Friedrich von Sontheim
Geschichte der Liebe
Friedrich von Sontheim

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Daß die Reformation keineswegs blos auf das religiöse Gebiet beschränkt war, sondern eine allgemeine Umgestaltung des Lebens nach seinen verschiedenen Beziehungen anstrebte, darf als allgemein bekannt und zugegeben vorausgesetzt werden. Ja, sie war ursprünglich nicht einmal vorherrschend religiös, sondern dieß nur, sofern die alte religiöse Macht des Mittelalters alle Lebensgebiete in solcher Unselbstständigkeit und Abhängigkeit von sich erhielt, daß eine Befreiung und Neubelebung derselben nur durch einen zunächst auf die Kirche und ihre Uebermacht zu richtenden Angriff erreicht werden konnte. Erst als die allgemeine sittliche und politische Revolution scheiterte und der über seine tausendjährigen Dämme gewaltig herausgetretene Strom in sein altes Bette wieder zurückzufluthen begann, nahm die Reformation ihren ausschließlich kirchlichen Charakter an. Dieß wird sich an keinem andern Gebiete einleuchtender nachweisen lassen, als an dem der Liebe.

Die Männer, in welchen damals das Princip der neuen Zeit am frischesten und kräftigsten pulsirte, waren die Jünger der classischen Literatur, deren gelehrte Bemühungen, ihre Pilgerungen über die Alpen und ihr Heimbringen der dort mit fleißigem Bemühen gewonnenen Schätze alter Bildung hier nicht näher zu beschreiben sind, die aber eine ausführlichere Schilderung verdienen nach dem Einfluß, den sie auf den ganzen Geist des öffentlichen Lebens ausübten. Es wimmelte damals in Deutschland von jungen Gelehrten und Literaten, die durch Flugschriften und Briefe mit einander verkehrten, von einer bedeutenden Stadt zur andern zogen und überall angesehene Männer fanden, welche den Mittelpunkt eines in schöner Geselligkeit sich versammelnden Kreises abgaben. Der in diesen Gesellschaften herrschende Geist aber war der des hochverehrten alten Griechenlands, des platonischen Symposions. Die Bewunderer alter Philosophie und Kunst waren auch Anhänger der alten Götter, Verehrer von Venus und Bacchus, deren Dienst sie in schöner und feinerer Weise in's Leben einzuführen sich bestrebten. Überall also suchten sie das Natürliche und Menschliche hervorzukehren, wie sie es in den ewigen alten Mustern fanden, und in Beziehung auf das geschlechtliche Verhältnis insbesondere hatte es allen Anschein, als wolle sich das natürlich derbe Element des Bürgerstandes, von dem die ganze Bewegung in letzter Beziehung getragen wurde, mit feinerem Schönheitssinn vermählen, von griechischer Form durchdringen lassen. Wie sich der Adel deutscher Nation einmal mit den nationalen Bestrebungen des Bürgerthums zu verbinden auf dem Punkte stand, ebenso schien der Idealismus des Ritterthums und sein höherer poetischer Schwung mit dem das niedere Leben des Bürgerthums vertretenden Meistergesang, mit dem nothwendigen Complement seines einseitig spiritualistischen Wesens zu einem vollständigen, von schönstem Geist durchdrungenen Leben zusammengehen zu wollen. Der Mann, in welchem alle diese verschiedenen Elemente der nach neuer Gestaltung ringenden Gährung auf's Vollkommenste vereinigt waren, classisches, nationales und ritterliches, ist Ulrich von Hutten, der classisch gelehrte, patriotisch begeisterte, ritterlich galante Sänger, dessen Bedeutung in letzterer Beziehung sich nicht kürzer und anschaulicher ausdrücken läßt, als mit den Worten eines neueren Dichters:

Du sahst den Kampf mit dir beginnen
Das dunkle Aug' der Römerinnen ...
Und bist mit Hassen und mit Lieben
Doch ganz ein deutscher Mann geblieben.

Glaubt man aber vielleicht, diese sinnliche Seite habe sich nur bei jenen jungen Männern von zweifelhafter Lebensstellung gefunden, und meint man sie deßwegen als das dem ernstern Charakter der Reformation nur schädliche und verderblich gewordene Element, als gar nicht dazu gehörige Eindringlinge anklagen zu dürfen? Jedermann weiß, daß Luther selbst, der große allseitige Repräsentant der an seinen Namen sich knüpfenden Bewegung, nicht nur dem geistlichen Cölibat den Todesstoß gab, sondern daß er über das Leben überhaupt und seine geschlechtliche Seite die freiesten Ansichten hatte, die heitersten Aussprüche von sich gab. »Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Lebenlang,« war ja sein bekanntes Symbolum. In seiner ernstlichen Ansicht von der Ehe geht er, der große Theolog und Ausleger des Römerbriefs, allerdings ganz von den Voraussetzungen des Apostels Paulus aus; wo er von den verschiedenen Ursachen spricht, aus denen man eine Ehe einzugehen pflege, sagt er: »St. Paulus zeigt dieser einige an, und ich weiß auch im Grunde keine stärkere und bessere, nämlich die Noth. Noth heißt es. Die Natur will heraus ... und Gott will's außer der Ehe nicht haben.« Daraus zieht er nun aber einen ganz andern und entgegengesetzten Schluß, als der Apostel; er will die Ehe und die in ihr zu befriedigenden natürlichen Triebe nicht durch eine unnatürliche religiöse Anstrengung ausgerottet wissen, sondern hält sie umgekehrt für ein »äußerlich leiblich Ding, das nicht hindert noch fördert den Glauben, und mag wohl das Eine Christ, das Andere Unchrist sein, gleichwie ein Christ mit einem Heiden, Juden, Türken mag essen, trinken, kaufen und allerlei äußerlichen Handel treiben.« Wer hätte bei dem ernsten Reformator eine so ganz naturalistische Aeußerung vermuthet, die das Widerspiel ist von allem specifisch christlichen und von jeher bis auf den heutigen Tag als gefährliche heidnische Irrlehre verdammt wurde? Er läßt es aber nicht bei diesem theoretischen, doktrinellen Satz bewenden, sondern zieht auch daraus ungescheut die kühnsten Consequenzen, gegen welche noch in neuester Zeit alle, die jener naturalistischen Ansicht principiell huldigen, auf's Eifrigste sich zu verwahren bemüht sind. Man höre: »Wenn ein tüchtig Weib zur Ehe einen untüchtigen Mann zur Ehe überkäme, und könnte doch keinen Andern öffentlich nehmen und wollte auch nicht gerne wider Ehre thun, sollte sie zu ihrem Manne also sagen: Siehe, lieber Mann, du kannst meiner nicht schuldig werden, und hast mich um meinen jungen Leib betrogen, dazu in Gefahr der Ehre und Seelenseligkeit bracht, und ist für Gott keine Ehe zwischen uns beiden, vergönne mir, daß ich mit Deinem Bruder oder nächsten Freund eine heimliche Ehe habe und Du den Namen habest, auf daß Dein Gut nicht an fremde Erben komme, und laß Dich wiederum williglich betrügen durch mich, wie Du mich ohne meinen Willen betrogen hast.« Hier haben wir ja ganz jene natürliche Liebe, wie sie bei den Erzvätern, wie sie bei Homer, bei Bocaccio uns begegnet ist. Allerdings ist es nicht der höchste Standpunkt, wenn Luther in ihr nur ein »äußerlich leiblich Ding« findet, aber welche Arbeit wäre der Geschichte erspart worden, wenn sie von dieser natürlichen Basis aus ohne weitere Rückläufe sich ungetrübt zu höherer Geistigkeit hätte fortentwickeln können?

Allein bekanntlich sprang der Geist der Reformation von dieser Natürlichkeit auf allen Gebieten schnell zu den entgegengesetzten Extremen über. Indem der Protestantismus es sich zur Aufgabe machte, auf den Geist des ersten ursprünglichen – nach seiner Meinung des reinsten und vollkommensten Christenthums zurückzugehen, nahm er nothwendig auch alle die Einseitigkeit an, mit welcher das christliche Bewußtsein zuerst aufgetreten war, sofern es seinen geistigen Universalismus noch nicht nach allen seinen Consequenzen in das Leben einzuführen vermochte, vielmehr von diesen und seinen natürlichen Beziehungen ganz absehend sich in einer blos geistigen Innerlichkeit bewegte, welche eben deßwegen eine jenen natürlichen Lebensgebieten ganz äußerliche blieb. Es ist bekannt, wie sich die Reformation gegen die freieren weltlichen Elemente, denen sie großentheils ihr Dasein verdankte, in eine Opposition setzte, welche ganz der des ersten Christenthums gegen das Heidenthum zu vergleichen ist, wie sie den Geist überall auf seinen fernsten, abstractesten Standpunkt zurückführte. Gleich in den ersten Jahren der herrschend gewordenen neuen Kirche wurde von jenen Beförderern der classischen Studien, welche in der endlich zum Ausbruch gekommenen großen Bewegung den Anfang eines neuen, natürlicheren und freieren Daseins begrüßt hatten, die lauteste Klage erhoben, daß die schönen Wissenschaften, daß der durch sie genährte Geist feinerer Humanität überall darnieder liege, daß überall wieder die alte kirchliche Finsterniß des Mittelalters über das Leben hereinbreche. Insbesondere jene alte Feindschaft gegen die Sinnlichkeit war jetzt wiedergekehrt, welche früher als das Charakteristische der ersten christlichen Jahrhunderte geschildert wurde und die von dem Mittelalter im Ganzen so glücklich überwunden war. Klöster und Cölibat waren jetzt freilich aufgehoben, aber statt daß sich dort die Ascese und Abstinenz nur äußerlich, nur in einzelnen Instituten und wie um den guten Schein zu wahren, vom Leben zurückgezogen hatte, um dasselbe nach allen seinen übrigen Beziehungen mit liebenswürdiger Indulgenz nur um so freier gewähren lassen zu können, war jetzt der finstere Ernst der Ascese über das ganze Leben ausgebreitet. Diese Strenge konnte natürlich nach allen ihren Consequenzen sich jetzt ebenso wenig als in den ersten Jahrhunderten geltend machen, das Leben reagirte dagegen zu heftig; aber sie galt wenigstens lange genug als Princip des ganzen religiös-sittlichen Daseins. Dieser puritanische Geist des Protestantismus ist hier nicht weitläufig zu schildern, es wird an der Anführung einiger Züge genügen, welche ihn insbesondere in seiner Einwirkung auf das geschlechtliche Leben auf's Anschaulichste darstellen. Es ist z.B. noch nicht so lange her, daß in Massachusets die aus der guten alten Zeit herrührende Verordnung abgeschafft wurde, welche einem Mann am Sonntag sogar seine eheliche Frau zu küssen verbot. Wem aber ein solcher einzelner Zug zu untergeordnet erscheint für die Charakterisirung einer ganzen großen Geistesrichtung, der erinnere sich so vieler Aeußerungen des modernen Pietismus, der denke namentlich an die Herrenhuter, diese ächte Verkörperung des alten Glaubens und der alten Zucht in einer sonst über dieselbe bereits weit hinausgeschrittenen Zeit. Daß über die Vereinigung der beiden Geschlechter das Loos entscheiden soll, darin wird man nichts Anderes finden können als eine richtige Consequenz des alten Grundsatzes, daß der Glaube das Absolute und Alleingeltende sei, durch welches jede andere Regung ausgeschlossen, jede Neigung oder Abneigung überwunden werden müsse, so daß also eines im andern nur den Christen suchen und lieben dürfe, nicht aber den Mann oder das Weib, nicht den natürlichen Menschen nach seiner körperlichen und geistigen Individualität. Wenn wir von Zinzendorf lesen, daß er die Schlafsäle seiner Gemeinde besuchte, um von der ehelichen Vereinigung, »von des Lagers vergnüglicher Feier den stillen, behaglichen Schleier« wegzuziehen, welchen »die nächtlichen Stunden bereiten, das schöne Gespinnst«, daß er sie vor das Betpult verwies und in das helle Kerzenlicht, so erblicken wir hierin denselben Widerwillen gegen die Ehe überhaupt, als eine befleckende Berührung mit Welt und Sinnlichkeit, und die nur sträubende Unterwerfung unter die Gebote der Natur, welche die alten Kirchenväter erfüllten. Diese unnatürliche Behandlung des natürlichsten Verhältnisses hatte dann freilich zur Folge, daß der in seiner rechtmäßigen Entwickelung unterdrückte Trieb sich in jene mystisch-sinnliche Spielerei und Buhlerei mit den himmlischen Personen flüchtete, welche bei vielen dieser religiösen Richtung Huldigenden dann zu sehr materiellen Verirrungen Anlaß gab. Ja Zinzendorf stand mit seinen angeführten Grundsätzen über die geschlechtliche Vereinigung bereits ganz aus dem Boden des verrufensten Muckerthums. Das Streben dieser Sekte ist auch kein anderes, als von der Sinnlichkeit ganz frei zu werden; sie sucht aber dieses Ziel nicht dadurch zu erreichen, daß sie von derselben sich möglichst ferne hält, da dieß ja doch immer ein vergebliches Streben bleibt, sondern indem sie die Sinnlichkeit als etwas eigentlich gar nicht Vorhandenes betrachtet, als Etwas, das wenigstens den nur auf das Uebersinnliche gerichteten Geist gar nicht berühren darf und nicht berühren kann. Nur sofern der Geist als Wille und Phantasie bei einem sinnlichen Akte sich betheiligt, nur so weit hat dieser für ihn Bedeutung. Das Muckerthum nimmt daher das, was man sonst mit dem dichtesten Schleier zu verhüllen pflegte, um jede störende Einmischung in die Mysterien der Natur ferne zu halten, umgekehrt vielmehr beim hellsten Tageslichte vor, in der Absicht, dadurch jede Regung der Phantasie zu ersticken und das Sinnliche als das blos Natürliche und Gleichgültige erscheinen zu lassen. Diesen Ausweg hat übrigens die unterdrückte Sinnlichkeit von jeher genommen; in seiner äußersten unnatürlichen Zuspitzung biegt der Spiritualismus nothwendig um und schlägt in sein Gegentheil über; Beweis davon sind die zahlreichen Sekten des Alterthums und der ersten christlichen Jahrhunderte, welche alle auf diese Weise die Sinnlichkeit in und durch sich selbst tödten wollten. Während also die in ihrer berechtigten Freiheit anerkannte Sinnlichkeit überall durch sich selbst sich zu geistiger Verbindung erhebt, verfällt die unterdrückte nothwendig in häßliche Unnatur. Das Muckerthum ist hievon nur das eclatanteste Beispiel; aus Erscheinungen aber, die aus demselben Princip hervorgehen und zu ganz ähnlicher Unsittlichkeit führen, besteht fast das ganze moderne Leben, welches als Gegengewicht gegen die unmittelbaren sinnlichen Triebe nur eine äußerliche Moral ohne ein inneres geistiges Gesetz der Schönheit und Sittlichkeit kennt.


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