen und innerhalb desselben ihr den nothdürftigen Spielraum zu lassen. Während sie früher mit der Wirklichkeit sich aussöhnte durch Aufbauung jenes wunderbaren, halb sinnlichen und halb geistigen Reichs, in welchem Himmel und Erde die mystisch-romantische Ehe mit einander schlossen, um die Früchte beider als gemeinsame Mitgift mit gleichem Rechte genießen zu können, gingen beide jetzt den zwar mehr äußerlichen, aber um so solideren und stichhaltigeren Vertrag mit einander ein, daß der Idealismus der Religion sich herbeiließ, die irdischen Interessen des gemeinen bürgerlichen Lebens zu hüten und vor jedem Eingriff, namentlich auch von der idealen Seite her, vor jeder weltlichen Extravaganz zu bewahren, das bürgerliche Leben aber zum Dienst für diesen Schutz seiner behaglichen Ruhe sich verpflichtete, keine andere ideale Macht anzuerkennen, sondern in allen Dingen von der Religion und Moral den Erlaubnisschein zu holen und nichts ohne ihre Bewilligung zu thun.

Dieß war die Lebensstellung, von welcher die Entwicklung der neueren Zeit ausging, von deren Boden aus sie unternahm, nach den verschiedensten Seiten hin sich freie Bahn zu brechen. Daß die Liebe und ihre poetische Darstellung hiebei die erste Stelle einnehmen, läßt sich wohl begreifen, denn sie war unter allen höheren Lebensäußerungen die unmittelbarste, an ihr konnten Alle Theil nehmen, um durch ihren Idealismus sich über die gemeine Wirklichkeit, in die sie gebannt waren, hinauszuschwingen, während Wissenschaft, Kunst und die übrigen Gebiete des Geistes für die Meisten verschlossen und unzugänglich waren. Auf welche Weise das Princip des Protestantismus in Kritik und Philosophie zu neuem Leben ausschlug, das näher darzustellen ist hier nicht unsere Sache; genug, ein höherer idealer Drang war nachgerade überall erwacht, er konnte sich aber nirgends in die Wirklichkeit hineinleben; was Wunder daher, daß er mit einer so gierigen Hast auf das allein offen stehende Feld der Liebe sich warf, daß er auf ihren Auen in seliger Unbekümmertheit sich zu ergehen suchte, daß auf die Liebe nun Alles bezogen wurde, daß die ganze Poesie und Literatur nicht mehr ohne sie sein konnte, von ihr der wiedergefundenen oder eigentlich jetzt erst entdeckten allein lebte?

Das allein freie Gebiet nannten wir die Liebe; allein war sie denn dieß? war ihr nicht vielmehr gerade jede freie und ihrem natürlichen Wesen entsprechende Bewegung verboten, war sie nicht dazu verdammt, bei dem trockenen Brod der Häuslichkeit sich zu kasteien, sie, die ihren himmlischen Leib nur mit Nektar und Ambrosia nähren will? Ihre heimlichen Freuden, ihre verstohlenen Genüsse freilich konnte ihr keine Moral wehren, und ohne Zweifel haben Tausende in praxi das Gesetz zu umgehen gewußt, das sie theoretisch noch nicht anzugreifen wagten; aber die Liebe fordert nicht blos den heimlichen Genuß, nicht einmal den Genuß als solchen und als letzten Zweck, sondern sie will auch anerkannt sein als die Götter und Menschen bezwingende Macht, sie will ihre Dithyramben, ihre Siegeshymne singen und das ganze niedrigere Leben zu ihren Füßen sehen als das gemeine, das nur von ihr geadelt und über seine engen Schranken hinausgehoben werden kann. Wie brachte es nun die Liebe zu dieser selbstständig geltenden, Alles beherrschenden Stellung? Zwei Wege standen ihr auch jetzt, wie immer offen: entweder sie stellte sich mit dem Spiritualismus auf gleichen Boden und suchte ihn zu überbieten, sie schwang sich in eine geistige Höhe, wohin ihr die Moral mit ihrem lahmen Flügelschlag nicht folgen konnte, von der aus sie die ordinäre Sittlichkeit weit unter sich hatte und auf alle unnatürlichen, erzwungenen Konvenienzen des Lebens stolz herabsehen konnte; oder sie trug auf eine förmliche Scheidung an, erklärte die Religion und ihre Moral für eine unnatürliche Abstraktion, die das Leben nur verzerre und durch Unterdrückung der schönsten Regungen innerlich vergifte, sie sprach unverholen aus, daß sie des gegenwärtigen Reichs der Schönheit und Sinnlichkeit sich bemächtigen wolle und im Genusse desselben nach ihren eigenen Gesetzen sich selbst genug sei.

Man pflegt sich aber immer noch im letzten Augenblick zu besinnen, ehe man die Scheide wegwirft und den Rubikon überschreitet und so ging auch hier der Entscheidung ein Interregnum voran, während dessen Liebe und Moral ihre Kräfte gegen einander versuchten, sich wechselseitig neckten und halb im Krieg, halb in einem faulen Frieden lebten. Die Sinnlichkeit erkannte die tugendhafte Moral wohl an, sie verwahrte sich auf's Angelegentlichste bei jeder Gelegenheit dagegen, ihr Gesetz untergraben zu wollen; auf der andern Seite aber stellte sie ihre eigenen Genüsse so schön und reizend dar, daß ihr Niemand werde verargen können, wenn sie mit süßer Schwäche dem unwiderstehlichen Reiz nachgebe; das Unterliegen war so schön, es war so unvermeidlich, daß man es kaum eine Sünde nennen konnte.

Himmlisch war's, wenn ich bezwang
Meine sündige Begier,
Aber, wenn mir's nicht gelang,
Hatt' ich doch Plaisir.

Diese Lüsternheit, die so gerne thun möchte, was sie nach ihrem eigenen Geständniß nicht thun darf, hat Niemand mannigfaltiger und mit lebhafterem Kolorit ausgemalt als Wieland, den man den Nachahmer und Verpflanzer der französischen Literatur auf deutschen Boden zu nennen pflegt, weil dieses Verhalten sich bei dem gewandten, praktischen Volk viel früher eingebürgert und in seine Poesie den zierlichsten, bestechendsten Ausdruck gefunden hatte. Er sattelt der Phantasie ihr Flügelpferd »zum Ritt in das alte romantische Land,« ruft ihr aber dabei warnend zu: »doch daß nach der süßen, verbotenen Frucht euch nicht vor der Zeit gelüste.« Allein sie genießen eben doch, und für sie ist der Genuß nun recht eigentlich eine Sünde; sie sündigen und hören alle Donner des Himmels auf ihr schuldiges Haupt hernieder schmettern. So arg ist es aber nicht; sie haben ja nur gethan, was zwar nicht sein darf, was aber auch nicht anders sein kann, was sie nicht lassen konnten; deßwegen verzieht das Ungewitter, sie laufen in den Hafen ein und dürfen nun in aller Ruhe und mit bestem Appetit dieselben Früchte verzehren, an denen sie »vor der Zeit« mit so viel Bangigkeit und Herzklopfen genascht hatten. Tausendfach ist dieser Kampf der Sinne gegen ein verhaßtes, ihnen fremdes Gebiet bald feiner, bald plumper nachgesungen und nachgeleiert worden. Es war dieß die Form der Liebe, welche so recht in der Vorstellung und dem ganzen inneren Zustand der Menge begründet war. Tausende haben ihr Feuer mit Langbein's Schwänken geschürt oder, noch besser, ihre lüsterne Sehnsucht mit den Figuren der Clauren'schen Romane erfüllt, welche Lüsternheit mit platter Sentimentalität zu einem noch widrigeren Gemisch zusammen quirlen. Man sieht, wie weit sich solche Richtungen, besonders wenn sie so mundgerecht waren wie diese, auch in eine bereits an höhere Kost gewohnte Zeit hinein erstreckten; es versteht sich überhaupt von selbst, daß im Leben und auch in der Kunst die einzelnen Elemente selten in ihrer ganzen Reinheit sich geltend machten, sondern in den verschiedensten Verbindungen in einander hereinspielten. Hier aber gilt es, dieselben in ihrer Besonderung zu begreifen und dieß soll nun zuerst mit der einen Seite, mit der Empfindsamkeit oder Sentimentalität geschehen, welche als der moderne Ausdruck des alten spiritualistischen Princips zu betrachten ist.

In der unentschiedenen Spannung gegen die Moral konnte Liebe und Sinnlichkeit auf die Länge unmöglich verharren. Wo die Liebe als selbstständiger, über die unmittelbare Natürlichkeit erhabener Trieb vorhanden ist, da ist es ihr ja, wie schon bemerkt, keineswegs um die Vollziehung des geschlechtlichen Verhältnisses als solche zu thun, worin sie vielmehr sich bald selbst auflösen und zerstören würde. Nur in der idealen Spannung hat sie ihr Dasein, in dem romantischen Schwung, welcher die Liebe als das höchste Gefühl über alle Prosa des Lebens hinaushebt, sie nicht als relatives Moment den übrigen Lebensbeziehungen eingefügt wissen will, sondern ihre Ungültigkeit verlangt und Alles, was sich nicht unmittelbar auf sie bezieht, für geistlos und gemein ansieht. Ein eigenes ideales Reich hat sich also wieder die Liebe geschaffen, nicht zwar – wie in der mittelalterlichen Minne – einen jenseitigen Himmel, aber einen noch viel unbestimmteren und unerreichbareren, den der bloßen Innerlichkeit und ihrer Bewegung nur in sich selbst. Ach hier will sie in ihrem seligen Schweben nur die zartesten Spitzen und Blüthen des irdischen Daseins berühren, den feinsten Duft davon abstreifen, nicht aber auf dem Boden desselben sich auch wirklich häuslich niederlassen. Wo sich diese Liebe zeigt, da handelt es sich also nicht um ihre Einbildung in das Leben; die Ehe ist ihr Tod und alle Schilderungen des Liebesverhältnisses beschäftigen sich nicht mit einer durch das romantische Gefühl idealisirten Gestaltung des ganzen Lebens, sondern sie drücken nur die »schwebende Pein« der Sehnsucht aus, welche ihren Gegenstand stets in unerreichbarer Ferne haben will und doch auch von ihm nicht lassen kann, ohne ihn gar nicht leben zu können erklärt. Ihr Ende kann daher immer nur Selbstvernichtung sein; erreicht sie ihr Object, so hört die Spannung auf und sie stirbt in der Ruhe des Besitzes, von der nur eingebildeten Höhe ihres nebeligen Gefühls stürzt sie in eine um so dumpfere Tiefe der banalsten Philisterhaftigkeit herunter, je weniger sie das wirkliche Leben mit seinen concreten Zwecken bisher hatte kennen lernen. Dieß war der im Leben ohne Zweifel am häufigsten vorkommende Fall, das, was sogar mehr oder weniger Jedem begegnen muß, der in der Liebe mehr als ein äußeres Zweckmäßigkeitsverhältniß sucht. Erreicht sie aber ihren einzigen Gegenstand nicht, so ist es wo möglich noch schlimmer; sie muß entweder den Schmerz der Entsagung ewig mit sich herumtragen und in demselben sich selbst verzehren, oder sie muß mit einem heroischen Entschluß die Fesseln dieses Daseins auf einmal von sich abwerfen und den Sprung in die endlose Ferne wagen. Die letztere Wahl wird Jedermann an Goethe's Werther erinnern, in welchem diese ganze Richtung ihren letzten, vollendetsten Ausdruck gefunden hat. Der Goethe'sche Werther ist darum so bedeutend vor allen seinen Unglücksgenossen, weil er uns die ganze Lebensstellung dieser Liebe zu der inneren und äußeren Welt auf's Lebhafteste veranschaulicht. Praktisch ist Werther mit der ganzen Welt zerfallen; überall sieht er sich von der Welt, in die er mit seinem ezcentrischen Wesen nirgends eingehen kann, zurückgestoßen, im metaphysischen Sinn aber ist ihm das ganze Universum nichts als ein wiederkäuendes Ungeheuer; einem solchen Menschen bleibt nun nichts übrig als den letzten Trumpf auf einen geliebten Gegenstand zu setzen, dessen Besitz ihn mit Allem aussöhnen soll; fällt ihm auch dieses, so muß er nothwendig und rettungslos zu Grunde gehen. Daß Goethe durch die Objectivität seiner Darstellung sich selbst von aller Sentimentalität emancipirte, deren zeitbeherrschendem Einfluß auch seine gesunde sinnliche Natur sich nicht ganz hatte entziehen können, ist bekannt. Nicht ebenso aber waren die meisten Andern in dem glücklichen Fall, eine überwundene einseitige Richtung in den allgemeinen Fluß einer großartigen geistigen Bewegung aufzunehmen, die Sentimentalität ließ sich nicht durch einen Pistolenschuß das Licht ausblasen, vielmehr hat sie ihre Macht fort und fort siegreich bewährt und unter den lyrischen, dramatischen und epischen Darstellungen der Liebe sind bis auf den heutigen Tag manche, die nicht im Wesentlichen dieser Richtung huldigten. Statt des vergeblichen Versuchs, auch nur die ausgezeichnetsten dieser Gattung aufzuzählen, wollen wir hier blos die Bemerkung machen, daß selbst in der Blüthezeit der Sentimentalität, als ihre Herrschaft über die Gemüther noch durch keine anderweitig hereinspielenden Reflexionen gebrochen war, bereits jenes ironische selbstvernichtende Bewußtsein sich einschlich, daß es mit dieser Empfindsamkeit doch kein rechter Ernst sein könne, daß sie nur ein willkürliches Erregungsmittel und Spielzeug der Empfindung sei. Am interessantesten drückt sich dieß bei dem geistreichsten und feinsten aller Sentimentalisten, bei Sterne, aus. Ehe wir aber weiter zusehen, wie sich nicht nur die Empfindsamkeit auflöste, sondern jede Wahrheit des Gefühls überhaupt einer geistreichen Coquetterie Platz machte, müssen wir uns der andern Seite zuwenden, welche sich neben der Sentimentalität und im Gegensatz gegen sie ebenso wie gegen die Halbheit der Lüsternheit ausbildete, der natürlich freien, idealisch schönen Sinnlichkeit.

Wie die sinnliche Lüsternheit in ihrer feinen literarischen Gestalt wesentlich ein französisches Produkt zu nennen ist, so stammte die Sentimentalität in ihrer specifisch poetischen Form hauptsächlich aus England, aus dem schwermüthigen Norden, dem Vaterlande Ossian's und Hamlet's. Merkwürdig, daß auch die dritte Hauptgattung des erotischen Gefühls eine exotische Pflanze ist, die nur künstlich auf deutschen Boden verpflanzt wurde und auf demselben immer ein exclusives, vornehm-einsames Leben führte. Die ganze Bildung seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war eine weltlich freie geworden; nicht in einem jenseitigen Gebot, sondern in der Darstellung des eigenen menschlichen Innern, in der leidenschaftlichen Gemüthsbewegung wie in der objektiven Kunst und Philosophie fand man das Göttliche. Ein jener finsteren protestantischen Weltanschauung ganz entgegengesetzter Geist machte sich also überall geltend und fing an, Poesie und Leben zu durchdringen. Auch die spiritualistische Empfindsamkeit kannte ja kein anderes Gesetz als die eigene Bewegung ihres inneren Gefühls; sie stand aber mit ihrer Entfremdung von dem natürlichen Leben, mit ihrer ewigen Resignation dem alten Geiste doch immer noch ungleich näher. Nun aber sollte nicht die christliche Entsagung, sondern die griechische Schönheit als das Gesetz des Lebens gelten; nicht Empfindung und Leidenschaft allein waren die großen Stichwörter, sondern nach Natur ging der allgemeine Ruf, sie allein sollte den Durst stillen, von welchem das ganze Zeitalter sich ergriffen fühlte. Im staatlichen und gesellschaftlichen Leben aber fand man, wie früher schon gesagt werden mußte, diese Natur eben immer nicht, überall sah man sich von verkrüppelter und verschnörkelter Unnatur umgeben und nicht von idealen Gestalten. Daher blieb dem Subjekt nur die Aufgabe, in sich selbst das Schön-Menschliche auszubilden, die schöne Subjektivität, welche in die Welt einzugehen und in ihr sich darzustellen weiß. Da aber hiezu in der Nähe alle Mittel fehlten, so mußte man sein Ideal und die Mittel seiner Erreichung in der Ferne suchen, eben in der griechischen Welt, welche nun mit ihren mythologischen, heroischen und menschlichen Gestalten das allgemeine Bildungselement der Zeit wurde. Hiemit war nun Leidenschaft und Sinnlichkeit ebenso in das Leben eingeführt, wie demselben entfremdet, die Liebe war eine freie geworden, zugleich aber auch eine einseitig ideelle, aristokratisch-exclusive, eine bloße Kunstform ohne das Leben und die Bewegung der Wirklichkeit. Wenn im Mittelalter die Liebe zwischen Himmel und Erde getheilt war, überall nur halb heimisch, so hatte sie jetzt zwar eine rein irdische Heimath, aber nicht hier, nicht im kalten Norden, nicht in Deutschland, sondern in Griechenland und Italien; immerhin viel näher und eher erreichbar, aber auch immer noch bei aller Sinnlichkeit ideell und jenseitig. Wenn der Minnesänger in der Jungfrau die Hochheilige verehrte, so betete der Kunstjünger in dem Weibe die griechische Göttin an, er umfaßte sie mit seiner Sinnlichkeit nur, um an ihren warmen Gliedern den fleischgewordenen Marmor zu fühlen.

Und belehr' ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens
Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab?
Dann versteh' ich den Marmor erst recht; ich denk' und vergleiche,
Sehe mit fühlendem Aug', fühle mit sehender Hand.

Nicht das Weib, sondern die Römerin ist die Hauptsache;

Und der Barbare beherrscht Römischen Busen und Leib.

Der vornehmste unter diesen Griechen war gerade Goethe, der zuletzt alles Leben in Stein zu verwandeln, alle Existenzen als glatte und kalte Statuen aufzustellen wußte. In ihm wird die klassische Ruhe bereits zu einem Egoismus, welcher, wie namentlich in Wilhelm Meister, an den Frauen nur herumexperimentirt, sie höchstens als den Diamantenstaub gelten lassen will, mit welchem der Brillant jener ausbündigen männlichen Bildung geschliffen werden soll.

Allerdings hatte die griechische Kunstbegeisterung auch noch eine andere entgegengesetzte Seite, die der Bewegung und lebendigsten Tapferkeit. Sie wild am kräftigsten vertreten durch Heinse. Er ist kein Aristokrat des Hellenenthums, sondern ein glühender griechischer Republikaner; nicht in olympischer Ruhe sitzt er da, um mit göttlicher Ruhe auf die Bestrebungen und Kämpfe des Lebens herabzusehen, sondern ein kräftiger Athlet will er selbst muthig kämpfend dem Dasein den Preis abringen. Aber wohin gelangt auch er endlich mit seiner griechischen Sinnlichkeit? Auch ihm sind im Ardinghello alle die schönen Weiber nach einander nichts Anderes als Gegenstände des enthusiastischen Genusses gleich ebenso vielen schönen Statuen. Der ganze Roman verläuft ohne eigentliche Handlung in lauter Kunst-Betrachtung und Reflexion und schließt damit, daß die glücklichen Inseln Paros und Nazos von der schönsten Jugend Italiens bevölkert werden, welche Weibergemeinschaft einführt und in kühnem Piratenkrieg die Türken aus jenem Heiligthum der Natur verjagen will, um dasselbe wieder zum Sitz des schönen Menschenthums zu machen. Eine nicht zu übersehende Lösung der orientalischen Frage, aber nicht ebenso glückliche des Problems der Liebe. Auch von dieser Seite, wie von jener classisch-aristokratischen, läuft die Sinnlichkeit in ein einseitig ästhetisches Raffinement aus; sie bleibt bei aller Schönheit der Form eine ungeistige und todte.

Dem Leben weit näher kam von einer Seite die Verbindung des griechischen Schönheitsideals mit germanischer Gefühlsschwärmerei und Sentimentalität, wie wir dieselbe so vielfach bei Schiller finden, als deren bedeutendsten Repräsentanten aber wir Hölderlin zu betrachten haben. Allein während diese Form allerdings an der Schönheit nicht wie an einer Statue vorübergehen, sondern sie mit dem Pygmalionshauch des tiefsten leidenschaftlichsten Sentiments beleben und sich mit ihr auf ewig verbinden, ja in ihr bis zum Aufgeben des eigenen Daseins versinken möchte, entfremdet sie sich andererseits dem Leben nur um so mehr, weil sie ihre Ideale in dem Leben ewig nicht einbürgern kann und über dem vergeblichen Streben auch den nächstliegenden Genuß der Schönheit und Sinnlichkeit versäumt. Dieß war das Schicksal des unglücklichen Hölderlin. Sein Hyperion ist nicht ein jede Schönheit im geistig-sinnlichen Ringkampf sich unterwerfender Ardinghello, sondern ein griechischer Werther, der in leidenschaftlicher Ueberschwenglichkeit die ganze geistlose Welt mit dem Hauche des Hellenenthums, mit dem Geist der schönen Menschheit neubeleben möchte, und dem die Versenkung in Diotimas schöne Seele nur die Einzelndarstellung der allgemeinen großen Leidenschaft seines Herzens für die Menschheit ist. Ueber dem vergeblichen Kampfe, Griechenland zu befreien und die Welt zu vergeistigen, verliert Hyperion seine Diotima und mit ihrem Verlust geht auch seine letzte Hoffnung für die Menschheit unter. So zieht ein Ideal immer auch das andere in den Abgrund; der Held endet in verzweifelnder Resignation, der Dichter in traurigem Wahnsinn.

Die Sentimentalität und die schöne Sinnlichkeit sind die beiden Hauptelemente in allen Erscheinungsformen der modernen Liebe, sie sind die beiden Faktoren der Liebe überhaupt. Das Schöne ist das Geistig-Sinnliche und die Liebe, welche das Schöne in seiner geistigen Form realisiren will, kann kein anderes Streben haben, als Geistiges und Sinnliches gegen einander in Fluß zu bringen, bis aus der Mischung der beiden herrlichen Urkräfte der Silberblick des Lebens aufsteigt. Es ist dieß das große alchymistische Räthsel, an dessen Lösung der menschliche Geist ewig arbeitet: »vom Himmel fordert er die schönsten Sterne und von der Erde jede höchste Lust.« Der Stein der Weisen ist aber immer noch nicht gefunden, theoretisch nicht und eben darum auch nicht praktisch. Ueberall, im Leben wie in der Philosophie, herrscht der eine Faktor vor, und so auch in der Liebe und allen ihren poetischen Darstellungen. Wo die Einseitigkeit des einen Moments vor dem Reichthum allseitiger Bildung und Schönheit der Form zurücktritt, erblicken wir den relativ höchsten Sättigungspunkt, den wir in der Literatur als Classicität bezeichnen, als das Ineinander der schönsten Form und des idealsten Inhalts. Unsere beiden großen Classiker sind uns in Allem und in der Darstellung des Liebesverhältnisses insbesondere die Repräsentanten dieser relativ höchsten Vereinigung, so zwar, daß bei dem einen das geistig-spiritualistische, bei dem andern das sinnlich-plastische Element entschieden vorherrscht, ohne jedoch den Zusammenhang mit der andern Seite allzu sehr zurückzudrängen. Schiller ist der große Idealist, dem es nicht gelingen will, sich an die lebenswarme Brust der Sinnlichkeit zu legen, der nur in weiter nebelgrauer Ferne das Ideal seiner Wünsche erblickt und in schöner Sehnsucht darnach strebt; die Gegenstände dieser idealistischen Schiller'schen Liebe haben ihre Namen zur Bezeichnung idealer Sehnsucht überhaupt hergegeben; wer denkt hiebei nicht an Laura, Thekla und Emma? Ebenso kennt aber auch jeder die unübertreffliche Darstellung der sinnlichen Leidenschaft mit ihrer unwiderstehlichen Gewalt, den Mortimer.

Was ist mir alles Leben gegen Dich
Und meine Liebe!
Eh' ich Dir entsage
Eh' nahe sich das Ende aller Tage
An dieser Brust,
Auf diesem liebeathmenden Munde –
Der ist ein Rasender, der nicht das Glück
Festhält in unauflöslicher Umarmung,
Wenn es ein Gott in seine Hand gegeben.
Ich will Dich retten, kost' es tausend Leben;
Ich rette Dich, ich will es, doch so wahr
Gott lebt! ich schwör's, ich will Dich auch besitzen.

Umgekehrt ist es bei Goethe die in ruhigem Besitz befriedigte oder mit ungebrochener Kraft nach ihrem Gegenstand strebende Sinnlichkeit, welche er mit Vorliebe und Meisterschaft darstellt, die naive Hingabe Klärchens, die verzehrende Gluth eines Franz in Götz von Berlichingen. Selbst eine unnatürlich-geisterhafte Sinnlichkeit findet bei ihm den unvergleichlichen Ausdruck in der Braut von Corinth:

Liebe schließet fester sie zusammen,
Thränen mischen sich in ihre Lust,
Gierig saugt sie seines Mundes Flammen,
Eins ist nur im Andern sich bewußt.

Ebenso weiß er aber auch bekanntlich die ideale Hoheit in den herrlichsten Gestalten zu verkörpern, wie in Tasso. So finden wir also in Goethe und Schiller die beiden Hauptseiten des menschlichen Geistes und die beiden Hauptformen der Liebe in einer unübertroffenen Meisterschaft dargestellt und im glücklichsten Gleichgewicht vereinigt.

Eine absolut höchste und vollendete Form aber gibt es nicht in dem unendlichen geistigen Proceß, daher das unausgesetzte Ringen nach einer neuen Offenbarung des Geistes, nach einer Form, in welche sich der unendliche Inhalt nach seinen verschiedensten Seiten vollständig hineinlegen lasse. Es ist jedoch leichter, etwas zu wissen und zu wollen, als ihm auch den klaren, durchsichtigen Ausdruck zu geben; nur innerlich werden wir davon bewegt, nur als subjectiver Drang ist es in uns, es als selbstständige, abgerundete Gestalt abzulösen und außer uns herauszustellen aber sind wir nicht im Stande. Vermöge unserer unendlichen Subjektivität sind wir über Alles Meister, und im Stand Alles, auch uns selbst in die gährende Masse zu werfen, in deren Aufwallen wir dann auch unser Ich als das allseitig durchdrungene und gesättigte genießen wollen. Diese unklare Mischung und Nahrung, die über alle objektiven Verhältnisse und Formen übergreifende geniale Subjektivität ist nun aber die Form, in der wir über die ruhige Classicität hinausschieben wollten, die Form des modernen Lebens überhaupt und wieder der Liebe als des unmittelbarsten nächstliegenden Ausdrucks unserer Subjektivität insbesondere. Bei der Genialität als einer besondern Geistesform denken wir in Beziehung auf Deutschland zunächst an die Romantik und Alles, was mit ihr zusammenhängt, an Heine, das junge Deutschland, bis auf die neueste Weiberemancipation. Wollen wir aber die unendliche, rücksichtslose Subjektivität, die in sich selbst die Berechtigung zu Allem findet, von ihrem ersten Anfang an verfolgen, so müssen wir weiter zurückgehen, auf Rousseau, der auch hierin der Chorführer der neuen Zeit ist, dessen Blut wir Alle in unseren Adern schäumen fühlen, die wir einen energischen, leidenschaftlichen Antheil an dem Leben nehmen.

Rousseau's Stellung zu den geschlechtlichen Verhältnissen pflegt über seiner politischen Seite zu sehr übersehen zu werden; die Liebe war aber das große Thema seines innern Lebens von seinen Knabenjahren an, bis er im 60sten Jahre seine Confessionen schrieb, mit grauem Haar, aber mit dem Feuer eines Jünglings, der nach dem ersten Genüsse lechzt. Was später zur Manier wurde, ist bei ihm noch in frischester Originalität und, wir möchten sagen, in rührender Naivität. Voll dichterischer Phantasie und glühendster Leidenschaft ist er ganz durchdrungen von einem Ideal der Schönheit und des Genusses, das er nirgends erreicht, er theilt das Loos aller geistreichen Idealisten, welchen die Männer der äußerlichen Routine überall vorgezogen werden, die sich am Ende mit einem kümmerlichen Genuß begnügen müssen, um in demselben wenigstens ein Substrat für ihre ideale Schwärmerei zu haben. Es ist kaum zu sagen, auf welche traurige Weise er sich selbst betrügt, um sich in eingebildetem Genuß der ganzen Schönheit des Geschlechts bemächtigen zu können. Dieser höchsten idealen Sehnsucht aber begegnet nun bei ihm in sonderbarer Vereinigung die gerade entgegengesetzte Ansicht von Liebe und Genuß. Von der Schützerin seiner Jugend, jener merkwürdigen Frau von Warrens, welche seine Erziehung damit glaubte beendigen zu müssen, daß sie selbst ihn in die Mysterien des Genusses einweihte, nicht im Taumel der Leidenschaft, sondern mit ruhiger, eigentlich pädagogischer Vorbereitung, hatte er diese naturalistische Theorie erhalten, daß die Sinnlichkeit das an sich Gleichgültige sei, das den erhabenen Schwung des Geistes keineswegs zu unterbrechen oder zu trüben vermöge, eine Theorie, bei welcher die Seele und eben deßwegen auch die Schwärmerei der Sinne leer ausgeht. Aus der Vereinigung beider widersprechenden Elemente, der unendlichen idealen Sehnsucht und der ganz natürlichen Sinnlichkeit, sind alle Widersprüche in seinem äußern Verhalten und in dem Leben aller mehr oder weniger nach seinem Vorbild gearteten modernen Männer zu erklären. Wir können keinen Zweifel in seine Versicherung setzen, daß ihm von jeher nichts mehr zuwider gewesen sei, als die Berührung mit den bloßen Objekten des sinnlichen Genusses, daß er stets getrachtet habe nach dem Umgang mit der edelsten, gebildetsten Weiblichkeit. Gleichwohl bringt er es äußerlich nie zu etwas Höherem als zu Freudenmädchen, zu Scenen, deren Schilderung in seinen Confessionen Vielen zu so großem Anstoß gereicht. Der arme Jean Jacques, einer Therese Levasseur muß er sich an den Hals werfen; von der glänzenden, geistreichen, liebenswürdigen Frau von Houdetot dagegen, welche er allein geliebt zu haben bekennt, in der er die allseitige Verkörperung seines Ideals gefunden hätte, wußte er nichts zu erlangen, als das Geständniß, daß es keinen Mann von hinreißenderem Gefühl geben könne und daß er des höchsten Preises der Liebe würdig wäre, wenn – –. Den Widerspruch, in den er dadurch mit sich selbst kam, daß er nach dem Höchsten verlangte und sich zugleich an das Niedrigste wegwarf, konnte sich natürlich Rousseau nicht verbergen. Wäre er ein bloßer leichtfertiger Franzose gewesen, so hätte er sich mit einer ordinären Präzis leicht beruhigen können, aber er war ein eigentlicher Philosoph, ein Idealist, unter den Franzosen ein ächter Deutscher, der sich aus der leichtfertigen Weltlichkeit in das Schneckenhaus seiner Gefühle zurückzog und hier wühlte und bohrte, bis er sich selbst aufgerieben hatte. Aus dem Widerstreit seiner Gefühle, der lechzenden Sinnlichkeit und der idealen Schwärmerei, wußte er sich nicht anders zu retten, sein ästhetisches und sentimentales Gewissen nicht besser zu beschwichtigen als durch die Theorie, die er sich nun machte, daß die geniale, mit beispielloser Gefühlsstärke begabte Subjektivität über alles Aeußerliche Herr werde, daß sie in ihrem innersten Wesen nicht angetastet werden könne. Während er also in seinem äußeren Verhalten den gewöhnlichen Menschen gleich war, tröstete er sich mit dem Glauben, daß er innerlich sich von jedem unterscheide, daß keiner empfinde wie er, daß er unter allen Umständen der beste, der edelste Mensch sei. Man hat ihn schon oft verlacht wegen des pathetischen Eingangs in seine Confessionen, daß die Natur ihn in einer besondern Form geschaffen und diese dann zerbrochen habe, damit es keinen ihm Gleichen mehr gebe; er hat aber ganz Recht; er ist zunächst in der Form der neuen Zeit gebildet worden, ihr kräftigster und vollständigster Ausdruck; nur das ist nicht richtig, daß diese Form jetzt zerbrochen sei, vielmehr sind Tausende nach ihm aus derselben hervorgegangen; alle Männer der subjectiven Leidenschaft und Genialität sind Rousseau's Abdrücke, wenn sie es auch selbst nicht wollen und nicht Wort haben möchten.

Wir sind mit solcher Ausführlichkeit und Vorliebe bei Rousseau verweilt, weil er von dieser Seite noch nie gehörig gewürdigt wurde. Es mag auffallend erscheinen, aber es ist gewiß gegründet, daß er, der Vater des politischen und religiösen Rationalismus, zugleich der Vorläufer der deutschen Romantiker und aller modernen Genialität ist, d. h. der unmittelbaren Geltendmachung der über Alles übergreifenden und von Allem abstrahirenden Subjektivität. Bei Rousseau lagen aber, wie gesagt, die verschiedenen Elemente, aus denen die Männer des genialen Genusses ihre Theorie zusammenzusetzen pflegen, noch in viel zu natürlicher Unmittelbarkeit neben einander, er hatte mit dem Leben nach allen Seiten, theoretisch und praktisch, in viel zu ernstem Kampfe zu ringen, als daß er sich die Faulheit des raffinirten Genusses bereits zum bestimmten Princip seines ganzen Lebens hätte machen können. Dieß geschah erst durch die fix gewordene deutsche Romantik, durch Fr. Schlegel in seiner berühmten Lucinde.

In diesem Buche tritt Schlegel mit der Prätension auf, die zerstückten Glieder der Liebe zusammenzubringen und sie zu einem herrlichen Leibe neu beleben zu wollen. Da die Sinnlichkeit stets die zurückgesetzte Seite war, so geht er natürlich von ihr aus und sucht sie zu den höchsten Ehren zu bringen. Mit ihr soll sich freilich ein höheres Princip vereinigen; die Sinnlichkeit tritt aber so übermächtig und unverhüllt auf, daß das Ideale sich ihr nur als das Bewußtsein beigesellen kann, neben der bacchantischen Versenkung in die Sinnlichkeit zugleich weit über dieselbe erhaben zu sein, sie mit ganz besonderer künstlerischer Virtuosität zu genießen. Was also für Rousseau aus dem Bedürfnis; der Selbstentschuldigung sich von selbst ergab, das wurde hier herrschendes Princip, übermüthige herrische Forderung; dem genialen Manne sollte Alles erlaubt sein, seine Bestimmung sollte gerade darin liegen, sich dem schrankenlosesten Genuß hinzugeben und dabei sollte er doch zugleich lein gewöhnlich Genießender, von jeder Libertinage weit entfernt, der geistreichste, interessanteste, der edelste und sittlichste Mann sein. In der Schlegel'schen Lucinde wird die ideale Befreiung von der Trivialität des Lebens zur Lehre von einem göttlichen Müßiggang, einem blos vegetirenden, wollusteinsaugenden Pflanzenleben. Der physische Genuß wird zu einem unnatürlich genial raffinirten; die Geschlechter tauschen ihre Rollen und die höchste Situation ist da, wo das Weib die unersättlich stürmende Begierde des Mannes annimmt und dieser der mänadischen Wuth sich nur hinzugeben braucht. Die Tausende werden beklagt, welche sterben, ohne eine Ahnung gehabt zu haben von dieser höheren Lust, »der Empfindung des Fleisches«, dem Kunstsinn der Wollust. Für Jünglinge ist diese Empfindung des Fleisches der erste Grad der Liebeskunst, dagegen eine angeborene Gabe der Frauen, durch deren Gunst und Huld allein sie jenen mitgetheilt und angebildet werden kann. Der höchste Grad aber ist für den Mann immer nur Folge einer besondern Begabung und Virtuosität des Subjects, welches in diesem Genuß den seiner Genialität allein adäquaten Zustand findet. Wie kann aber dieser Genuß ein dauernder Zustand sein? Dieß sucht Schlegel anschaulich zu machen, indem er nach der Vereinigung mit seiner Lucinde das göttliche Duett singt von der ewigen Sehnsucht in der ewigen Ruhe. In dieser Verbindung der Sehnsucht mit der Ruhe soll das physische Element der Liebe mit dem geistigen, das Classische mit dem Romantischen vereinigt, die zerstückten Glieder zu dem einen göttlichen Leib der Liebe wieder zusammengesetzt sein. Allein was ist dieser Wechsel oder dieses Ineinander von Sehnsucht und Ruhe anders, als das sich um sich selbst bewegende Subject, das in immer neuer Irritation die Empfindung seiner selbst zu schärfen und in wollüstigem Opiumrausch sich zu genießen strebt? Was daher Schleiermacher für das Große der Lucinde hält, daß in ihr anschaulich gemacht werde, wie auch die höchste Sinnlichkeit schön und berechtigt sei, wenn sie in gesundem organischem Zusammenhang mit allen übrigen Lebensäußerungen stehe, das können wir gerade nicht darin finden; vielmehr hat Schlegel die Glieder der Liebe auseinander gerissen und auf dem Anger der Verwesung umhergestreut; der Sinnlichkeit wird ihr natürliches Leben, ihr angeborener Reiz genommen, die Idealität aber, welche sich über alle Verhältnisse ausbreiten und alle mit höherem Leben durchdringen sollte, schrumpft zu einer egoistischen Anmaßung und eiteln Selbstüberhebung zusammen.

Das Bewußtsein, das sich in der Schlegel'schen Lucinde ausspricht, blieb für die ganze folgende Anschauung, für jede bedeutendere poetische Darstellung maßgebend. In ihr ist in der That das Princip des modernen geschlechtlichen Verhältnisses ausgedrückt und es handelte sich jetzt nur darum, dasselbe weiter in das Leben einzuführen, es gleichsam zu popularisiren. Die schwunghafte, dithyrambische Form, in der sie sich bewegt und die dazu erforderliche Hebung der Phantasie, der künstlerischen Begeisterung ist doch immer etwas Exclusives und nur wenigen Begabteren Zugängliches; es gibt aber eine andere Form, in welche sich jeder leicht findet, die bei aller Niedrigkeit der Gesinnung und Armuth des Gefühls immer doch den Schein des Geistreichen und Großartigen hervorzubringen geeignet ist, die der witzigen Frivolität. Den Anfang hiezu halte bereits Schlegel gemacht; wie er die Lucinde mit einer Allegorie von der göttlichen Frechheit einleitet, in welcher die verschiedenen Standpunkte des allgemein geltenden Bewußtseins, die Tugendhaftigkeit, die liebe Sittlichkeit, die schöne Seele, die Decenz und die Bescheidenheit als unbedeutende junge Damen verspottet werden, bei denen man bei genauerem Zusehen sogar Spuren von Verderbtheit und ganz gemeine Züge finde, so wurde dieser Roman selbst eine Einleitung für die Frivolität des Witzes, der Alles in dieser Weise deutet und heruntermacht, um an den Anblick der nackten Frechheit zu gewöhnen. Dieß geht am weitesten und erreicht die der großen Menge mundgerechteste Form bei Heine. Wenn bei Schlegel auch Leben und Liebe zu Grunde geht, so war es ihm doch wenigstens Ernst mit dem Enthusiasmus des Genusses; mag man seine Art von Liebe, seine Wollusttheorie beurtheilen, wie man will, sie ist doch immer noch etwas Positives, etwas wirklich Gewolltes und ihm als das Höchste Geltendes. Bei Heine aber fällt sogar der Enthusiasmus des Genusses weg, selbst an die Sinnlichkeit, an das Derbste und Greifbarste glaubt er nicht, Alles wird ihm lauter Wind und Schein, so daß man ihn mit Recht den geistreichen Verwesungsproceß der Romantik genannt hat. An die Tugend glaubt er natürlich zum Voraus nicht, er hält sie für eitel Lüge und Maske, daher die Dreistigkeit, mit welcher er jede präsumirte Heuchelei entlarvt:

Mädchen, solche große, schwarze Augen,
Solche hat die Tugend nicht.

Oder noch deutlicher und handgreiflicher:

Diese braungestreifte Lüge
Streif sie ab, ich bitte Dich;
Laß Dein weißes Heiz mich küssen;
Weißes Herz, verstehst Du mich?

Aber auch die Liebe selbst und ihr Genuß ist ihm, wie alles Andere, gleichfalls nur eine Thorheit, womit es einem vernünftigen Mann niemals Ernst sein kann:

O König Wiswamitra, o welch' ein Ochs bist Du,
Daß Du so viel kämpfest und büßest
Und Alles um eine Kuh!

Sogar aus der Leidenschaft des Genusses also will sich Heine mit seinem Witze zurückziehen, sich über sie erheben und lustig machen. Überhaupt Alles, woran das Subjekt sich wahrhaft ernstlich und gemüthlich betheiligen will, wird als Bornirtheit und Ideologie verhöhnt; der geistreiche Mann nimmt nur den Schein der Empfindung an, weil diese dem Witz, dem Effect noch ein besonderes interessantes, blasses Air gibt, die Blässe des Weltschmerzes, der Zerrissenheit; er ist aber in jedem Augenblick bereit, mit einem witzigen Couplet aus aller Sentimentalität herauszuspringen, um dadurch noch pikanter zu werden. Als besonders charakteristische Probe dieser sich selbst verhöhnenden und vernichtenden Sentimentalität können die folgenden allbekannten Zeilen gelten:

Nur einmal noch möcht' ich Dich sehen,
Und sinken vor Dir auf's Knie,
Und sterbend zu Dir sprechen:
Madame, ich liebe Sie.

Zu diesem absoluten Nihilismus, zu dieser äußersten Prostitution des Leibes und der Seele hat es die Liebe gebracht, welche wir vor Kurzem noch so schüchtern unter dem Mantel der Moral hervorblicken und nach der süßen verbotenen Frucht das lüsterne Auge erheben sahen. Und diese witzige Coquetterie, dieses pikante Geistreiche, welches auch an die Liebe nicht mehr glaubt, an die Liebe unter keiner Form, welches den Genuß nur als Gegenstand des Witzes kennt, um das Genossene wie das Genießende zu ironisiren und zu verhöhnen, ist zum allgemeinen Zug der Zeit geworden. Der Witz ist der große Sieger, vor dem Alles hinfallen muß, der dem Darbenden die Satisfaction verschafft, als entbehre er den Genuß aus freiwilliger, verachtender Resignation, der dem Genießenden jeden Genuß durch das nebenher gehende Bewußtsein mit dem rechten Hautgout würzt, daß er immer noch etwas Höheres dabei genieße, von dem die Andern nichts wissen, das sich ihnen nicht sagen und mittheilen lasse.

Aus sich selbst kann aber der Witz auf die Länge nicht zehren, er braucht immer ein Anderes, das seine Springfedern wieder aufschnellen macht, das für sein Brillantfeuer den schönen geheimnißvollen Hintergrund abgibt. Die Sentimentalität war abgenutzt, man müßte daher ein anderes Gefühl suchen, welches der abgestumpften Blasirtheit den neuen, immer frischen Reiz gebe. Der lyrischen Zerrissenheit Heine's trat daher Byron's episches, melodramatisches Heldenthum zur Seite. Wurde von Heine das Gift in witzig-epigrammatischer Form eingeträufelt, so wußte Byron dieselbe Gesinnungsweise unter der prächtigen Hülle eines imponirenden Heroismus vorzuführen. Seine Helden sind ausgebrannte Vulkane, in denen die Leidenschaften furchtbarer als in irgend einem andern getobt haben, die aber jetzt über Alles hinaus sind, die eine Geliebte, welche sich dem interessanten Mann zu Füßen wirft, hinnehmen, als müßte es so sein, als verstände sich das von selbst, die alle Hingabe und Aufopferung der Liebe genießen »als wären's eben Pfifferlinge.« Statt des lustigen, immer springfertigen Witzlings haben wir bei Byron den kalten, in sich verschlossenen, geheimnißvollen Abenteurer, der die Arme kreuzt und die Lippen einkneift, der kaum zum sarkastischen Lächeln den Mund verziehen will, sondern höchstens ein Pistol aus der Tasche zieht, um dem unbequemen Gaffer Eines auf's Gehirn zu brennen. Diesem verschiedenen Ausdruck lag aber ganz die gleiche Gesinnung zu Grunde: Byron schilt sich, auf Sterne anspielend, selbst den Schurken, der über den todten Esel weine, für alle wirklichen, menschlichen Zustände von Leiden aber kein Gefühl habe; und auch diese Selbstanklage ist ihm natürlich nicht Ernst, sondern sie soll nur die Folie sein, um sein poetisches Gefühl desto glänzender und absonderlicher erscheinen zu lassen. Byron's Leben ist überhaupt das grandioseste Beispiel der durchgängigen Coquetterie der Eitelkeit und Selbstsucht, welches sich nur finden läßt, so daß einer seiner ausgezeichnetsten Biographen an den wahnsinnigen Stolz der römischen Cäsaren zu erinnern sich veranlaßt findet. Nach den Mitteilungen von Hunt ging diese eitle Coquetterie bei ihm ganz in's Unglaubliche und zwar gegen Männer ebenso wie gegen Frauen. Namentlich über seine berühmte Liebschaft mit der Madame Guiccioli werden wir berichtet, daß er mit ihr und über sie in einer Weise sprach, welche bewies, daß der größte Dichter keineswegs auch der beste und gefühlvollste Liebhaber sei. Love is animation – nach dieser Ansicht war ihm die Liebe ein Reizmittel ebenso wie er anderer geistiger Aufregung bedurfte, um die Fülle seines Witzes in die nöthige Gährung zu bringen und sie dann in einer Stanze des Don Juan niederzuschlagen. Waren seine früheren Gedichte keineswegs ohne alle Wahrheit der Leidenschaft, so fällt er in diesem letzten, welches der wahrhafte und vollständigste Ausdruck seiner ganzen Weltanschauung sein sollte, ganz aus aller Poesie heraus und in die ächt Heine'sche Manier hinein; wie diese erregt er jede Empfindung nur, um sie mit dem kalten Strahl seiner witzigen Pointe desto sicherer wieder niederschlagen zu können. Es ist interessant, daß auch der englische Biograph dieses ganze Wesen aus dem cancer of aristocracy erklären zu müssen glaubt, von dem Alles angefressen sei, d.h. also aus der äußeren und inneren Vornehmthuerei, aus dem schrankenlosen Selbstgefühl, welchem gar keine feste Norm mehr gegolten, das sich nach willkührlicher Laune in den größten Widersprüchen herumgetrieben und nur das schön und wahr gefunden habe, worin es sich für den Augenblick selbst herumgeworfen und bespiegelt habe.

Neben diesem Egoismus beispielloser Eitelkeit ist aber nicht zu verkennen der großartige und wahrhaft titanische Genius, der bald mit rauschenden Schwingen sich niederstürzt, als wollte er die ganze Welt der Sinnlichkeit in seinen mächtigen Fängen mit sich forttragen, bald wieder in wildem Uebermuth seine kostbare Beute auf die Felsenriffe der Verzweiflung herunterfallen läßt und, nachdem er sich an dem Anblick ihrer zuckenden Glieder geweidet, in den grauen Nebel eines ertödtenden Nihilismus hinausfliegt. Diese halb wahnsinnige Gier des Genusses und des ewigen Unbefriedigtseins ist nirgends kürzer und prägnanter ausgesprochen als in den beiden folgenden Zeilen des unglücklichen Lenau:

Ich habe manches Weib mit Riesenkrallen
Auf's Lager des Verlangens hingestreckt.

Mit den Nägeln möchte sich hier ein mächtiger aber todwunder Geist in das frischeste Fleisch der Sinnlichkeit hineinwühlen; über der Vergeblichkeit seiner unendlichen Anstrengung endet er in verzweifelndem Wahnsinn, nach einer Seite wenigstens ganz seinem Wunsche gemäß, den Tod zu finden

Nach rasch durchrastem Tanz
An einer Dirne Busen.

Wenn eine solche sich selbst verzehrende Ueberreizung immer nur selten vorkommt, so ist doch die Zunft derer überaus zahlreich, bei welchen sich eine gleiche Kluft des Dualismus zum stehenden Bewußtsein ausgebildet hat. Gehört nicht bis auf einen gewissen Grad jeder sinnlich und geistig höher begabte Mann zu jenen übersinnlich-sinnlichen Freiern?

Vom Himmel fordern sie die schönsten Sterne
Und von der Erde jede höchste Lust;
Und alle Näh' und alle Ferne
Befriedigt nicht die tief bewegte Brust.

In Heine und Byron hat die moderne Liebe ihren letzten poetischen Ausdruck gefunden und zwar in einer Form, welche ganz dazu geeignet war, durch alle Schichten der Gesellschaft hindurchzudringen. Rousseau und Schlegel waren immer nur wenigeren bekannt; die Lucinde, so sehr sich ihr Inhalt der sinnlichen Begierde empfehlen mochte, war doch in einer zu ungewöhnlichen, ja oft fast unverständlichen Sprache geschrieben, als daß sie nicht immer nur das Panier eines exclusiven aristokratischen Kreises hätte bleiben müssen; die hinreißende Gewalt Byron'scher Schilderungen, der stets siegreiche Witz und die leichte Form Heine's aber mußte jeder Einbildungskraft sich bemächtigen, jedem Verstand sich als das Höchste einer geistreichen Weltanschauung empfehlen. So sehr aber diese ganze Ansicht von der Liebe zur herrschenden Zeitrichtung wurde, so war sie doch immer nur eine literarische, die von poetischen Reminiscenzen zehrte, auf die Autorität einzelner tonangebender Männer sich stützte. Aus dieser so zu sagen nur literarischen und poetischen Existenz sollte sie nun heraus und in's wirkliche Leben eingeführt werden. Wir haben ja immer gesehen, daß die Liebe nur eine scheinbare Freiheit genießt, so lange sie mit den übrigen Seiten des Lebens, mit dem ganzen socialen und politischen Zustand nicht im organischen Zusammenhang steht. So war es aber während der ganzen sogenannten Restaurationszeit; das ganze Leben dieser Zeit hatte sich in die Literatur zurückgezogen und vergaß über seiner innerlichen theoretischen Bewegung, daß ihm die Freiheit und Wirklichkeit abging; die Liebe insbesondere hatte eine unbeschränkte poetische Entwicklung, aber sie konnte ihre romantischen Gelüste und ihre Sinnlichkeitstheorie nirgends im Leben verkörpern. Die Zeit hatte eine auffallende Aehnlichkeit mit jenem Abschnitt des achtzehnten Jahrhunderts, in welchem ein höherer Drang nach Freiheit und Natur sich aller Gemüther bemächtigt hatte, ohne daß derselbe eine weitere äußere Verwirklichung finden konnte, als in der eigenen Ausbildung des einzelnen Subjekts, in der schönen Persönlichkeit. Dießmal aber sollte es Ernst werden und die äußeren politischen Verhältnisse mußten hiezu den Anstoß geben.

In Folge der Juli-Revolution wurde bekanntlich der erste Ansatz gemacht, die theoretischen Errungenschaften auf den Boden der Praxis zu verpflanzen und dieß geschah denn auch – und zwar in ganz hervorragender Weise – in Beziehung auf das geschlechtliche Verhältniß und die damit zusammenhängenden Fragen. Warum sollten nur wenige geistig Bevorrechtete frei denken, eines höheren geistigen und physischen Genusses sich erfreuen dürfen? Warum sollten nur Hegel und seine Jünger, die Philosophen von Profession, das Christenthum überwinden, warum nur Goethe als griechischer Gott die ganze Welt und ihre Freuden zu seinen Füßen sehen? Die Verdrängung des immateriellen Christentums, die Emancipation des Fleisches und des Weibs durfte nicht länger eine Frage der Schule, der vornehmen Literatur bleiben, sie mußte jetzt ernstlich in's Leben eingeführt, ein allgemeines sociales Problem werden. Warum sollte der höchste Genuß nur für die Vornehmen, für die Aristokraten des Lebens, der Künste und Bildung sein? Jene geniale Begabung, welche Schlegel für den höchsten Grad der Liebeskunst erlangt, fühlte sie nicht am Ende jeder in sich, der eine leidliche Phantasie und seine fünf gesunden Sinne hatte? Niemand wird läugnen können, daß diese Fragen vollkommen berechtigt waren und daß man mit dieser Demokratisirung der Bildung und des Lebensgenusses ganz den rechten Punkt getroffen hatte. Das aber ist das Auffallende und darin liegt der große Widerspruch, der sich durch alle modernen socialen Bestrebungen hindurchzieht, daß man eine aristokratische Bildung in aller ihrer Unnatürlichkeit und Abgelebtheit zum neuen, allgemein geltenden Princip des Lebens machen wollte und so der Gefahr sich aussetzte, das im Zusammenhang mit den verschiedenartigsten höheren Bildungselementen immer noch schön und poetisch sich Darstellende durch Losreißung von seinem natürlichen Boden zu oberflächlicher Anmaßung und widriger Carricatur zu verzerren.

Denn was war der Inhalt des neuen Streben, als ganz der alte jenes früheren genial-frivolen Standpunktes? Jeder junge Mann von leidlichem Aeußern, von einigem formellen Talent blähte sich zu einem geistreichen Heine, zu einem interessanten Byron auf, wollte sich mit dem philosophischen Tiefsinn Hegel's oder mit der aristokratischen Lebenskunst Goethe's brüsten. Man verlangte, daß das Subjekt sich einer höheren socialen Bildung theilhaftig mache, daß es mit Leichtigkeit sich in den höheren Kreisen der Gesellschaft bewegen könne und daß es namentlich auch die dazu gehörige äußerliche unabhängige Lage sich zu erringen wisse. Diesen so gebildeten, geistreichen und interessanten Männern des »jungen Deutschlands« sollten dann ebenso gebildete und geistreiche Frauen zur Seite stehen, die sich in Reise-Novellen, auf Theatern und in Bädern begegnen, gegenseitig in einander die vollkommene Persönlichkeit bewundern und vergöttern. Das war freilich wieder ein Leben und zwar das wirklichste, das nächstliegende; aber war es denn wirklich auch ein Leben, in welchem die vernünftige Thätigkeit eines Mannes aufgehen kann, dieses Conversiren und Dilettiren mit reisenden Literaten, Künstlern und Künstlerinnen? Eine solche Richtung konnte natürlich nicht zu allgemeiner Geltung im Leben gelangen, ja sie war so nichtig und inhaltslos, daß sie es nicht einmal zu einer bedeutenden literarischen Existenz brachte; sie trug nur dazu bei, die belletristische und erotische Literatur vollends um alles Leben zu bringen, die alten Bildungselemente gänzlich aufzulösen.

Die Bestrebungen, welche sich an die literarische Erscheinung des jungen Deutschlands knüpften, waren also bald theils äußerlich zurückgewiesen, theils an ihrer eigenen geistigen Leerheit und Impotenz zu Grunde gegangen; damit war es aber noch keineswegs aus. Seit Schlegel ist es immer und immer wieder die göttliche Faulheit, das Pfianzenleben des Genusses, welches die Sehnsucht des jungen Geschlechts erfüllt und auch seine scheinbar ganz entgegengesetzten praktischen Tendenzen auf wunderliche Weise durchdringt. In Frankreich, wo sie durch Sitte und äußere Verhältnisse mehr begünstigt wurden, haben die Emancipations-Doktrinen nie aufgehört, sich geltend zu machen, zu allgemeinster Verbreitung aber kamen sie in den neuesten politisch-socialen Bewegungen. Oder ist es nicht die Forderung des schrankenlosen Genusses, das Absehen von allen geordneten Verhältnissen des wirklichen Lebens, das sich interessant machen und unstät umhertreiben, welches jetzt von den Literaten und Künstlern auch zu den Ouvriers und Proletariern hindurch gedrungen ist und recht eigentlich den Kern unseres ganzen socialen Lebens mit allen seinen Wünschen und Bestrebungen bildet? In der neuesten Zeit erblicken wir den Versuch, ein von dem Princip ungebundenster Subjektivität ganz durchdrungenes Geschlecht unter das Gesetz objektiver klassischer Formen zu bringen. Dieser Versuch, die zwei einander entgegengesetztesten Principien auf äußerliche Weise mit einander zu vereinigen, muß die wunderlichsten, widersprechendsten Erscheinungen hervorbringen. Dieß tritt wieder an den geschlechtlichen Verhältnissen auf's deutlichste und lehrreichste hervor. Man hat nicht selten die von der römischen Anschauungsweise hergenommene Behauptung gehört, in der Republik liebe man nicht, die ganze Thätigkeit des Mannes habe so sehr in den öffentlichen Angelegenheiten aufzugehen, daß er höchstens noch für die Befriedigung seiner Sinnlichkeit Zeit und hiezu auch volle Freiheit habe. Andererseits aber ist die moderne Phantasie von so vielen romantischen Vorstellungen geschwängert, daß sie zu dem naiv-sinnlichen Genuß unmöglich je mehr zurückkehren kann. So kann denn nur eine Sinnlichkeit Platz finden, welche statt eines wahrhaft idealen Elements die leere Prätension in sich trägt, die Lebensäußerung eines besonders gebildeten, modernen, über alle Vorurtheile der Philisterhaftigkeit hinausgeschrittenen Subjektes zu sein. Diese Art der Liebe, welche jetzt insbesondere in die unteren Schichten der Gesellschaft einzudringen beginnt, während die oberen immer tiefer in einen noch geistloseren, blasirten Materialismus versinken, ist das Produkt der im Vorhergehenden geschilderten Entwicklung des Bewußtseins, wie dieselbe namentlich von Rousseau an begonnen und sich bis zur Vernichtung alles wahren Gefühls, zur Auflösung in das bloße Spiel des Witzes und der Selbstironisirung fortgesetzt hat. Dieser fort und fort sich geltend machende Einfluß romantischer Genialität, das Forterhaltenwollen dieses jedem wahrhaft gesunden Leben am feindseligsten sich gegenüberstellenden aristokratischen Princips ist es also, was wir als das verfehlte Bestreben bezeichnen müssen, das Neue auf der faulen Grundlage des Alten aufbauen zu wollen. Weil man das als heillos Erkannte nicht verlassen kann und will, sondern es nur immer allgemeiner geltend machen möchte, deßwegen aber sind alle socialen Zustände so widersprechend, so verworren und hoffnungslos. Wie auf allen übrigen Gebieten hat, seit die Heine'sche Poesie die Kritik der Vernichtung an dem alten Standpunkt vollzogen, sich auch auf dem Feld der Liebe keine neue positive Schöpfung hervorgethan. Warum dieß in der neuesten Zeit nicht sein konnte, ist in der Einleitung angegeben worden. Von allen Wegen aber, die man einschlagen kann, um zu frischer, lebenskräftiger Gestaltung fortzuschreiten, ist keiner sicherer, das Ziel zu verfehlen, als der zu der mittelalterlichen Romantik zurückleitende, die Liebe einem äußerlichen, heuchlerischen Glauben und seinen weltlichen Tendenzen unterordnende. Um so mehr ist es als ein Beweis für die Zerfallenheit der Zeit zu beklagen, daß von allen erotisch-poetischen Produktionen der neuern Zeit keine so weite Verbreitung gefunden als jene Amaranth, in welcher die Liebe nach dem Glauben und Bekenntniß gefragt wird:

Kannst du Christum deinen Heiland, kannst du deinen
Gott Ihn nennen?

Der Inhalt dieses Gedichts ist im Grunde kein anderer als der aller jener abgeschmackten Rittergeschichten, die wir seit langer Zeit als vollkommen abgethan betrachten zu dürfen glaubten; um so schlimmer, daß ein solcher Fouqué redivivus mit dem Anspruch auftreten kann, die kranke Zeit heilen und ihr ein neues Lebensgesetz bringen zu wollen.


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