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Kokain und Salvarsan

Nach den ersten zeitraubenden Beobachtungen erkannte der scharfsinnige und in schwierigen Kriminalfällen erprobte Detektiv Dörries, daß er sich hier auf ein eng begrenztes und fast undurchdringliches Gebiet begeben hatte.

Die Wochen seit dem geheimnisvollen Abend in der Tanzdiele waren so schnell vergangen, daß die wenigen Menschen, die mit dem Amerikaner überhaupt in Berührung gekommen waren, sich nur noch sehr dunkel gewisser Einzelheiten erinnern konnten. Aber nichts von all diesen Nachforschungen erbrachte irgend etwas Bemerkenswertes. Um so mehr glaubte er, den Erfolg im Laboratorium des Chemikers Dr. Grellnick zu finden.

Es ergab sich jedoch, daß auch in dieser Beziehung seine Hoffnungen zu hoch gespannt waren. Zwar ermittelte der Detektiv sehr schnell die Gewohnheiten des Chemikers; aber in dessen Abwesenheit gelang es ihm nie, den Arbeitsraum zu betreten, ganz gleich, unter welchen Vorwänden er dies versucht hatte. Immer empfing ihn Streichhan mit derselben Redensart: »Bedaure, mein Scheff is nich jejenwärtich, bemiehn Se sich jefällichst in de Zeit von elf bis zwei Uhr. Wen darf ick melden?«

Und wenn der Besucher den Wunsch ausdrückte auf den Herrn Doktor warten zu wollen, schnarrte Streichhan ebenso automatisch: »Bedaure, ick darf Ihn'n nich rinlassen, mein Scheff hat mir det strikte verboten. Bemiehn Se sich jefällichst in de Zeit von elf bis zwei Uhr!«

Damit war den Bemühungen des Detektivs bis auf weiteres ein Riegel vorgeschoben; denn ihm lag nicht im geringsten daran, mit Dr. Grellnick im Laboratorium ein Plauderstündchen zu haben, das bei der Gerissenheit des Chemikers doch zu keinem Ergebnis geführt hätte. Es mußte daher ein anderer Weg gefunden werden, um der beruflichen Betätigung des Laboratoriumsbesitzers und seinem Verkehr nachzuspüren. Den einzigen Stützpunkt für ein solches Unternehmen bot nur der alte Diener, und der Detektiv hatte aus diesem Grund vorläufig nichts Wichtigeres zu tun, als sich an Streichhan außerhalb seines Dienstes vorsichtig heranzupürschen.

Der alte Mann lebte zwar keineswegs in auskömmlichen Verhältnissen, aber seine Frau wußte sich durch Nebenbeschäftigungen allerlei kleine Einkünfte zu schaffen; und da er für keine Kinder zu sorgen hatte, ließ er es sich nicht nehmen, in jeder Woche mindestens einmal seinen Durst gründlich zu stillen, wie er dies von seinen besten Jahren her gewöhnt war. Dazu kam, daß seine Ehehälfte, von des Tages Last ermüdet, des Abends kein Bedürfnis verspürte, die Geschwätzigkeit ihres Gatten über sich ergehen zu lassen, andererseits aber der Herr des Hauses, nachdem er acht Stunden in verdorbener Luft zum größten Teil den Mund verschließen mußte, wenigstens einmal in der Woche die Notwendigkeit empfand, seine Zunge gründlich in Bewegung zu setzen. So kam zwischen den Parteien stillschweigend eine Einigung dahin zustande, daß Herr Streichhan bei ausreichender Kasse wöchentlich zweimal, sonst aber einmal seine Stammkneipe an der Straßenecke besuchen durfte, um mit den gleichwertigen Gästen des Lokals zu politisieren und über die schlechten Zeitverhältnisse zu schimpfen.

Der Detektiv Dörries hatte diese Gewohnheit bald herausgefunden. Er veränderte seinen äußeren Menschen dergestalt, daß Streichhan ihn nicht mehr wiedererkennen konnte, zog einen Arbeiteranzug an, setzte sich eine alte Mütze auf und begann nun, dasselbe Lokal an den betreffenden Abenden zu besuchen und sich allmählich mit dem alten Diener anzufreunden, bis er dessen Vertrauen und selbstverständlich auch die Duzfreundschaft erlangt hatte.

Eines Sonnabends kam »Willem«, wie sich der Detektiv nennen ließ, wieder, wie üblich, in die Kneipe, aber er zeigte sich diesmal ganz besonders gut aufgelegt und erbot sich auch sogleich, eine Lage zu »schmeißen«. Streichhan war hierüber nicht wenig erfreut; denn seine Kehle war an diesem Tag besonders trocken, und durch die unerwartete Bezahlung der Gasrechnung hatte seine Brieftasche ein empfindliches Loch bekommen.

Es wurde also manntüchtig gezecht, zu jedem Glas Bier eine dicke »Strippe«, Nordhäuser, Ingwer, Allasch und andere Schnäpse, so daß sich der alte Diener bald in redseligster Stimmung befand, und wie er dies in ähnlichen Lebenslagen immer zu tun pflegte, durch den Gesang des Reiterliedes »Morgenrot, Morgenrot« die Aufgeräumtheit seines Gemüts zu bekunden begann.

Der Gesang war freilich nicht nach jedermanns Geschmack, denn Streichhan krächzte mehr wie ein Hahn, als daß seine Stimme etwas Melodisches hatte; aber immerhin wollte »Willem«, der Detektiv, dem Alten die Freude nicht nehmen und ließ den ersten Vers geduldig über sich ergehen.

Endlich, als die letzten Worte »… ich und mancher Kamerad« heiser und schleppend ausgegröhlt waren, nahm er seinen Zechbruder am Arm und sagte belustigt in unverfälschter Berliner Mundart: »Nu halt man de Luft an, oller Freund, von wejen ›mancher Kamerad‹. Ich denke nich daran, schon jetzt ins Jras zu beißen, und du hast det ooch nich nötich, siehst aus wie'n junger Breitjam, vadienst dein anständijet Stück Jeld und hast keene Sorjen nich!«

Dieser Hinweis auf sein Einkommen nahm dem Laboratoriumsdiener nicht nur sofort seine Gesangsfreudigkeit, sondern auch die frohe Laune; denn die schlechte Bezahlung seiner Dienste war der wundeste Punkt in seinem gegenwärtigen Dasein, den niemand berühren durfte, ohne den Zorn des Ausgebeuteten und Unterdrückten über sich ergehen zu lassen.

Streichhan schnappte wütend nach Luft und leckte sich den herunterhängenden, von den mannigfachsten Getränken durchnäßten grauen Schnauzbart kreuzweise mit der Zunge, dann schrie er seinen neuen Freund mit verzerrtem Gesicht und verglasten Augen an: »So siehste aus, Willem, so siehste aus! Ick und 'n anständjen Vadienst, da kennste mein'n Ollen schlecht; wat der Dokter ist, der hat for mir keen Herz nich, überhaupt for keen'n Menschen. Der denkt nur an sich und sein Vajniejen; ob unsereener aber vahungert oder vadurschtet, det is ihm schnuppe. Wenn ick nich so'n oller Knopp war', dann hätt' ick die Arbeet längst jeschmissen. Längst jeschmissen hätt' ich se, sage ick dir. Aber so brauch ick ihn, vastehste, ick brauch ihn, den Menschenschinder, weil mir keener mehr nimmt als ollen Mann, vastehste. So sieht die Schofe aus, von wejen anständijet Stück Jeld! 'n paar Fennje kriege ick, 'n paar Fennje …!«

Der alte Diener schlug zur Bekräftigung mit der Faust auf den Tisch, daß die Schnapsgläser einen Freudensprung machten und die Gäste des Lokals, die sonst an keinen geringen Lärm gewöhnt waren, sich umblickten.

»Na, beruhije dir man«, sagte »Willem« beschwichtigend und schenkte von neuem ein, »det Jeschäft von dein'm Ollen wird wohl nich soviel abwerfen, det er dir dabei jut honorier'n kann. Er hat ja ooch außer dir keen'n Jehilfen nich; denn sonst brauchte er doch nich den Jestank von seine Brauerei alleene uffzuriechen; denn könnt ick mir doch an seine Stelle 'n Prowiser halt'n; aber wie jesagt, er hat's eben nich dazu!«

»So siehste aus«, knurrte Streichhan wieder, »so siehste aus! Wenn der nich ville Jeld hätt', dann könnt' er doch nich jede Nacht mit Meechen ausjehen. Sonne Weiber kosten doch Jeld, det vastehste doch, Willem! Und der Suff! Nich so wie wir, 'n eenfachet Jlas Bier mit Strippe, sondern immer Schlampanjer und de feinsten Weine dazu! Wenn er mir bloß von jede Nacht, die er vaschwiemelt, die Hälfte von seine Zeche jeben tat, würd' ick uff jede Zulage vazicht'n. Also, mit's Jeld hat der Jeiz nischt zu tun. Et is ja richtich, er hat ooch nie nischt und Schulden wie'n Major; aber wenn er vanünftich wär', könnt' er mir jut bezahl'n und brauchte ooch keene Schuld'n nich zu mach'n; denn det Jeschäft jeht jut! Ick sage dir, Willem, wenn ick det Labratorjum mit dir zusamm'n hätte, so'n vanünftijer Kerl, wie du bist, wir hätt'n heute schon Millionen, vastehste, Milljonen!«

Der geschwätzige Diener machte eine Atempause und fuhr dann leiser und geheimnisvoller fort:

»Mit'n Jehilfen hat det nischt zu tun. Bei sonn'm Jeschäft kann man sich keen'n fremden Mensch'n int Haus nehm'n. Det jeht nich, det würde ick ooch nich tun!«

Der Detektiv erwiderte nichts; denn er fühlte, daß in diesem Stadium der Unterhaltung mehr durch Schweigen als durch Reden zu gewinnen sei. – Nur, um seinen Zechbruder zu weiterer Geschwätzigkeit zu veranlassen, sah er ihm fragend ins Gesicht und hielt den Kopf in der gleichmäßigen Richtung, um, wie bisher, durch zustimmendes Nicken und dem überzeugten Ausruf »Jawohl!« oder »richtig« den Worten seines Duzfreundes Beifall zu spenden.

Diese Taktik erwies sich denn auch als zutreffend. Streichhan rückte jetzt ganz dicht an den Detektiv heran und flüsterte ihm mit viel Wichtigtuerei ins Ohr:

»Wat man so im Labratorjum braut, is ja nich de Hauptsache, Menschenskind! Wir mach'n allens, vastehste! Medizin for jede Krankheit. Pulver, Pillen und Tabletts, ooch Kräutersäfte und anderen Klimbim. Weeß der Deibel, wozu der Dokter det allens braucht. Manchmal kommt er ooch noch det Abends, wenn er keen Meechen hat, und kocht ohne mir. Ick merke det denn morjens an dem eklijen Jeruch und de verqualmte Bude, sonst is nischt zu seh'n. Aber, wenn de nu denkst, Willem, det mein Oller bloß vom Labratorjum 'n jroßen Herrn spiel'n kann, dann irrste dir!«

»Jawohl, det stimmt!« meinte der Detektiv und nickte mit dem Kopf.

»Nee!« rief der alte Diener entrüstet, »nee, det stimmt eben nich! Dabei kann er keene Seide nich spinnen, davon nich! Aber kiek mal!«

Streichhan machte eine Bewegung mit Arm und Hand, die zum Ausdruck bringen sollte: hintenherum. Dann flüsterte er, mit den Augen listig blinzelnd: »Nu vastehste doch, Willem, wat ick dir sag'n will?! Jeheime Sach'n, die man nich verkoof'n darf, womit man aber 's meiste Jeld vadient. Ick weeß nich, ob du det Zeuch kennst, wonach de Ausländer janz wild sind. Det eene is for 'ne jefährliche Krankheit, det andere macht jefiehllos: Salvarsan und Kokain. Ick habe mir die fremdländschen Namen jemerkt, weil ick die Etiketts immer abreißen und mit ›Typhus-Serum‹ und ›Milchzucker‹ ersetzen mußte. Det Zeuch jeht wie de warme Semmel beim Bäcker. Er kann jar nich jenuch liefern, se reißen's ihm beinahe aus de Hände. Det flutscht, sag' ick dir, da kannste Jeld seh'n. Aber, wie jesagt, der Dokter hat trotzdem nie nischt. Wie jewonn'n so zeronn'n. Fliejt allens wieder zum Fenster raus. Und de Schwindsucht hat er sich außerdem noch jeholt und pfeift uff m letzten Loch!«

»Wat du sagst!« flüsterte der Detektiv mit scheinbarem Bedauern, »kann een'm ja leid tun. So'n tüchtjer Mann, hat nie Jeld und is ooch noch krank dazu. Tut ein'm ja leid! Aber die Kunden, die det Zeuch von ihm koofen, komm'n die denn nu zu euch ins Labratorjum und hol'n den Kram ab? Da hättste ja nischt weiter zu tun, als immer bloß inzupacken und 's Jeld zu zähl'n, wie 'n Kommis hinter'm Ladentisch!«

»Du bist doch 'n dummer Kerl«, brummte Streichhan verärgert, »denkste denn, die Leute steh'n bei uns Poloneese an wie vor'm Butterladen?! So siehste aus! Dann hätt' uns de Polente längst jekappt. So dammlich sind wir nich, ick und mein Scheff, det wir uns fassen lassen! Nee, Willem, sonne Jeschäfte müssen mit der nötjen Vorsicht und Intellijenz abjewickelt werd'n, vastehste. Allens wird durch Zwischenhandel verkooft. Keen Mensch kommt ins Haus. Von eene Hosentasche voll Salvarsan lebste 'n halbet Jahr, aber besser als jetzt, und von 'ne Handvoll Kokain ebensolange. Nu merkste, det da keen jroßer Betrieb nötich is. Det macht der Dokter allens alleene. Und denn treffen se sich, der Kubalke und der Gurau, wat seine Ajenten sind, in een'm Kaffeehaus in der Friedrichstraße, oder, wenn der Dokter losjeht, in een'm Lokal am Kurfürstendamm, oder im Kokskeller, wie se det nennen, bei Robert Mürich in de Flottwellstraße. Dort wird det Zeuch ooch jleich vabraucht.«

»'n scheenet Jeschäft«, murmelte der Detektiv vor sich hin, »det kann nich jeder; aber da wundre ick mir erst recht, det er dir nich'n paar Prozenteken extra jibt!«

»Det is et ja eben, wat mir so wurmt«, jammerte der alte Diener, »nich mal 'ne Teuerungszulage. Und det er allens mit de Frauenzimmer durchbringt. Ooch for det Morphium, det er so unter de Hand an allerlei verdrehte Menschen vaschiebt und womit ick 'ne Menge Arbeet habe, krieje ick nich 'n Pfennich extra. So'n Jeizkrag'n is er!«

»Wat du sagst!« rief der Detektiv wieder teilnehmend aus, »et is doch kaum zu glaub'n, wo du ihm doch so in de Hand hast! Sonne Dummheit! Er muß sich doch sag'n, wenn du ihn eines Tages verpfeifst, is er doch jlatt jeliefert und kommt ins Kittchen. Da sollte er dich denn doch 'n bisken bei juter Laune erhalt'n!«

Streichhan warf sich in die Brust und nahm eine stramme militärische Haltung an, wobei ihm durch die Erschütterung der aufgenommene Alkohol rülpsend durch die Nase fuhr, so daß er sein Gesicht etwas verzog und die Augen zusammenkniff.

»Nee!« sagte er entschieden abwehrend mit dem rollenden Nebengeräusch eines Aufstoßers und seine rechte Hand zeigte auf das ergraute Haar, »nee, Willem, ick bin in Ehren alt jeworden und keen Denunziante nich. Hör'n, seh'n und schweij'n, det is meine Pflicht, und dafor lebe ick! – Aber weeßte, Willem, ick habe Durscht! Wie is et denn mit 'ne neue Lage?«

Der Detektiv beeilte sich, dem Wunsch seines Duzfreundes nachzukommen, denn er hoffte, nun bald Gelegenheit nehmen zu können, mit soviel Neuigkeiten bereichert, sich unauffällig zurückzuziehen.

Die Zecherei dauerte noch eine ganze Weile, bis der alte Diener so voll war, daß er nur mit Mühe nach Hause wankte.

Der Detektiv Dörries, der es wohl verstanden hatte, sich nüchtern zu halten, glaubte nun endlich genügend Anhaltspunkte gefunden zu haben, um aus dem Verkehr des Dr. Grellnick den richtigen Täter zu ermitteln. Leider war der nächste Tag ein Sonntag und die Polizeikommissare für derartige Fälle hatten keinen Dienst. Der Detektiv versuchte daher, noch am selben Abend von seiner Wohnung aus eine telephonische Verbindung mit dem Dezernenten für Schleichhandel zu erreichen, was ihm auch schließlich gelang.

Der Kommissar stellte ein rasches Eingreifen in Aussicht und versprach, dem Detektiv das gesammelte Material später für seine weiteren Ermittlungszwecke zu überlassen.


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