Friedrich von Sontheim
Geschichte der Liebe
Friedrich von Sontheim

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Jede Geschichte kann ihren Anfang nur bei den Völkern nehmen, welche im Zusammenhang der allgemeinen Cultur stehen; nicht als ob nicht auch bei denjenigen, welche es nie zu eigenthümlicher Bedeutung gebracht, gleichwohl manches feinere Gefühl, manche höhere Fertigkeit sich fände, sondern eben weil bei ihnen kein Zusammenhang, keine Entwicklung, keine Geschichte ist. So können wir auch hier nicht auf die ersten Regungen des instinktartigen Gefühls, auf den Urzustand uns einlassen, in welchem nach Rousseau's Phantasien die Wilden wie die Hirsche um ein weibliches Individuum kämpften. Das aber muß über die dem Naturzustand am nächsten gebliebenen Völker gesagt werden, und es wird diese eine Bemerkung nicht nur für die Geschichte der Liebe, sondern für die Beurtheilung der menschlichen Bildung überhaupt von höchster Wichtigkeit sein, daß selbst bei diesen Völkern, soweit wir Proben von ihrer Poesie haben, der instinktive Zug der Geschlechter zu einander sich überall mit innerer Notwendigkeit über seine Unmittelbarkeit erhob und feineren idyllischen oder elegischen Gefühlen Platz machte. Daraus geht nämlich nicht nur die unendliche Perfektibilität der Liebe hervor, ihre bei allem Fortschritt doch ewige Identität mit sich selbst, sondern ebenso auf der andern Seite ihr Zusammenhang mit der Cultur, daß sie immer der Punkt ist, von dem die Anfänge aller Bildung ausgehen, daß also die innigste Wechselwirkung beider besteht, und alle Bildung ebenso von der Liebe ihr Leben empfängt, wie diese hinwiederum mit der ersteren ihr Dasein immer weiter ausbreitet, immer reicheren und selbständigeren Lebensinhalt gewinnt. Man wird staunen, wenn man in den Poesieen dieser fast ganz sich selbst überlassenen und kaum der dürftigsten Bildungsmittel theilhaftigen Völker alle Elemente der reichsten, überschwenglichsten Lyrik, die Tiefe des Gedankens, wie den Schmelz des Sentimentalen und Romantischen findet. Nehmen wir das nächste beste aus Herder's »Stimmen der Völker«, das lappländische, »die Fahrt zur Geliebten«:

Sonne, wirf den hellsten Strahl auf den Orra-See!
Ich möchte steigen auf jeden Fichtengipfel,
Wüßt' ich nur, ich sähe den Orra-See.
Ich stieg auf ihn, und blickte nach meiner Lieben,
Wo unter Blumen sie itzo sei.

Ich schnitt ihm ab die Zweige, die jungen frischen Zweige,
Alle Aestchen schnitt ich ihm ab, die grünen Aestchen. –

Hätt' ich Flügel, zu Dir zu fliehen, Krähenflügel,
Dem Laufe der Wolken folgt' ich, ziehend zum Orra-See.

Aber mir fehlen die Flügel, Entenflügel,
Füße, rudernde Füße der Gänse, die mich hin trügen zu Dir.

Lange genug hast Du gewartet, so viel Tage,
Deine schönsten Tage,
Mit Deinen lieblichen Augen, mit Deinem freundlichen Herzen.

Und wolltest Du mir auch weit entflieh'n,
Ich hol'te Dich schnell ein.
Was ist stärker und fester als Eisenketten, als gewundene Flechten?
So flicht die Liebe uns unseren Sinn um
Und ändert Will' und Gedanken.

Knabenwille ist Windeswille,
Jünglings-Gedanken lange Gedanken.

Wollt' ich alle sie hören, alle –
Ich irrte ab vom Wege, dem rechten Wege.

Einen Schluß hab' ich, dem will ich folgen,
So weiß ich, ich finde den rechten Weg.

Wem legen sich bei dem ersten Theil dieses lappländischen Liebesliedes nicht die Anklänge an unsere bekanntesten Volkslieder in's Ohr, wen erinnert die zweite Hälfte nicht an die älteren, ernsten und schwermüthigen Weisen? Nur noch eines mag hier eine Stelle finden, aus dem Süden wie das erste aus dem hohen Norden, das

Lied des Peruaners an sein Mädchen.

Schlummre, schlummr', o Mädchen,
Sanft in meine Lieder;
Mitternachts, o Mädchen,
Weck' ich Dich schon wieder.

Die Übersetzung mag hier freilich Vieles thun; so wie es uns hier dargeboten wird aber verdient das kurze Lied den zartesten Klängen unserer ersten Lyriker an die Seite gesetzt zu werden.

So sehr nun aber diese einfachen Poesieen halbwilder Völker an wirklich poetischem Gehalt Vieles übertreffen, was wir von unendlich weiter fortgeschrittenen Nationen kennen, so fehlt ihnen doch gerade das, was allein das historische Interesse verleiht, die selbständige Bedeutung für das gesammte Bewußtsein, welche nur bei einer eigenthümlichen, wenn auch untergeordneten, socialen und religiösen Weltanschauung möglich ist.


 << zurück weiter >>