Friedrich von Sontheim
Geschichte der Liebe
Friedrich von Sontheim

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Die Tausende von Liebesgeschichten, mit denen man uns in den letzten Jahrzehnten überschwemmt hat, welche namentlich dem weiblichen Publikum fast als einzige und ausschließliche Lektüre geboten wurden, haben – so trivial sie auch größtentheils sein mochten – wenigstens davon Zeugniß gegeben, daß die Liebe eine in das moderne Leben auf's Tiefste eingreifende, dasselbe nach allen seinen Verhältnissen umfassende Macht geworden sei. Nicht nur die ganze Lebensgestaltung des Einzelnen, sondern auch die allgemeinsten gesellschaftlichen, ja politischen Zustände werden wesentlich bedingt durch die Form, in welcher sie sich vollzieht. Kein Verhältniß ist in gleichem Grade dazu geeignet, die höchsten Spitzen des geistigen Lebens mit der nothwendigen Basis des natürlichen Daseins zu vereinigen; nirgends kann so, wie in der Liebe, in die individuellsten Beziehungen, in den flüchtigen Moment die ganze Fülle der reichsten Lebensentwicklung hineingelegt werden. Denn darin besteht eben die Unerschöpflichkeit ihrer Darstellungen, daß, während sie das einfache, unmittelbare Gefühl ist, das jeder ohne Unterschied an sich findet, an ihre Erregungen zugleich der schrankenloseste Inhalt, alle höchsten Probleme des geistigen, alle glühendsten Wünsche des äußeren Lebens sich anknüpfen lassen, daß durch sie das Individuum sich des sonst schlechthin Unerreichbaren bemächtigt und aus seiner dunkeln, verschlossenen Innerlichkeit in eine zauberische Unendlichkeit hinausgeführt wird.

Damals, als noch diese Romane, Novellen, Erzählungen in ihrer bunten Mannichfaltigkeit sich ausbreiteten, lag manchem auch der Gedanke nahe, nicht blos eine einzelne Liebesgeschichte, sondern eine Geschichte der Liebe selbst zu schreiben, das ideale Gefühl zu schildern, nicht wie es in einer einzelnen interessanten Persönlichkeit oder in einer bestimmten pikanten Situation zur Erscheinung kam, sondern dasselbe nach der Totalität seiner Momente und der Formen, in denen es bei dem ganzen Geschlecht, bei den entlegensten Völkern und in den verschiedensten Zeitaltern sich ausprägte, zur Anschauung zu bringen. Dieser Gedanke wurde aber nicht nur nie verwirklicht, sondern jetzt sind sogar die gewöhnlichen Liebesgeschichten zum großen Theile verstummt; die praktischen Richtungen des öffentlichen Lebens haben das poetische Spiel der Phantasie verdrängt; der strenge republikanische Geist kann die Liebe nur nach ihrer blos natürlichen oder nach ihrer praktisch-sittlichen Seite gewähren lassen; die schlaffe Reaktion ist noch viel zu sehr in ihre unmittelbaren Tendenzen versenkt, um es bis jetzt zu mehr haben bringen zu können als zu vereinzelten Aeußerungen einer wieder aufgewärmten, abenteuerlichen Romantik. Da ist nun die Frage, ob es am Platz sei, in einer scheinbar so ungünstigen Zeit den alten Plan wieder aufzunehmen und das Panier der Liebe zu erheben, wo Alle ganz andern Fahnen zu folgen sich gewöhnt haben.

Die Antwort auf diese Frage liegt in dem hier dargebotenen Buche vor. Die allgemeine Theilnahme hat sich nach meiner Meinung von den erotischen Produktionen abgewendet, weil man sich mit solchen zufälligen Darstellungen nicht mehr zufrieden geben kann, sondern nach Erkenntniß der allgemeinen Gesetze und ihrer geschichtlichen Bewegung auch auf diesem Gebiete trachtet. Die Zeit der Geschichten ist überall vorbei, man verlangt die Geschichte mit ihren Principien und deren innerer Entwicklung; so wird es auch mit der Liebe sein. Soll man sich für sie interessiren, so darf auch sie nicht mehr bloße Privatsache, kein Gegenstand des müßigen Amüsements sein, sondern sie muß als sociale, als philosophische und geschichtliche Frage auftreten. Man »liest« unsern Damen über alles Mögliche, was die meisten Männer selbst nur halb verstehen und ist auf dem besten Wege, die reizende Unmittelbarkeit des weiblichen Wesens zu einem doppelt charakterlosen Abklatsch der männlichen Oberflächlichkeit zu machen; warum nicht lieber ihnen schreiben über das, worin sie geborne Virtuosinnen sind, von dem aus allein sie Alles erfassen und – als von dem springenden Punkte – nach allen Seiten hin die weiteste Perspektive ziehen können? Die Liebesgeschichten mit ihrem zwecklosen Spiel und Getändel sind vorüber, für eine Geschichte der Liebe aber, der ewig sich selbst gleichen und doch in unendlicher Mannigfaltigkeit sich offenbarenden, ist gerade jetzt die rechte Zeit da.

Ist denn aber eine solche auch möglich? so werden diejenigen zuerst fragen, welche die Macht der Liebe am meisten anerkennen, die Frauen vor Allen, welche wohl damit einverstanden waren, daß man dem unaussprechlichem Gefühl an einzelnen poetischen Gestalten einen deutlicheren Ausdruck zu geben versuchte, denen es aber nach ihrer ganzen Anschauungs- und Gefühlsweise um so ferner liegen muß, daß das in den einzelnen Individuen verborgen Liegende und ihnen ganz allein Angehörende der Gegenstand einer theils das so innig Verbundene trennenden und sondernden, theils das scheinbar einander am fernsten Liegende unter einem allgemeinen Gesichtspunkte zusammenfassenden, mit Einem Wort Gegenstand einer historischen und philosophischen Betrachtung werde. Wie soll die Liebe eine Geschichte haben, wie soll man eine charakteristische Verschiedenheit ihrer Erscheinungen in den einzelnen Zeiträumen nachweisen und darstellen können, da sie ja vielmehr die Alles vereinigende ist, in welcher die auseinanderliegendsten Zeiten, die entgegengesetztesten Charaktere und Bildungsstufen sich begegnen? Es ist ja eine allgemein bekannte Sache, daß in ihrer Sprache die fremdesten Völker sich miteinander verständigen können, weil sie keiner Worte bedarf, sondern mit unsichtbaren und unerklärlichen, mit den zartesten und zugleich unwiderstehlichsten Banden jeden ergreift, den Stumpfsten hinreißt, den Stärksten fesselt. Muß nun nicht bei einer zergliedernden Untersuchung dieses zarte Leben unter den Händen verhauchen und beweist der, welcher es unternimmt, die Heimlichkeiten der Liebe mit unerbittlicher Hand zu enthüllen, ihre Unaussprechlichkeiten mit kalten Augen zu mustern, statt sie in begeisterten Hymnen zu feiern, nicht eben dadurch auf's deutlichste, daß ihm die rechte Weihe für die Liebe abgeht? – Lascia l'amore, Zanetto, e studia la mathematica.

Dieser Vorwurf wäre das Schlimmste, was einem Adepten der Liebe begegnen kann, und nichts hat er eiliger zu thun, als sich vor dem Schicksal eines Aktäon zu wahren. Wer über die Liebe schreiben will, der weiß, daß man von ihren Heimlichkeiten den Schleier der Grazien nicht wegziehen kann, ohne ihren ganzen Reiz zu zerstören, daß man von ihren süßen Geheimnissen nicht in der nüchternen Sprache des alltäglichen Lebens reden darf, er weiß aber auch, daß ihr unerschöpflicher Reiz und ihre unendliche Vielseitigkeit eben darin besteht, daß sie unter allen Thätigkeiten des natürlichen Lebens diejenige ist, bei welcher das Sinnliche und Geistige mit den zahlreichsten und feinsten Fäden in einander laufen, welche – wie oben gezeigt worden – in ihre flüchtigen Erregungen den ganzen Reichthum vielseitiger Bildung aufzunehmen vermag. Die tausendfachen Modalitäten und Nüancirungen der Liebe sind also immer durch einen bestimmten Bildungszustand bedingt und demzufolge mußte die Liebe von Anfang an mit der fortschreitenden Bildung auch sich weiter ausbilden und entwickeln. Die unmittelbarste, fast instinktartige Regung des leidenschaftlichen Gefühls ist allerdings auch Liebe, und sie trifft in manchen Punkten nicht nur an Stärke, sondern vielleicht auch an Reinheit und Erhabenheit mit dem feinsten Sentiment zusammen; aber der Liebe fähig im höchsten Sinn wird das gebildete Weib doch nur den Mann finden können, in welchem die ganze Bildung, insbesondere die poetisch-ästhetische, den lebendigsten persönlichen Ausdruck findet, dessen Berührung auch in ihr alle verschlossenen Schätze wie mit einem Zauberschlag zu Tag fördert und in Fluß bringt. Die Liebe ist eine Kunst nicht in dem Sinn, wie es Ovid meinte, als eine Fertigkeit und Gewandtheit stutzerischer Verführung, sondern als die Blüthe aller Kunst und Bildung, in welcher sich diese, von allen äußeren Zwecken absehend, allein mit beseligender Selbstgenügsamkeit entfaltet. Ist so die höchste Liebe eins mit der vollendetsten persönlichen Bildung, so muß jene wie diese eine geschichtliche Entwicklung haben; ja, die Schwierigkeit wird gerade darin liegen, die Geschichte der Liebe aus dem Zusammenhang der allgemeinen Kulturgeschichte, mit der sie so eng verwoben ist, herauszulösen und sie als etwas Besonderes darzustellen.

Eine Geschichte der Liebe ist also nicht nur möglich, sondern ohne Zweifel auch zeitgemäß, und es kann sich nur noch um die Art und Weise handeln, in welcher der Geschichtschreiber seine Aufgabe am besten zu lösen im Stande ist. Nach dem Bisherigen ist die Liebe als der höchste Reflex der allgemeinen Bildung anzusehen; der poetische Sinn und nicht minder das religiöse und sociale Leben treiben in ihr die feinsten Blüthen zu Tag; deßwegen muß ihre Geschichte auch den ganzen Umfang dieser allgemeinen Bildung zur Grundlage haben. Aus diesem breiten Hintergrunde aber treten einzelne leuchtende Gestalten hervor, welche entweder durch ihre poetischen Hervorbringungen oder durch ihre Erlebnisse und ihre ganze Persönlichkeit Hauptträger, Heroen der Liebe geworden sind. Die erotische Literatur nach ihren originellsten, das Selbstbewußtsein auf wahrhaft eigentümliche und weithin bestimmende Weise ausdrückenden Erzeugnissen ist also der Hauptgegenstand der Darstellung. Indem sich auf diese Weise die Geschichte der Liebe ihren eigenthümlichen Kreis vindicirt, wird durch sie zugleich der allgemeinste historische Zweck erreicht, das nämlich, was Inhalt der ganzen Geschichte ist, an einem einzelnen Zweig, an einem concreten Gegenstand auf's deutlichste zur Anschauung zu bringen.

Das letzte und allgemeinste Ziel der ganzen bisherigen Entwicklung ist die Ineinsbildung des Antiken und Christlichen, des frei-natürlichen, schön-sinnlichen Daseins und der innerlich-geistigen Gefühlswelt. Wo aber treten die beiden großen Pole, auf deren Entgegenwirken und Zusammentreffen der ganze geistige Lebensproceß beruht, wo treten Sinnlichkeit und Geist in anschaulicherer Gesondertheit hervor, wo wäre ihre Versöhnung in gleich unmittelbarer und lebendiger Weise möglich, als in der Liebe? Die Geschichte der Liebe soll also für Alle eine camera obscura sein, in welcher sich ihnen die allgemeine Geschichte im engeren Rahmen nur um so deutlicher und anschaulicher zusammenfaßt; für die Frauen aber, welchen die Liebe der Spiegel ist, in welchem allein sich ihnen jede Gestalt klarer zu erkennen gibt, der Schlüssel, welcher ihnen jede Verborgenheit aufthut, wird eine Schilderung derselben nach ihren allgemeinen Elementen und deren geschichtlichem Hervortreten der einzige Weg sein, auf dem sie zu einer wirklichen Einsicht in die Entwicklungsformen des Geistes, welche in letzter Beziehung doch das allein Interessante an allem Erscheinenden sind, gelangen können. Daher weiß ich einerseits die Frauen und anderseits mich und mein Buch nicht höher zu ehren, als indem ich für dieses den Anspruch erhebe, der erste Versuch einer Philosophie der Geschichte für Damen zu sein.


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