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Unter schwerem Verdacht

Der Architekt Werner Holdtmann war von der Wichtigkeit seiner neuentdeckten Spur so fest überzeugt, daß er den Entschluß faßte, den Rechtsanwalt Dr. Adler hiervon sofort in Kenntnis zu setzen.

Andererseits hielt die Polizei aber die Verdachtsgründe gegen Hilmas Jugendfreund und Verehrer für so dringend, daß der Staatsanwalt einen Haftbefehl gegen ihn erließ.

Dies geschah mit solcher Schnelligkeit, daß bereits um die Mittagsstunde des nächsten Tages zwei Kriminalbeamte in der Wohnung des Architekten erschienen, um dessen Überführung nach Moabit zu bewirken.

Aber Holdtmann war zu Dr. Adler unterwegs.

Tatsächlich traf er denn auch zur angegebenen Zeit im Anwaltsbureau ein und begegnete hier dem Dr. Grellnick, der nach seiner Aussprache mit Hilma sich über seine weiteren Maßnahmen mit deren Rechtsbeistand besprechen wollte.

Der Chemiker und der Architekt kannten sich seit vielen Jahren, zwar nur oberflächlich und durch den gesellschaftlichen Verkehr mit der jungen Dame, aber der Beweggrund der beiderseitigen Besuche und die Gegenwart des Rechtsanwalts der Untersuchungsgefangenen brachte es mit sich, daß zunächst von nichts anderem als dem geheimnisvollen Mord und die Suche nach dem eigentlichen Täter gesprochen wurde.

Dr. Adler zeigte sich den Bekundungen Holdtmanns gegenüber sehr skeptisch, weil er nicht einzusehen vermochte, was den ehemaligen Barbier oder dessen Helfer veranlaßt haben sollte, den Amerikaner umzubringen, da eine Beraubung in dem öffentlichen, von zahlreichen Menschen angefüllten Tanzlokal von vornherein ausgeschlossen war. Nach seiner Ansicht käme, falls nicht ein Verbrechen ganz besonderer Art vorläge, lediglich ein geheimer oder verschmähter Liebhaber in Betracht, der die Tat aus Eifersucht begangen habe. Gegen eine solche greifbare Möglichkeit müßten alle anderen Mutmaßungen in den Hintergrund treten. Dies entspräche auch seiner jahrelangen juristischen Praxis und Erfahrung.

Dr. Grellnick stimmte dem Rechtsanwalt zu, während Holdtmann auf dem Standpunkt verharrte, daß Milner wahrscheinlich das Opfer eines Raubanfalls geworden sei, ohne daß jemand dies bemerkt habe. Die Tatsache, daß man viel Geld bei ihm gefunden habe, schließe keineswegs aus, daß er vielleicht in einer anderen Tasche noch viel mehr Geld oder Juwelen verborgen gehabt habe. Nach den Mitteilungen der Pensionswirtin solle der Amerikaner allerlei Kostbarkeiten und Raritäten gekauft haben, von denen freilich niemand bei ihm etwas gesehen oder gefunden habe. Es sei doch nicht von der Hand zu weisen, daß ein Verbrecher erst nach der heimlichen Beraubung den Milner getötet habe, um das eine Verbrechen durch das andere zu verdecken und sich selbst und seinen Raub dadurch in Sicherheit zu bringen. Von einem verschmähten Liebhaber sei nicht die geringste Spur vorhanden; denn Fräulein Stephany habe keinen ihm unbekannten Verkehr gehabt. Er sei der einzige Jugendfreund, der mit ihr gelegentlich zusammengekommen sei, und gesellschaftlich habe sie bis vor etwa zwei Jahren nur noch zu Dr. Grellnick, einem älteren verheirateten Privatdozenten und zu einigen Berliner Familien Beziehungen unterhalten. Seitdem habe sie sehr zurückgezogen und nur ihrer wissenschaftlichen Ausbildung gelebt, so daß jede Liebesangelegenheit völlig ausgeschlossen sei.

Dr. Grellnick sah den Architekten, der seinen Worten schließlich einen begeisterten Schwung gab, ironisch lächelnd von der Seite an und sagte mit schlecht verhehlter Gleichgültigkeit, aus der doch eine gewisse innere Erregung zu erkennen war:

»Von Ihrem laienhaften Standpunkt aus mögen Sie nicht unrecht haben, Herr Holdtmann! Der erfahrene Jurist weiß aber, daß es auch Liebhaber gibt, von denen das Objekt der Liebe nie etwas erfahren hat, sogenannte stille Verehrer. Und da Hilma zu den äußerlich sehr reizvollen jungen Mädchen gehört und außerdem noch über Geist und erhebliche Reichtümer verfügt, mögen vielleicht mehrere solcher schwärmerischen Jünglinge nach ihr geschmachtet haben, ohne daß sie selbst einen einzigen Seufzer vernommen. Von einer derartigen Schwärmerei und geheimen Sehnsucht bis zur Beseitigung eines vermeintlichen Nebenbuhlers ist nur ein Schritt – eine Handlung im Affekt –, vielleicht menschlich zu begreifen, – ein Irrsinniger freilich, aber noch immer kein gewissenloser Verbrecher!

Es wäre für Hilma ein Glück gewesen, schon früher ihren Gatten zu wählen, dadurch hätte sie sich ihre Leidenszeit erspart. Schade, daß wir in den letzten Jahren meiner beruflichen Inanspruchnahme so wenig zusammengekommen waren!«

Der Architekt hatte sehr aufmerksam zugehört, während der Rechtsanwalt sich inzwischen mit seinen Akten beschäftigte. Nur der letzte Satz war ihm nicht recht verständlich, und deshalb blickte er Dr. Grellnick fragend an, als ob er noch eine erklärende Ergänzung erwarte.

Der Chemiker bemerkte dies wohl und fügte sofort mit dem gleichen ironischen Lächeln hinzu:

»Obwohl es eigentlich niemand etwas angeht, will ich Ihnen nicht verheimlichen, Herr Holdtmann, daß ich mich mit Hilma Stephany heimlich verlobt habe. Die Hochzeit soll sofort nach ihrer Freilassung erfolgen, das Aufgebot werden wir morgen beantragen. Sie werden begreifen, daß es für meine Braut besser gewesen wäre, sich früher in diesem Sinne zu entscheiden …!«

Ein heftiger Hustenanfall unterbrach Dr. Grellnick und hinderte ihn, weiterzusprechen. Sein Gesicht verfärbte sich grünlich-braun, und der Zigarettenrest flog in weitem Bogen aus seinem Mund.

Auf eine solche Erklärung war Holdtmann keineswegs gefaßt; denn er wußte, daß seine Jugendfreundin für den Chemiker keine Sympathien hatte, und sie deutete oft an, daß sie mit ihrem Halbvetter sehr ungern zusammenkomme, weil sie in seiner Nähe ein gewisses Gefühl gruseligen Unbehagens nicht loswerden könnte.

Die niederschmetternde Mitteilung, daß seine angebetete Hilma, für die er sein Leben hergegeben hätte, nunmehr für ihn unerreichbar sei, wirkte auf den schwärmerischen Architekten wie ein zündender Blitz aus heiterem Himmel. Zunächst starrte er, wie geistesabwesend und an allen Gliedern gelähmt, auf Dr. Grellnick. Dann begannen seine Lippen zu zittern, die Hautfarbe wurde aschfahl, und die Augen schlossen sich zuckend, als ob er plötzlich von einer schweren Krankheit befallen wäre.

Der Rechtsanwalt blickte mit dem Ausdruck der Verwunderung abwechselnd auf den Chemiker und Holdtmann, weil er sich nicht erklären konnte, weshalb der noch vor wenigen Minuten so lebensfrische und sprühende junge Mann mit einem Mal und ohne ersichtlichen äußeren Anlaß zusammengebrochen sei.

Dr. Adler erhob sich und fragte den Architekten teilnahmsvoll nach dem Ursprung des plötzlichen Unwohlseins, als das Bureaufräulein in demselben Augenblick hereintrat und meldete, daß sich zwei Herren soeben erkundigt hätten, ob ein Architekt Holdtmann im Sprechzimmer des Anwalts sei. Dr. Adler nickte bejahend, und kurz darauf überschritten die beiden Herren die Türschwelle. Der eine von ihnen legitimierte sich als Kriminalkommissar Vollmer, der andere als dessen Gehilfe.

Holdtmann, der die Worte des Fräuleins und der eintretenden Beamten vernommen hatte, bemühte sich, seine seelische Verstimmung zu meistern. Er reckte sich auf dem Stuhl in die Höhe und wendete seinen Kopf den beiden Herren zu, die sich ihm auch sogleich mit der Frage näherten, ob er der Architekt Holdtmann sei. Als er dies mit leiser Stimme und nicht wenig erstaunt bestätigte, wurde er für verhaftet erklärt und aufgefordert, den Beamten zu folgen.

Holdtmann erhob sich etwas verwirrt und schwankend. Wie ein Schlaftrunkener taumelte er einige Schritte zurück, sah den Kommissar fest und scharf an und rief mit lauter, aber vibrierender Stimme: »Was gibt Ihnen das Recht, über meine Freiheit zu verfügen?!«

Der Rechtsanwalt und Dr. Grellnick hatten sich ebenfalls erhoben und tauschten fragende Blicke, ohne vor Bestürzung ein Wort über die Lippen bringen zu können.

Dr. Adler fand zuerst seine Geistesgegenwart wieder. Er wandte sich an den Kommissar mit der Frage, ob denn ein ordnungsgemäßer Haftbefehl vorläge und ob es sich vielleicht nicht um eine Verwechslung handle.

Der Beamte griff in seine Brusttasche und überreichte dem Rechtsanwalt ein rötliches Blatt in Folioformat. Dr. Adler überflog hastig den Wortlaut des Haftbefehls, prüfte Unterschrift und Stempel und gab dem Kommissar das Papier dankend zurück; aber forschend betrachteten seine Augen den Architekten und maßen ihn vom Kopf bis zu den Füßen, wobei ein verächtliches Lächeln seine Mundwinkel leise umspielte. Dann schweiften seine Blicke zu Dr. Grellnick hinüber, der sich vergebens bemühte, aus dem sonderbaren und wortlosen Verhalten des Rechtsanwalts die Ursache des dramatischen Vorgangs zu ermitteln.

Der Architekt hingegen hatte die Beantwortung seiner Frage nicht erst abgewartet. Noch ehe der Kommissar das Papier wieder in seine Tasche versenken konnte, hatte er es ihm aus der Hand gerissen, – und kaum war ihm zu Gesicht gekommen, daß er unter dem dringenden Verdacht, den Amerikaner Fred Milner ermordet zu haben, in Untersuchungshaft genommen werden sollte, als er, laut aufschreiend, den Haftbefehl auf den Fußboden warf und den Beamten tobend und jammernd zurief:

»Das ist eine Wahnsinnstat der Justiz, ein Teufelsspuk hirnverbrannter Köpfe! Man beschuldigt mich eines Verbrechens, zu dem ich nicht im Traume fähig wäre! Mich wollen sie ins Gefängnis werfen, mich, der ich der einzige bin, der seit Tagen herumläuft, um eine Spur des wahren Täters zu ermitteln und ein schuldloses engelreines Geschöpf, das im Kerker schmachtet, aus den Krallen der verblendeten Justiz zu befreien, Hilma, die ich über alles liebe, der ich mein Leben gern zum Opfer bringen würde. Ja, wenn Sie mir versprechen, meine Hilma sofort in Freiheit zu setzen, will ich Ihnen bereitwillig folgen, sonst schleppen Sie nur einen Leichnam ins Gefängnis; denn meine Freiheit muß ich behalten, bis Hilmas Ketten gesprengt sind!« Holdtmann zitterte nach diesem Ausbruch seiner Leidenschaft am ganzen Leibe und klammerte sich mit beiden Händen an der Stuhllehne an, weil er umzusinken drohte.

Kriminalkommissar Vollmer trat einige Schritte näher an den Beschuldigten heran und entgegnete ruhig und sachlich:

»Wir haben Ihnen nichts zu versprechen, sondern nur unsere Pflicht zu tun. Wenn Sie nicht freiwillig folgen, müssen wir Gewalt anwenden. Ich warne Sie vor einem Widerstand gegen die Staatsgewalt. Ohne uns an der Vollstreckung des Haftbefehls hindern zu können, würden Sie sich nach Paragraph 113 des Strafgesetzbuches nur strafbar machen. Als gebildeter Mensch sollten Sie wissen, wie Sie sich in solchem Falle Beamten gegenüber, die nur ihre Pflicht erfüllen, zu verhalten haben. Im übrigen steht es Ihnen frei, gegen den Haftbefehl den gesetzlichen Weg der sofortigen Beschwerde zu beschreiten. Der Herr Rechtsanwalt wird dies vielleicht noch in Ihrer Gegenwart tun, wenn Sie sich keiner verbrecherischen Handlung bewußt sind und …!«

Dr. Adler unterbrach den Kommissar und wehrte mit beiden Händen lebhaft ab. »Ich will mit der Sache nichts zu tun haben«, sagte er bestimmt und etwas verärgert, »ich habe meine eigene Meinung über Herrn Holdtmann und möchte mich überdies nur den Interessen meiner Mandantin widmen!«

Der Chemiker blickte den Rechtsanwalt noch erstaunter an als zuvor und machte eine fragende Gebärde, die zum Ausdruck bringen sollte, daß er von dem ganzen Wirrwarr nichts begreife. Dr. Adler fing die stumme Bemerkung auf, ging einige Schritte erregt umher und warf dann wütend ein Aktenstück auf den Schreibtisch, indem er zu Dr. Grellnick gewendet ausrief: »Da hat man die alte Geschichte! Wochenlang macht man Kombinationen, sucht sogar in Amerika nach Beweggründen zu einem anscheinend außergewöhnlich geheimnisvollen Giftmord, und nun entpuppt es sich, daß die juristische Praxis schließlich doch recht behalten hat! Hab' ich's Ihnen nicht gesagt?! 'n einfacher Giftmord aus Eifersucht! Und Herr Holdtmann steht unter dringendem Verdacht. Er ist also einer der schwärmerischen Jünglinge, von denen Sie erst vor wenigen Minuten sprachen, Herr Doktor; einer, dessen Liebesseufzer von dem Objekt der Liebe nie vernommen wurden. Es ist mir unbegreiflich, wie ein Mann in reiferen Jahren solche Torheit begehen kann!«

Ein breites Grinsen gab dem gelblichen Gesicht des Chemikers etwas Teuflisches. Er zog gierig an seiner Zigarette und blies dicke Rauchwolken durch die Nase. »Hm … Hm!« sprach er halblaut vor sich hin, »die Sache ist nicht übel. Jetzt verstehen Sie auch, Herr Rechtsanwalt, weshalb der saubere Herr Holdtmann vorhin so eifrig für Raubmord plädierte und einen armseligen Kerl von Barbier als seinen persönlich entdeckten Täter unterschieben wollte. Aber Herr Holdtmann hat schlecht Komödie gespielt. Wir wissen sehr wohl, aus welchem Grund er plötzlich zusammenklappte, als Sie, Herr Rechtsanwalt, in weiser Erkenntnis der Dinge, davon sprachen, daß nur ein verschmähter Liebhaber sich an dem arglosen Amerikaner heimtückisch vergangen haben kann. Und daß Herr Holdtmann zu den Verschmähten gehörte, hm … das hat … hm … das hat eben die Tatsache meiner Verlobung mit Fräulein Stephany bewiesen! Wenn ihn bisher nichts anderes verraten hat, so war doch der Zusammenbruch seiner Nerven vor zehn Minuten der beste Beweis für sein schuldbeladenes Gewissen. Ja, meine Herren, das Gewissen, das Gewissen … eine sonderbare Sache!«

Wieder schüttelte ein Hustenanfall den Dr. Grellnick so heftig, daß ihm die Augen aus den Höhlen traten und er fast zu ersticken drohte.

Der Architekt wandte sich jetzt an die beiden Männer, die, von seiner Schuld offenbar überzeugt, in so abfälliger Weise über ihn gesprochen hatten. Es wurde ihm ersichtlich schwer, den Sturm der Leidenschaften, der in ihm tobte, einzudämmen und soviel Ruhe aufzubringen, wie erforderlich war, den haltlosen Verdächtigungen entgegenzutreten.

»Ihre juristische Praxis hat Sie diesmal schmählich im Stich gelassen, Herr Rechtsanwalt!« sagte er vorwurfsvoll und mit einem Unterton von Trotz, »der Schein trügt sehr oft, und diesmal ist der Wunsch der Vater Ihres Gedankens, weil Ihre Eitelkeit als Mensch und Anwalt berührt wird. Ich bin weder ein offener noch ein verschmähter Liebhaber von Fräulein Stephany gewesen, und der Amerikaner war mir völlig unbekannt. Es kann also von Eifersucht keine Rede sein. Daß ich Hilma, meine Jugendfreundin, leidenschaftlich verehre, ist eine Sache für sich. Und daß ich ihr nicht unsympathisch war, wird sie selbst wohl bestätigen. Wenn ich ihr meine Gefühle nicht offenbarte, so geschah dies deshalb, weil ich beruflich noch nicht so gefestigt war, mir einen eigenen Hausstand zu gründen, denn es widerspricht meinen Anschauungen von Mannesehre, einer Dame nur des Geldes wegen einen Heiratsantrag zu machen. Mein Gewissen ist frei von jeder Schuld; auch spricht nicht der Geist des Schwärmers aus mir, sondern die Stimme des Herzens, die selbstverständliche Ritterlichkeit eines Mannes, der ein schuldlos gefesseltes Weib befreien will! Und Sie, Herr Doktor, der in dem Zusammenbruch meiner Nerven ein schuldbeladenes Gewissen erblicken will, markieren den heimlichen Verlobten einer begüterten Dame und ahnen nicht, daß gerade Ihre Mitteilung der Ursprung meiner nervösen Erregung war. Nicht etwa aus Neid, Herr Doktor, weil Sie angeblich triumphieren, sondern weil ich in einer ehelichen Verbindung zwischen Ihnen und Hilma, wenn Ihre Angaben überhaupt zutreffend sind, den Anfang eines erschütternden menschlichen Dramas erblicke!«

Und mit erhöhter Stimme fuhr Holdtmann jetzt fort, und seine Augen sprühten Feuer, als er dem Dr. Grellnick zurief:

»Es ist nicht wahr, daß Sie die Liebe Hilmas errungen haben; denn Ihre Gegenwart verursachte in ihr von jeher einen tiefen Abscheu. Und wenn es Ihnen tatsächlich gelungen ist, ihr Eheversprechen zu erlangen, dann müssen Sie dies unter ganz besonderen Umständen erschlichen und das vielleicht eingeschüchterte Mädchen mit irgendwelchen Drohungen oder Lockungen umgarnt haben. Aber noch bin ich nicht davon überzeugt, daß Sie der bevorzugte und ich der verschmähte Liebhaber bin, wie Sie so höhnisch bemerkten. Das Gewissen der Zeit steht über uns, und der Lauf der Gerechtigkeit läßt sich ebensowenig ablenken, wie die Stimme des Herzens auf die Dauer zu unterdrücken ist. Aber das eine sage ich Ihnen, Herr Doktor …!«

Hier unterbrach Kommissar Vollmer höflich: »Verzeihung, meine Herren, wenn mich die Pflicht zwingt, Ihre Auseinandersetzung zu beendigen. Es war mir zwar sehr interessant, von dem Herrn Rechtsanwalt und dem Herrn Doktor zu erfahren, daß das Benehmen des Herrn Holdtmann schon vorher in Ihnen gewisse Verdachtsmomente aufkommen ließ, und ich werde Ihre Wahrnehmungen zu den Akten geben; aber jetzt muß ich entschieden darauf bestehen, den Häftling abzuführen!« Und zu dem Architekten gewendet, fragte er in etwas schärferer Tonart: »Sind Sie nun endlich bereit, oder …?!«

Holdtmann umklammerte die Stuhllehne noch fester und sah dem Beamten starr und schweigend ins Gesicht.

Nun sprangen die beiden Männer wie auf ein verabredetes Zeichen auf den Architekten zu und versuchten, mit dem üblichen Polizeigriff seine Handgelenke zu umfassen und ihn aus dem Zimmer zu zerren.

Der Angriff mißlang. Holdtmann wehrte sich mit dem Mut eines Löwen und der Kraft eines verwundeten Stiers. Die Beamten flogen zur Seite, und der bedrängte Häftling, jetzt wohl kaum noch seiner Sinne mächtig, erhob den Stuhl mit beiden Armen und holte zu einem wuchtigen Schlag gegen den Kriminalkommissar aus. Der Rechtsanwalt und der andere Kriminalbeamte traten dem Architekten noch rechtzeitig entgegen und konnten so im letzten Augenblick noch eine folgenschwere Tat verhindern.

Dr. Grellnick, der seinem vermeintlichen Nebenbuhler während dessen Auseinandersetzung mit ihm nicht ins Gesicht sehen konnte und nervös an seinen schmalen Lippen nagte, verhielt sich zwar noch untätig, aber man merkte es ihm an, daß er darauf wartete, sich mit List in den Kampf um die Festnahme des »schwärmerischen Jünglings« einzumischen.

Es entstand ein allgemeines Schreien und Toben. Der Kriminalkommissar drohte mit der Waffe und versuchte, den Häftling durch Befehlsworte im Kasernenhofton einzuschüchtern. Der Rechtsanwalt verbat sich energisch eine derartige Ruhestörung in seinem Hause und forderte Holdtmann auf, sein Sprechzimmer sofort zu verlassen. Und der von allen Seiten bedrängte Architekt schrie aus Leibeskräften: »Laßt mich in Ruhe und Freiheit, ich kämpfe nicht für mich, sondern für ein schuldlos eingesperrtes und gepeinigtes Weib. Nur über meine Leiche geht der Weg!«

Der Gehilfe des Kommissars hatte inzwischen die Handfesseln, eine Art von Knebeln, wie sie die Polizei bei widerspenstigen Verbrechern anzuwenden pflegt, aus der Tasche gezogen und dem Kommissar ein Exemplar davon heimlich verabfolgt. Jetzt sprangen die Beamten wieder auf den Häftling zu; es gelang ihnen auch, die Knebel um die Handgelenke des Widersätzlichen zu werfen; aber bevor sie imstande waren, die Schnur durch die beiden Handgriffe zusammenzudrehen, versuchte Holdtmann wieder, sich der Fesseln zu erwehren. Beinahe wäre ihm dies geglückt, wenn nicht Dr. Grellnick dem Kriminalkommissar zur Hilfe herbeigeeilt und durch Festhalten des einen Armes das Zusammenschnüren des Knebels ermöglicht hätte. Dann eilte er dem anderen Beamten zu Hilfe, und sein Nebenbuhler war in einer Sekunde wehrlos und gefesselt.

Die harte und dünne Knebelschnur schnitt wie ein scharfes Messer in das Fleisch, drängte das Blut an den Pulsen zurück und verursachte unsagbare Schmerzen. Holdtmann ertrug diese Qual mit der trotzigen Standhaftigkeit eines Märtyrers; aber allmählich wurde er infolge des verhinderten Blutkreislaufs schwach und willig, und bevor er zusammenbrach, zogen ihn die Beamten aus dem Zimmer.

Seine Lippen bebten, und Schaumblasen traten aus seinem Mund. Während dicke Schweißperlen über sein Gesicht liefen, stöhnte er aus tiefer Brust:

»Hilma …, meine arme Hilma …, wer wird dich erretten!«

Dr. Grellnick ergriff schnell seinen Hut und Stock und folgte den Kriminalbeamten, für den Fall, daß seine Hilfe erforderlich sein sollte.

Auf der Straße wurde der Architekt in eine vorüberfahrende Droschke geschoben und geradewegs in das Untersuchungsgefängnis in Moabit eingeliefert.

Als der Chemiker nach einer knappen Stunde zum Anwaltsbureau zurückkehrte, begegnete er dem Dr. Adler, der sich bereits auf dem Heimweg befand, an der Haustür.

»Na, haben Sie den Wüterich endlich verstaut?« fragte der Rechtsanwalt.

»Gottseidank!« erwiderte Dr. Grellnick lachend, »der hat sich nicht umsonst seiner Haut gewehrt, er wußte, was ihm bevorstand!«

»Man wird ihm wohl schwerlich seine Tat beweisen können«, erwiderte Dr. Adler nachdenklich, »aber das Gewissen, das sich zur gegebenen Zeit doch offenbart, ist schließlich auch ein Indizium. Auf Wiedersehen, Herr Doktor!«

»Auf Wiedersehen, Herr Rechtsanwalt!« entgegnete der Chemiker immer noch mit gezwungenem Lächeln und reichte Dr. Adler die Hand, »das Gewissen, ja, das Gewissen … ist doch ein sonderbares Ding!«

Das Lächeln des Dr. Grellnick verschwand allmählich. Er blickte sich noch einige Male um, ob der Rechtsanwalt ihm nachschaue, und sein Gesicht verfinsterte sich, sein Gang bekam etwas schleppendes.

Eine Likörstube warf ihr grelles Licht auf die Straße.

Dr. Grellnick trat hinein und goß hastig zwei Schnäpse hinunter.

Als er sich zufällig im Spiegel sah, schauerte er zusammen, schob seinen Rockkragen in die Höhe und stahl sich scheu hinaus.


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