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Ein Rätsel der Wissenschaft

Die Obduktion der Leiche des Amerikaners Milner in Gegenwart hervorragender medizinischer Sachverständiger hatte kein positives Ergebnis. Nur darin waren alle Gelehrten einig, daß jede Spur einer natürlichen Todesursache fehlte, und daß der Verstorbene ein außergewöhnlich kräftiger und gesunder Mann gewesen sei.

Andererseits aber konnte der Verdacht eines gewaltsamen Todes auch nicht mit Sicherheit verneint werden. In diesem Fall mußte es sich jedoch um ein bisher noch unbekanntes Gift handeln, das das Blut erstarren läßt, ohne einen chemischen Bestandteil im Körper zurückzulassen. Ein Rätsel der Wissenschaft.

So blieb also nach wie vor das schnelle Erstarren der Leiche als angebliches Merkmal eines Giftmordes bestehen, und mangels eines anderen Anhaltspunktes mußte die Begleiterin des Deutschamerikaners unter dem dringenden Verdacht der Täterschaft in Untersuchungshaft belassen werden, obwohl nicht der geringste äußere oder innere Beweggrund zu einem solchen Verbrechen vorhanden zu sein schien.

Tatsächlich hatte Hilma Stephany, wie die Dame hieß, keine Veranlassung, nach dem Gelde ihrer Mitmenschen lüstern zu sein. Sie war seit einem Jahr Erbin eines großen Vermögens, das ebenfalls aus Amerika stammte und ihr, deren Eltern jung gestorben waren, von ihrem Großvater, einem Fabrikbesitzer in Chicago, hinterlassen worden war. Und diese Erbschaft wiederum war die Veranlassung zu der Bekanntschaft mit Fred Milner, der dem Erblasser nahestand und vor kurzem nach Deutschland übersiedelte, um hier Einkäufe zu machen und Handelsbeziehungen anzuknüpfen.

Auch in seelischer Beziehung lagen nicht die geringsten Bedenken vor; denn die Wesensart des dreiundzwanzigjährigen Mädchens war so verschieden von der Weltanschauung des um zehn Jahre älteren Mannes, daß die Vermutung einer geheimen oder gar krankhaften Neigung nicht aufkommen konnte. Hilma Stephany hatte seit dem Tod ihrer Eltern ein so reichliches Einkommen aus Besitz und Landgütern, daß sie ihre weitere Ausbildung ganz ihren Wünschen und ihrer idealen Lebensauffassung entsprechend gestalten konnte. Sie widmete sich daher den schönen Künsten und allgemeinen Wissenschaften und blieb ihren Neigungen auch treu, als ihr das unerwartete Riesenerbteil zugefallen war.

Fred Milner hingegen, der Sohn einer Kaufmannsfamilie, selbst sehr begütert, war von Jugend an materiell gerichtet. Er lebte ganz dem Geschäft und dem Verdienst, ohne deshalb den Vergnügungen des Lebens abhold zu sein. Die verzweigten bureaukratischen Wege, die bis zur Auszahlung des Nachlasses erforderlich waren, führten dazu, daß Fred Milner sich in Chicago der Interessen des jungen Mädchens annahm, und als er selbst nach Deutschland kam, lag es nahe, daß die Erbin aus Dank für die geleisteten Helferdienste sich dem Amerikaner als Ratgeberin und Führerin in der Großstadt zur Verfügung stellte. Ebenso war es selbstverständlich, daß Milner diese Bereitwilligkeit nicht zurückwies.

Aus solchen rein äußerlichen Beziehungen konnte die Behörde also unmöglich ein Verbrechen konstruieren. Und doch war Hilma die einzige Person, die, falls ein Giftmord vorlag, nach menschlichem Ermessen die Täterin, und noch dazu eine sehr raffinierte und heimtückische, gewesen sein mußte. Nur die Beschaffung des sonderbaren Giftes war eine Frage, die nicht der Wissenschaft allein, sondern auch dem Untersuchungsrichter ein schwieriges Rätsel aufgab.

Der Rechtsanwalt Dr. Adler, der das so schwer verdächtigte junge Mädchen als dessen Verteidiger in der Gefängniszelle besuchte, vermochte sich selbst der ungünstigen Umstände nicht zu verschließen, die zu einer scheinbar starken Belastung seiner Schutzbefohlenen geführt hatten. Er sprach auch seine Meinung hierüber offen aus und versuchte im Laufe der Unterredung zu ermitteln, ob sich nicht gewisse Anhaltspunkte finden ließen, die zur Aufklärung der dunklen Angelegenheit oder mindestens zur Ablenkung auf eine andere Spur geeignet wären.

Hilma, die sich sehr ruhig und gefaßt zeigte, hörte die Bedenken ihres Rechtsbeistandes mit Gleichmut an. Sie beteuerte nach wie vor ihre Schuldlosigkeit und erklärte, trotz allen Nachdenkens, keine einzige Persönlichkeit namhaft machen zu können, die ein Interesse daran gehabt haben sollte, den Amerikaner in heimtückischer Weise umzubringen. Die Tanzdiele sei zwar überfüllt gewesen, und durch das Gedränge habe sie auch nicht auf ihre Umgebung geachtet, sie könne sich aber nicht erklären, weshalb irgendeine Person die Schokolade des Milner vergiftet haben sollte, da der Verbrecher doch nicht in der Lage gewesen wäre, sein Opfer zu berauben, also den Erfolg der Tat zu sichern. – Vielleicht käme ein unglücklicher Zufall in Betracht, dergestalt, daß die Schokolade in der Konditoreiküche mit einem Gift in Berührung gekommen sei.

Der Rechtsanwalt erwiderte, daß zu einer solchen Annahme kein vernünftiger Grund vorhanden sei; denn die Schokolade werde nicht tassenweise zubereitet, sondern in größeren Mengen, und es hätte dann die gesamte Schokolade vergiftet sein müssen.

Hilma zuckte die Achseln und schwieg.

»Ja, wenn Sie mir nichts anderes zu sagen haben, Fräulein Stephany«, fuhr Dr. Adler etwas gereizt fort, »dann weiß ich wirklich nicht, wie ich Sie vor den Geschworenen von dem dringenden Verdacht des Giftmordes reinigen soll!«

Das Mädchen erbleichte bei dem Gedanken an eine Gerichtsverhandlung gegen sie, und vielleicht kam ihr auch jetzt zum ersten Mal zum Bewußtsein, welches entsetzliche Schicksal ihr bevorstände, wenn auch die Richter von ihrer Schuld überzeugt sein würden.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und trotz aller Selbstbeherrschung, die sie bis jetzt standhaft bewahrt hatte, fühlte sie plötzlich eine derartige Anwandlung von Schwäche, daß sie in krampfhaftes Schluchzen ausbrach.

Den Rechtsanwalt ergriff ein starkes Mitleid für seine Klientin; er versuchte sie zu trösten und sagte beschwichtigend:

»Bis zur Hauptverhandlung können noch viele Monate vergehen. Inzwischen wird sich die Sache vielleicht noch aufklären. Lassen Sie den Mut nicht sinken; denn es ist besser, Sie erwägen mit klarem Kopf alle Umstände, die zu Ihrer erfolgreichen Verteidigung angeführt werden können, als daß Sie sich nutzloser Verzweiflung hingeben. – Ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich in meiner langjährigen Praxis einen so merkwürdigen, ich möchte beinahe sagen: geheimnisvollen Fall noch nie zu behandeln gehabt habe!«

Als die seelische Erschütterung sich etwas gelegt hatte, erwiderte Hilma, noch immer leise schluchzend und mit tränenerstickter Stimme:

»Wenn Sie selbst an meiner Schuldlosigkeit zweifeln, Herr Rechtsanwalt, dann bin ich verloren. Ich bitte Sie flehentlichst, alles zu versuchen, damit ich aus diesem furchtbaren Kerker herauskomme und mich frei bewegen kann; denn nur so wäre ich vielleicht in der Lage, mit Hilfe von Freunden und Bekannten zu ermitteln, ob Herr Milner mit gefährlichen Menschen zusammengekommen ist. Wir haben während der zwei Tage seines Berliner Aufenthalts nur mittags bei Kempinski gespeist, sind einen Abend im ›Wintergarten‹ gewesen, und als uns nach dem Besuch des U.T.-Kasinos am Kurfürstendamm das schlechte Wetter überraschte, sind wir in die unglückselige Konditorei der Tanzdiele geraten. Ich weiß lediglich, daß er in einem mir bekannten Pensionat in der Tauentzienstraße Wohnung gefunden, und daß er sich nach seinen Andeutungen schon in der ersten Nacht auf eigene Faust in Berlin amüsiert hat. Vielleicht kann die Pensionswirtin über seinen sonstigen Verkehr Aufklärung geben. Ich selbst kann nur versichern, daß ich mit Giften nicht Bescheid weiß, daß ich keine Veranlassung hatte, einen Menschen, dem ich zu Dank verpflichtet war, umzubringen, und daß ich schuldlos bin wie ein neugeborenes Kind. Wenn mich das Gericht dennoch schuldig spräche, dann müßte ich an der Gerechtigkeit der Menschen überhaupt verzweifeln!«

Dr. Adler schüttelte lächelnd mit dem Kopf und antwortete streng und bestimmt, aber doch mit einem Unterton von väterlicher Wärme:

»Sie verkennen offenbar die juristische Lage, mein Fräulein! Es kommt nicht darauf an, daß ich an Ihre Schuldlosigkeit glaube, sondern daß die Geschworenen davon überzeugt sind. Freilich kann man sie ohne Beweise nicht verurteilen; aber die Fälle, in denen Indizienbeweise selbst zu einem Todesurteil genügten, sind zahlreicher, als der Laie weiß. Was uns vor allem fehlt, ist, wie schon erwähnt, entweder die Ermittlung des Täters oder zum mindesten so schwerwiegende Verdachtsmomente gegen eine andere Person, daß die vorhandenen Indizien gegen Sie völlig verblassen. – Nach meiner heutigen Rücksprache mit dem Untersuchungsrichter gehört alles das, was Sie mir zu Ihrer Entlastung soeben erzählt haben, gerade zu dem Belastungsmaterial gegen Sie; denn der Staatsanwalt findet in diesen Umständen den Beweis dafür, daß Sie sich bemüht haben, den Verstorbenen an sich zu fesseln. So hat zum Beispiel die Pensionswirtin, die bereits vernommen ist, ausgesagt, daß Sie die beiden Zimmer für den Amerikaner bestellt hätten, und daß Milner ihrer Meinung nach nur mit Ihnen zusammengewesen sei. Die Frau will auch gehört haben, daß Sie dem Herrn, als Sie ihn nach seiner Ankunft in die Wohnung begleiteten, eine Bank empfahlen, wo er sein Geld deponieren sollte. Und da es sich in diesem Fall um Ihre Depositenkasse handelt, folgert die Behörde hieraus, daß Sie ein besonderes Interesse gehabt haben müssen, gerade Ihre Bank zu empfehlen, da jede Berliner Großbank Sicherheit genug biete. Man nimmt nun an, Sie wären überzeugt gewesen, daß Milner Ihren Rat befolgt habe, so daß Sie am Tage nach der Tat mit einem gefälschten Scheck das Vermögen des Toten von der Bank haben abheben wollen. Wenn es sich hierbei auch um gewagte Hypothesen handelt, so ersehen Sie doch daraus, daß dieselben Umstände, von verschiedenen Seiten beleuchtet, jedesmal eine andere Färbung annehmen!«

Hilma Stephany starrte vor sich hin. Sie fand keine Worte, solchen juristischen Konstruktionen entgegenzutreten. Vor ihrem Geiste wurden die mittelalterlichen Hexenprozesse lebendig, von denen sie viel gelesen und in denen ähnliche Spitzfindigkeiten unschuldige Geschöpfe auf den Scheiterhaufen gebracht. Sie sah die Richter mit Hornbrillen und Halskrausen stechende Blicke auf sie werfen und sich selbst unter dem Beil des Henkers, kraftlos und machtlos gegen eine höhere Gewalt, die ihre Vernichtung bestimmt hatte.

Das Mädchen schüttelte sich vor Schaudern. Eiskalt durchlief es ihren Körper und machte ihr Blut erstarren. Fröstelnd rieb sie ihre Hände, und der schlanke Leib erzitterte wie eine vom Sturm gepeitschte Weidenrute. Der Rechtsanwalt wandte den Blick von seiner beklagenswerten Klientin und versank in tiefes Nachdenken.

Angesichts der Hilflosigkeit des Mädchens versuchte er nun aus dem reichen Schatz seiner Erfahrungen selbst einen Rettungsweg zu finden. Und nachdem er eine ganze Weile dies und jenes erwogen hatte, fragte er, als ob ihm plötzlich ein besonders guter Einfall gekommen wäre:

»Haben Sie vielleicht an Milner gelegentlich seelische Depressionen beobachtet, die einen Selbstmord nicht für ausgeschlossen halten?! Unterbrechen Sie mich nicht, bitte, bis ich meine Fragen beendet habe! Sie erzählten mir, daß Ihr Begleiter seine Tasse Schokolade hastig und in einem Zuge geleert habe. Sollte er vielleicht, mit Selbstmordgedanken behaftet, ein bei uns noch unbekanntes, schnell wirkendes Gift bei sich getragen und unbemerkt in seine Tasse geschüttet haben? Die äußeren Umstände wären dem nicht entgegen. Bei Psychopathen kommt es oft vor, daß sie gerade in der fröhlichsten Umgebung plötzlich den Entschluß fassen, aus dem Leben zu scheiden. Und dieses gewaltsame Ende eines mit sich und der Welt unzufriedenen Daseins nach einem flotten Walzer paßte nicht übel zu der sonst auch bündigen Art dieses Mannes. Wenn wir nun seinen ganzen Werdegang begleiten, finden wir vielleicht sogar die Ursache dieser psychopathischen Entwicklung. Wir sehen den Knaben unter strenger väterlicher Zucht heranreifen, die Tätigkeit des Gehirns fast ausschließlich auf Gelderwerb gerichtet. In den wenigen Mußestunden, die dem Jüngling verbleiben, wird der Körper durch Sport gestählt, nicht zum Vergnügen etwa, sondern zur Widerstandskraft für den Kampf um den Gewinn. Und dem Manne in der Blüte seines Lebens und im Umgang mit Künstlern und Gelehrten kommt schließlich das Bewußtsein, daß der Besitz des Geldes zwar eine Macht darstelle, mit der vieles zu erlangen sei, aber mit allem Geld der Welt nicht das eine: die Wertung des höheren Menschen. – Solche Männer nun, die mit einem starken Einschlag von Eitelkeit behaftet sind, entwickeln sich dann psychopathisch, weil sie ihren Geldbesitz im Vergleich zu der Nichtigkeit ihres Wesens als Kulturträger und Förderer innerhalb der menschlichen Gesellschaft als eine vom Schicksal ihnen aufgebürdete schwere Kette empfinden, die ihr Menschentum allmählich erdrosselt. Erschwerend für den Lebensüberdruß solcher Menschen fällt noch das Mißtrauen ins Gewicht, das sich bei ihnen im Laufe der Zeit entwickelt und entwickeln muß, weil sie bei allen Regungen der Seele, Zuneigung, Freundschaft und sogar der Liebe des Weibes, den Gedanken nicht überwinden können, dies alles geschehe nur des Geldes wegen. Unter solchen Umständen ist es schließlich zu begreifen, wenn ein Mann, dem das Leben nichts Höheres, nichts Ideales bietet, Hand an sich selbst legt!«

Dr. Adler machte eine kleine Pause, und Hilma schickte sich an, die Frage sofort zu beantworten. Der Rechtsanwalt aber winkte hastig ab und fuhr fort:

»Wir haben auch einen anderen Punkt noch nicht berührt, der ebenfalls zu einem Selbstmordmotiv hätte Veranlassung geben können. Hierbei muß ich Sie noch besonders darauf aufmerksam machen, daß Sie mir die reine Wahrheit zu sagen haben und nichts verschweigen dürfen, selbst wenn Ihre Mädchenhaftigkeit sich dagegen auflehnen sollte. Als Rechtsanwalt bin ich zur Verschwiegenheit eidlich verpflichtet. Ich frage Sie nun, hat Milner sich Ihnen als Mann genähert und Ihre Gegenliebe zu erlangen versucht? Hat er Ihnen einen Heiratsantrag gestellt, und Sie haben ihn zurückgewiesen? Und falls dies zutrifft, sind Sie in der Lage, hierfür einen Beweis anzutreten? Ferner: Haben Sie jemals etwas von einem amerikanischen Duell gehört? Ein solches beruht auf der Vereinbarung, daß ein Mensch an einem bestimmten Tage und zu einer bestimmten Stunde sich selbst zu richten habe. Dieser Selbstmörder wird durch das Los veranlaßt, seinem Gegner Platz zu machen. Es ist zwar nicht üblich, daß derartige sonderbare Duellanten über ihre bevorstehende Selbsthinrichtung zu dritten Personen sprechen, aber immerhin könnte Milner Ihnen doch eine leise Andeutung gemacht haben. Vielleicht ist er sogar nur zu dem Zwecke nach Deutschland gereist, um hier ohne Aufsehen zu verschwinden und seinen Angehörigen die mit solchen Dingen immer verbundenen Unannehmlichkeiten, auch in bezug auf die öffentliche Meinung, zu ersparen!«

Hilma machte ein nachdenkliches Gesicht und erwiderte zögernd, als ob sie darauf bedacht sei, auch nicht ein einziges Wort von dem zu vergessen, was sie sich während der Ausführungen ihres Verteidigers zurechtgelegt hatte:

»Mein lieber Herr Doktor! Wenn mir die von Ihnen erwähnten seelischen Verirrungen in der Theorie auch nicht unbekannt geblieben sind, so werden Sie wohl begreifen, daß ich an einem Manne, der mir seit zwei Tagen bekannt ist, keine sonderlichen Beobachtungsstudien machen kann. Milner war zweifellos von anderer Art als die Herren, mit denen ich bisher in Berührung gekommen; aber, man darf auch nicht vergessen, daß er, als Amerikaner erzogen, für mich etwas Fremdes und Ungewöhnliches an sich hatte. Er sprach sehr wenig, lachte selten und hielt mit seinem Urteil sehr zurück. Wenn er sich über Dinge äußerte, berührte er nur die praktische Seite, und tatsächlich schien ihm alles ungewohnt, was sich auf ideelle Werte und nicht auf Geld bezog. Nie kam ein Wort über seine persönlichen Angelegenheiten zur Sprache, und wenn dies als Beweis dafür gelten kann, daß er sich zu unglücklich fühlte, um mit einem anderen Menschen über seine seelischen Regungen Gedanken auszutauschen, dann möchte ich diese sonderbare Verschlossenheit beinahe als psychopathisch bezeichnen und Ihre glückliche Idee eines Selbstmordes nicht von der Hand weisen. Aus dieser kurzen Charakterisierung ergibt sich auch ohne weiteres, daß eine Annäherung von seiner Seite, die übrigens niemals Erfolg gehabt hätte, weil mir materiell gesinnte Männer unsympathisch sind, gänzlich ausgeschlossen war. Sicherlich hätte ein Typ wie Milner wegen verschmähter Liebe auch keinen Selbstmord begangen.

Was das amerikanische Duell anbetrifft, habe ich wohl früher von solchen Verrücktheiten gehört. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß ein so vernünftiger und geschäftsgewandter Mann einem derartigen Unsinn zum Opfer gefallen sein soll!«

Der Rechtsanwalt lauschte dieser Mitteilung mit sichtbarer Spannung, schien aber schließlich doch etwas enttäuscht zu sein, denn er sagte kurz, beinahe klang es wie ein Stoßseufzer: »Tja, mein Fräulein, dann sind wir mit unserem Latein zu Ende! Ich werde nun versuchen, in der Heimat des Verstorbenen nach seiner psychischen Veranlagung Ermittlungen anzustellen. Leider bin ich zu sehr in Anspruch genommen, weshalb ich mich gern einer tatkräftigen Beihilfe bedient hätte. Gestern war ein Jugendfreund von Ihnen bei mir, ein Architekt Holdtmann, der von Ihrem Mißgeschick – er bekam durch die Zeitungen Kenntnis davon – sehr schwer betroffen schien und sich mir zur Verfügung stellte. Halten Sie es für zweckmäßig, mich seiner Hilfe zu bedienen? Am liebsten wäre mir freilich ein naher Verwandter, weil schließlich Blut doch dicker ist als Wasser!«

Hilma machte ein erstauntes Gesicht, und ein Lichtstrahl der Freude erhellte ihre vergrämten Züge. »Ach, der Werner Holdtmann!« seufzte sie, »wie schön waren die Stunden, die wir früher gemeinsam verbracht. Er hat mich also nicht vergessen. In der Not erkennt man immer seine wahren Freunde! Ihm können Sie wohl vertrauen, Herr Rechtsanwalt, er ist ein braver Mensch, klug und energisch, außerdem aber leitet ihn eine hohe ideale Gesinnung. Deshalb hat er es zwar zu keinen materiellen Gütern gebracht, aber sein Menschtum schätze ich höher als Reichtum!«

Das Mädchen machte eine kleine Pause und fuhr dann fort:

»Ich habe soeben über meine Verwandtschaft nachgedacht. Unsere Familie war leider nicht weit verzweigt, so daß ich Ihnen keinen direkten Verwandten namhaft machen kann. Da lebt noch ein Dr. Grellnick, Chemiker von Beruf, jetzt vielleicht ein Mann von neunundzwanzig Jahren. Seine Großmutter war die älteste Schwester meines Vaters. Der Altersunterschied war sehr bedeutend, weil mein Vater als später Nachkömmling zur Welt kam. Diese Tante war schon längst verstorben, als ich geboren wurde, ich kannte nicht einmal die Mutter des Dr. Grellnick, meine Kusine. Von Verwandtschaft ist hierbei wohl kaum noch eine Spur, aber mit Dr. Grellnick bin ich noch vor Jahresfrist zusammengekommen, so daß er sich wohl meiner annehmen dürfte. Seine Adresse finden Sie im Telephonbuch, denn er unterhält ein ziemlich bekanntes Laboratorium im Westen Berlins!«

Dr. Adler erhob sich.

»Da haben wir also gleich zwei Helfer«, sagte er im geschäftsmäßigen Tone, seiner Klientin die Hand zum Abschied reichend, »und das ist gut, weil es harte Arbeit geben wird. Vielleicht wird uns der Chemiker auch bei der Erörterung des eigentümlichen Giftes als Sachverständiger nützen können!«

Hilma begleitete ihren Rechtsanwalt bis zur Gefängnistür, die von der Aufseherin geöffnet wurde.

Dann fiel der Riegel klirrend ins Schloß, und Hilma Stephany, die des Giftmordes verdächtige reiche Erbin, versank wieder in ein bohrendes Grübeln über die Wandelbarkeit des Schicksals.

Ein kurzer Sonnenstrahl verirrte sich an der Kerkerwand. Wehmütig blickte das Mädchen zu dem vergitterten Fensterchen hinauf, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.


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