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Tanz und Tod

Rhythmische Klänge gedämpfter Geigenmusik und die dumpf hämmernden Töne eines Klaviers durchdringen, vom Hintergrunde her sich durch die dicke Luft wälzend, den Tanzraum der Diele am Kurfürstendamm.

Den ganzen Tag bis zum späten Nachmittag ist das Kaffeehaus fast menschenleer. Nur ein Unkundiger verirrt sich hier gelegentlich und vorübergehend, um in aller Eile einen Imbiß oder ein Getränk zu genießen.

In der Konditorei, dem Vorderraum des Lokals, sind die Stühle beinahe bis zur Mittagsstunde auf die Tische gestellt, um die Säuberung, die auch erst am späten Morgen beginnt, besser und schneller erledigen zu können.

Die einzige weibliche Person, die außer der Reinemachefrau hier um diese Zeit anzutreffen ist und sich zumeist mit dem Putzen der metallenen Zierate des Büfetts beschäftigt, versieht auch zugleich, falls erforderlich, den Dienst einer Kellnerin, ohne dem seltenen Vormittagsgast besonders liebenswürdig zu begegnen.

Der anschließende Tanzraum, den man eigentlich als Diele bezeichnet, ein geräumiger Saal, macht trotz seiner mit viel Absicht und wenig Geschmack herausgeputzten Inneneinrichtung einen öden und verträumten Eindruck. Die Stühle und Tische an den Wänden wirken wie in Reih und Glied aufgestellte Attrappen, und an den hohen Fenstern, die langen seidenen Vorhänge, die auf dem Parkettboden schleppen, scheinen im Schlaf herabstürzen zu wollen, um den ganzen, im Dämmerlicht schlummernden Saal wie mit einem Bettuch zuzudecken.

Von fünf Uhr ab sieht es hier anders aus. Allmählich füllt sich die Konditorei. Vor dem Eingang zur Diele wird eine Garderobe errichtet. Eine dicke Frau mit einer schlanken Gehilfin treffen geschäftig alle Vorbereitungen, und bald ist der Betrieb denn auch in vollem Gange.

Lachend und scherzend treten die jungen Paare heran, modisch gekleidet bis auf die neuesten Farben der durchsichtigen Strümpfe und die letzte Form der lackierten Schuhspitzen, werfen Mäntel und Hüte auf den Garderobentisch und schlüpfen Arm in Arm oder sich zärtlich umfassend in die Diele. Andere wiederum folgen wortlos, blasiert, mit gleichgültiger Geschäftsmäßigkeit.

Außer den Stammgästen, deren Gewohnheit oder Bedürfnis es ist, hier am Nachmittag bis zum späten Abend oder gar die halbe Nacht hindurch das Tanzbein zu schwingen, finden sich die verschiedensten Gesellschaftskreise und merkwürdige Gestalten der Großstadt ein.

Zu dem Stammpublikum der Diele gehören die jungen Leute des Westens, die mangels anstrengender Tätigkeit und durch die Wohlhabenheit der Eltern zum Müßiggang gezüchtet, sich in sogenannter anständiger Gesellschaft beim Flirt und Tanz die Zeit angenehm und nach ihrer Ansicht standesgemäß vertreiben wollen. Hierzu gesellen sich auch nicht selten die wohlbeleibten und bis zur menschlichen Unkenntlichkeit aufgetakelten weiblichen Verwandten solch moderner Jugend, die an dem »Vergnügen« der tanzlustigen Angehörigen bei guten und teuren Leckereien ihre eigene Langeweile verscheuchen und dem blutleeren Gehirn eine gewisse Anregung verschaffen wollen.

Und wenn sich auch einmal die Herren Väter oder männliche Verwandte älteren oder ältesten Jahrganges entschließen sollten, ihre Ehehälften oder überreife Familiendamen hierher zu begleiten, dann ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß dies nicht aus Ritterlichkeit den Damen gegenüber geschieht, auch nicht aus Interesse für die Tanzbeine der jugendlichen Familienmitglieder, sondern zumeist in der Absicht, hinter dem breiten Rücken der holden Gattin, Schwägerin oder Schwiegermutter mit einem niedlichen und meistens nicht gerade spröden Mädelchen anzubändeln.

In solchen Venuspriesterinnen, von der früh verdorbenen Sumpfpflanze der Großstadt bis zur raffiniertesten und anspruchsvollsten Kokotte, fehlt es in keiner Tanzdiele, nur mit dem Unterschied, daß hier – im Gegensatz zu den Ballokalen der Halbwelt – unter der Maske vornehmer Bürgerlichkeit der äußere Schein gewahrt bleibt.

Und wo diese Dämchen aus dem Norden und Osten der Stadt, hier westlich frisiert und übertüncht, auftreten, schmuggelt sich auch der ganze Troß der notwendigen Gefolgschaft dieser edlen Zunft ein: Taschendiebe, Schieber, Schwerverbrecher und andere Trabanten lichtscheuer Art, die in irgendeiner Form aus dem luxusgewohnten Kreis der sogenannten guten Gesellschaft ihr eigenes Profitchen ohne Rücksicht auf Anstand, Gesetz oder Gefährlichkeit ergattern wollen.

Außer diesem bunten Gemisch der Dielenfreunde und deren Anhang erscheinen hier auch gelegentlich solche Personen, die sich aus Neugierde und Wissensdrang den Betrieb ansehen möchten und, wenn die Stimmung die Lust in ihnen weckt, auch wohl selbst ein Tänzchen wagen.

Es sind dies meistens Leute, denen das Treiben in der Großstadt noch ziemlich unbekannt ist und die aus demselben Grunde auch die Gefahren nicht kennen, die hier auf sie lauern. Schon mancher Provinzler ist aus Neugierde in eine solche Tanzdiele geraten und hat, von einem reizvollen Dämchen umgarnt, den Weg zu einem ordentlichen und geregelten Leben nie wieder zurückgefunden.

Klavier- und Geigenklänge durchwogen die Tanzdiele.

Die von der Decke herabhängenden, mit buntseidenen Schirmen abgeblendeten Lichter verbreiten ein mystisches Halbdunkel.

Kleine, rot-beschirmte Lämpchen an den Wänden erhellen nur mäßig die mit bunten Tüchern gedeckten Tische.

Überall leuchtende Farben, aber die ganze Umwelt in Dämmerung und traumhaft-phantastische Unbestimmbarkeit der Dinge getaucht.

Auch die Menschen, die sich nach den weichen, unaufdringlichen Klängen dieser Musik im Kreis bewegen oder mit sonderbaren Gebärden einherschreiten, sind wie von einem nebelhaften Schleier bedeckt, der die schwarzen Herrenröcke und bunten Frauenkleider zu einem durcheinanderwirbelnden Gemisch unbestimmbarer Farbentöne gestaltet.

Und dieser lautlosen, alle Grellheit meidenden, dumpfen und abgedämpften Atmosphäre, die nur durch den Rhythmus der weichen Klänge leise erzittert, entspricht auch das schweigsame, selten durch Flüsterworte unterbrochene Benehmen der Tänzerpaare.

Alles dreht und wiegt sich oder schreitet spukhaft im Dämmerschein durcheinander, als ob kein Laut von diesem Getriebe durch die verhängten Fenster in die Öffentlichkeit dringen sollte. – Nur wenn die Tür sich öffnet und wieder schließt, dringen die Stimmen der Konditoreigäste kurz und kreischend in die Tanzdiele.

Während der Musikpausen verändert sich die freudlose Ruhe und Traumhaftigkeit nur wenig. Die Tänzerpaare haben zwar zum größten Teil an den Tischen Platz genommen, aber die Unterhaltung wird dennoch nur im Flüsterton fortgesetzt, als ob es gelte, die geweihte Stille des im Halbdunkel gähnenden Tanztempels nicht zu durchbrechen, und nur das leise Erklingen der Tassen, Teller und Löffel gibt der Vermutung Raum, daß die scheinbar schemenhaften Gestalten leiblichen Genüssen nicht abgeneigt sind.

Sogar die beim Flirten ausgetauschten Zärtlichkeiten der Liebespärchen sind gemessen und von gedämpfter Leidenschaft.

Lautlos huschen die Kellner vorüber, durch schmale Gänge, die von den Zuschauern und Tänzern in einer gewissen Feinfühligkeit und mit gesellschaftlichem Anstand freigegeben wurden.

Immer neue Gäste kommen hinzu. Die Konditorei ist so stark besetzt, daß selbst der wohlbeleibte Eigentümer des Lokals, mit dem roten Mondgesicht und den gestriegelten grauen Haaren, bedienen muß, weil es dem Kellner, in weißer Jacke und Schürze, und dem Aushilfsmädchen nicht möglich ist, die Bestellungen der Besucher und Besucherinnen mit der gewünschten Schnelligkeit auszuführen.

Im Gegensatz zu dem fast melancholischen Gepräge der Tanzdiele herrscht hier in dem kleinen Vorderraum ein überlautes Treiben. Das Stimmengewirr und Gekicher, das laute Verlangen nach Kuchen, Getränken und Zigaretten, das Klappern des Geschirres, der metallenen Becher und Schalen, die kreischende Stimme der Büfettdame, die alle Bestellungen nach der Küche weitergibt, und andere unbestimmbare Geräusche entwickeln sich allmählich zu einem unbehaglichen Getöse.

Kein Stuhl ist mehr zu haben. Die neuen Gäste blicken sich forschend um und verschwinden kurz entschlossen nach Abgabe der Garderobe in der Tanzdiele. Andere durchschreiten rücksichtslos und schnellen Ganges die Konditorei, selbst auf die Gefahr eines Zusammenstoßes mit den Gästen und der Bedienung, und sie betreten mit der Selbstverständlichkeit eines Stammkunden den Tanzraum, – obwohl sich gerade unter der Eilfertigkeit die Scheu des Anfängers verbirgt, vielleicht erkannt und – verkannt zu werden.

Zu diesen noch Unkundigen gehören auch solche Gäste, die ohne Aussicht auf Sitzgelegenheit und aus Schamgefühl, ohne etwas zu verzehren das Lokal verlassen wollen, sich an das Büfett stellen und bei dem Schlemmen von Süßigkeiten mit sich selbst oder ihrer Begleitung zu Rate gehen, ob man es wagen solle, sich den Tanzrummel einmal anzusehen.

Im allgemeinen ist ein zustimmender Beschluß bald gefaßt; aber es gibt auch noch genug Großstadtbummler, die sich bei einer solchen Zumutung mit verächtlicher Miene abwenden oder, schon durch die unerwartet hohen Preise in der Konditorei gereizt, auf jedes weitere »Vergnügen« verzichten.

 

Draußen peitscht der Wintersturm Graupelschauer klatschend ans Fenster und bläst eine eisige Luft durch die Fugen.

Mit hochgeklappten Kragen und durchnäßten Kleidern, die Gesichter gerötet, betreten die Gäste mit ihren fröstelnden Damen eiligst die Konditorei und lassen jedesmal durch die rasch geöffnete Tür einen unangenehmen, feuchtkalten Windhauch herein. Tanzpaare wiederum kommen aus der Diele, hüllen sich dicht in ihre Mäntel und erspähen hinter der zurückgeschobenen Gardine des Ausgangs ein vorüberfahrendes Auto, um im geeigneten Augenblick die Tür heftig aufzureißen und mit lautem Hallogeschrei hinauszustürzen. Manchmal entwickelt sich auch ein wahrer Wettlauf nach dem rettenden Gefährt, wenn die gleiche Absicht von vielen Fahrbedürftigen geteilt wird.

So geht es dauernd ein und aus, wie in einem Taubenschlag. Immer wieder neue Ankömmlinge und müde oder animierte Pärchen, die den Heimweg antreten oder noch ein anderes Lokal aufsuchen möchten.

Unter diesen neuen Gästen befindet sich auch eine junge Dame, deren ganze Erscheinung darauf hindeutet, daß sie nicht zu dem alltäglichen Kreis der Dielenbesucher gehört. Sie ist einfach und in ein vornehmes dunkles Kostüm gekleidet, dessen Wert durch einen prächtigen Persianerkragen erhöht wird. Die braunen Haare sind unter dem Hut aus gleichem Pelz glatt nach hinten gekämmt und dort zu einem üppigen Knoten gewunden. Aus den ovalen Gesichtsformen mit der schmalen Nase blicken zwei große blaugraue Augen verwundert auf das sonderbare Getriebe um sie herum, und lächelnd spricht sie einige Worte zu ihrem Begleiter, dem man sofort die amerikanische Herkunft ansieht.

Im Gegensatz zu der schlanken mittelgroßen Gestalt seiner Dame ist der Herr, ein Mann in den dreißiger Jahren, von stattlichem Wuchs, mit breiten Schultern und einem sportgebräunten Gesicht, dessen ausgeprägte, etwas harte Züge den berechnenden, aber zugleich auch entschlossenen und korrekten Geschäftsgeist verraten. Das breite Lachen, mit dem der Herr die Anrede seiner Begleiterin erwidert, zeigt zwei gewaltige Zahnreihen mit einigen grell aufblitzenden, schwergoldenen Ersatzteilen. Die Antwort muß belustigend gewesen sein, denn auch die Dame kann sich des Lachens nicht mehr erwehren. Durch die Aufmerksamkeit, die das Paar auf diese Weise bei der eng aneinandergepferchten Nachbarschaft erregt, wird der Herr etwas verlegen und fährt mit der rechten Hand in das straff gescheitelte blonde Haar, wodurch sein Aussehen etwas Verwegenes bekommt.

In der richtigen Erkenntnis, daß ein weiterer Aufenthalt in der überfüllten Konditorei weder gemütlich noch zweckmäßig sei, entschließen sich beide, in der Tanzdiele eine angenehme Sitzgelegenheit zu suchen. Und nachdem sie ihre Mäntel an der Garderobe abgegeben haben, gehen sie lachend, als ob es sich um einen Scherz handle, in den Tanztempel.

Eine große Zahl von Gästen drängt nach, unter diesen auch solche, die soeben eiligst hereingekommen waren. An der Tür entsteht eine vorübergehende Stauung, weil ihnen verschiedene Tanzpaare entgegenkamen und nach dem Ausgang strebten, während die nachdrängenden neuen Gäste nicht zurückweichen wollten. Schließlich aber gelang es der Dame und ihrem Begleiter doch, gleich links vom Eingang zur Diele einen soeben frei gewordenen kleinen Tisch mit zwei Stühlen für sich zu gewinnen, während die anderen mit rücksichtsloser Gewalt in die Tanzdiele stürmten.

In einem Augenblick ist der ganze Raum wieder mit Menschen angefüllt, Tänzerpaare und Zuschauer.

Die Musik spielt einschmeichelnde Weisen, zart und schmelzend, weich und schluchzend, und die Töne schwingen gedämpft und leise wie aus weiter Ferne durch den schwülen, in Dämmerlicht getauchten Raum.

Und es schwingen die Menschen zu Paaren wie gespenstische Schatten in grotesken Bewegungen, ein kreisender Knäuel von schwarzen und bunten Gestalten, unbestimmbar, unentwirrbar in dem nebelhaften, buntfleckigen, von matten Lichtreflexen unterbrochenen Schleier der künstlich erzeugten mystisch-phantastischen Dämmerstimmung.

Zuschauer sitzen und stehen, und die schmalsten Gänge sind angefüllt von Tanzlustigen, die auf den Takt der Geigen lauschen, um sich bei nächster Gelegenheit dem wogenden Menschengewühl anzuschließen.

Mühselig schleppen die Kellner auf blinkenden Tabletts die Tassen und Teller, und die sitzenden Gäste können sich des Gedränges kaum erwehren, um mit Ruhe ein Getränk zu genießen.

Eingekeilt in eine rücksichtslose und zudringliche Nachbarschaft, droht der kleine Tisch, an dem die Dame mit dem amerikanisch anmutenden Herrn Platz genommen, beinahe umzustürzen, und es ist den beiden kaum möglich, sich der von dem Kellner eilfertig hingestellten Tassen mit Schokolade zu bedienen.

Eine kurze Pause und noch verstärktes Schieben und Drängen.

Die Geigen klingen von neuem; tändelnde und jubelnde Töne, die ineinanderfließen, wie die Wellen einer leicht bewegten See, – ein Wiener Walzer.

Alles, was tanzen will und kann, dreht und schwingt sich in dem großen Kreis, in dem es wieder von zahllosen kleinen Kreisen wogt und wirbelt, schwarz und buntschillernd, fast sinnlos berauscht im Banne der suggestiven Gewalt rhythmischer Klänge.

Und diese suggestive Macht verfehlt auch ihre Wirkung nicht auf das jetzt einsam dasitzende Paar. Eine kurze Verständigung, und der breitschultrige Mann erhebt sich etwas schwerfällig, nimmt die Dame an die Hand, und im nächsten Augenblick tauchen beide in dem kreisenden Tanzstrudel unter.

 

Endlich, nach vielen Runden, verklingt die Musik wie mit einem Seufzer. Der Menschenknäuel löst sich auf, und wer einen gesicherten Platz hat, kehrt schnell zu Tisch und Stuhl zurück.

Der Amerikaner wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ungewohnte Arbeit für einen Geschäftsmann, der dem Vergnügen des Tanzes nur selten huldigt. Seine Begleiterin löffelt mit Behagen die Schokolade. Jetzt führt auch er mit raschem Griff die Tasse an den Mund. Und wie vom Blitz getroffen, stürzt der Mann zu Boden. Kein Zucken des Körpers mehr, kein Röcheln. Und das sportgebräunte Gesicht gelblich fahl, die Züge hart wie aus Gips gegossen – eine Totenmaske.

Die Dame stößt einen gellenden Schrei aus. Sie steht festgewurzelt und wie gelähmt, ratlos und in stummer Verzweiflung neben dem hingestreckten leblosen Körper. Aber schon hat sich eine starke Menschenansammlung gebildet, man bemüht sich, wenn auch vergebens, um den mutmaßlich Ohnmächtigen. Immer mehr Gäste strömen hinzu, auch aus der Konditorei, so daß es kaum noch möglich ist, in den Tanzraum zu gelangen.

Dem Wirt ist diese Störung der Ordnung und Ruhe sehr peinlich. Er ist es zwar gewöhnt, gelegentlich Eifersüchteleien und kleine Streitigkeiten schlichten zu müssen; aber heute bei dem überfüllten Lokal kann die allgemeine Verwirrung nachteilig auf seine Kasse wirken. In der Annahme, daß es sich wieder um eine beginnende Rauferei handle, schiebt er sich energisch, unter kräftiger Verwendung seiner Ellbogen, durch die den Zugang versperrenden Personen, und das Gesicht von Zorn und Aufregung gerötet, schreit er schon von weitem in die Diele hinein: »So etwas dulde ich nicht in meinem Lokal, meine Herrschaften!«

Aber kaum hat er den leblosen Mann auf dem Fußboden hingestreckt gesehen und den Ursprung der Verwirrung erkannt, als ihn selbst eine tiefe Erschütterung ergriff und er die Umstehenden kleinlaut fragte, was denn eigentlich geschehen sei.

»Wahrscheinlich ein Herzschlag!« murmelte einer der Gäste.

»Beim Tanzen keine Seltenheit«, fügt ein anderer hinzu, »der Mann war schon zu schwer, um einen flotten Walzer zu vertragen!«

»Vielleicht handelt es sich auch nur um ein vorübergehendes Unwohlsein!« glaubt eine zierliche Dame trösten zu müssen.

Inzwischen ist ein Arzt aus der Nachbarschaft herbeigeholt worden. Die Menge macht respektvoll Platz. Der Arzt, ein älterer Herr mit weißem Spitzbart und goldener Brille, beugt sich nieder, horcht, betastet, untersucht und schüttelt den Kopf.

Der Wirt erkundigt sich nach dem Befund.

»Tot, zweifellos!« erwidert der Arzt zögernd und nachdenklich, »aber es ist mir unmöglich, die Ursache festzustellen. Ich habe auch nicht den Eindruck, daß der Mann eines natürlichen Todes gestorben ist, denn die Leiche ist bereits erstarrt. Es sind auch keine Anzeichen vorhanden, die auf einen Schlagfluß hindeuten. Ich möchte Ihnen dringend empfehlen, die Polizei zu benachrichtigen!«

Ein ungläubiges Murmeln geht durch die Menge. Man blickt forschend auf den Arzt und die bleiche junge Dame, die selbst, wie vom Schlage gerührt, daneben steht. Der Kaffeehausbesitzer weicht scheu zurück. Er kann es noch nicht begreifen, daß sich ein unnatürlicher Todesfall in seinem Lokal ereignet habe. Ganz verwirrt schleicht er hinaus, ihm folgen zahlreiche Gäste, die jede weitere Lust am Tanz verloren zu haben scheinen.

Kurz darauf betreten Sipoleute die Tanzdiele, und bald trifft auch die telephonisch herbeigerufene Mordkommission im Kraftwagen ein.

Der Polizeiphotograph macht eine Blitzlichtaufnahme von der Lage des Toten, während der Kriminalkommissar Vollmer mit dem Arzt eingehend und lebhaft verhandelt. Hierauf befiehlt der Kommissar die Absperrung der Konditorei und verbietet den wenigen Anwesenden, die Räume zu verlassen.

Eine Durchsuchung der Kleider der Leiche ergibt das Vorhandensein eines großen Vermögens in Dollarnoten und eines Kreditbriefes der New Yorker Staatsbank in Höhe von zehntausend Dollar; zugleich wird durch einen bei dem Toten gefundenen Paß ermittelt, daß es sich um den Großkaufmann Fred Milner, einen Deutschamerikaner aus Chicago handelt.

Die Vernehmung der anwesenden Gäste an Ort und Stelle hat nicht das geringste belastende Ergebnis. Niemand hat einen verdächtigen Menschen oder eine verdächtige Handlung beobachtet.

Die einzige Person, die nach der Bekundung aller, ohne Anwesenheit eines Dritten, mit dem Deutschamerikaner ständig beisammen war, ist jene bleiche Dame, die noch immer keines Wortes mächtig, zitternd vor dem Kriminalkommissar steht und auf dessen Fragen nur kopfschüttelnd und unter Tränen antwortet. Auf sie fällt auch der erste dringende Verdacht, ihren Begleiter umgebracht zu haben, in der Absicht, sich seines großen Vermögens zu bemächtigen.

»Folgen Sie mir zum Polizeipräsidium!« erklärt der Beamte kurz.

Und die Dame, der ein hilfsbereiter Gast noch in aller Eile Mantel und Pelz umgehängt hatte, schreitet wie eine Traumwandlerin, gestützt von einigen Herren der Mordkommission, hinaus und wird in das Polizeiautomobil geschoben, das davonrast.

Unter den wenigen Personen, die zurückgeblieben waren und die polizeiliche Vernehmung über sich ergehen lassen mußten, befinden sich auch zwei Halbweltdämchen, die das Feld ihrer Betätigung nach dem Westen verlegt hatten. Die jüngere von ihnen, die fünfundzwanzigjährige Erna Gadebusch, die ihre Jugend in einer berüchtigten Nebengasse der Ackerstraße verbracht hatte und durch den Umgang mit besseren Männern allmählich etwas Kulturtünche bekam, ohne den Kern ihres Wesens freilich dauernd verbergen zu können, sitzt mit ihrer drei Jahre älteren Freundin Trude Pöllnitz allein an einem Tisch, während die Kavaliere der beiden Dämchen sich mit den Sipobeamten, die die Leiche bewachen, über den eigenartigen Fall zu unterhalten versuchen.

»Hast du denn dem Kommissar erzählt, det du den Dollarfritzen kennst?« fragt die Pöllnitz ihre Nachbarin, die wegen ihres Verkehrs mit Ausländern den Spitznamen »die Valutenderin« führt, weil sie, wie eine Marketenderin den Soldaten, sich immer dem Troß der Valutamänner anzuschließen pflegt.

Die Gadebusch tippt mit ihrem Zeigefinger an die Stirn und erwidert entrüstet: »Du bist wohl überkandidelt, Trude! Ick werde doch der Polente nich meine Kundschaft verraten. Im übrijen hat det ooch nischt damit zu tun, det er jestern mit mir zusammengewesen is; denn er war noch lebendich, und nich zu knapp, wat ick bezeujen kann. Aber wenn ick davon etwas erzählt hätte, dann war' de Polente vielleicht uff de varrückte Idee jekommen, meinen Paul von wejen de Dollars, die der Janki in der Tasche hatte, zu verdächtigen. For so doof mußte mir doch nich halten, Trude!«

Die andere, die wegen ihres früheren Umganges mit der Marinetruppe, die während der Revolutionstage das königliche Schloß bezog, den Spitznamen »die Matrosentrude« bekam, schüttelt bejahend den Kopf und sagt etwas kleinlaut und schwermütig: »Det stimmt, Erna, da haste recht jehabt! Aber wo du so ville Schwein her hast, dir immer Ausländer zu angeln, und noch dazu so eenen schwerreichen Amerikaner, von dem du mit einem Schlage mit 'n paar Dollars 'ne Milljoneese werden kannst, is mir janz unbejreiflich. Ick jebe mir nu soviel Mühe, und weeß Jott, ick klappre doch jenuch mit de Ogen, aber immer nur krieje ick so'n Ladenschwengel oder 'n ollen Familienvater!«

»Det is mein Berufsjeheimnis«, gab die »Valutenderin« mit stolzem Lächeln zurück, »det kann ick dir nich verraten, aber 'n bißken englisch jehört ooch dazu und 'ne janze Portsjon Vastellung. Mir halten se immer for 'ne vaführte bessere Bürjerfrau, und ick spiele meine Rolle so jut, det ick se in dem Jlauben lasse. Und sowat erhöht det janze Vajniejen, und ick krije schließlich immer noch 'n Dollar mehr, weil se sich freu'n, een'n dämlichen Deutschen de Hörner uffjesetzt zu haben. Heutzutage mußte mimen, Trude! Als Määchen von de Straße kannste nischt werd'n. Klappre wenjer mit de Ogen als mit deine Jehirnlappen!«

Die beiden Kavaliere, von denen der eine ein Rumäne ist und zur Gadebusch gehört, nahen mit einem Teller Kuchen und einer Flasche Kognak.

Die Unterhaltung bricht ab.

 

Vor der Konditorei hat sich inzwischen eine große Menschenmenge angesammelt, die neugierig, trotz des schlechten Wetters, auf den Wagen des Leichenschauhauses wartet; denn das Gerücht von dem Mord in der Tanzdiele hatte sich mit erstaunlicher Schnelligkeit verbreitet.

Nach einer knappen halben Stunde erscheint der bekannte schwarze Kastenwagen. Die Leiche wird unter Mitwirkung von Sipoleuten in einem Ledersarg fortgeschafft.

Die Menschen auf der Straße machen ihre Glossen, es fehlt auch nicht an allerlei Vermutungen. Für viele jedenfalls ein interessanter Gesprächsstoff. Die Konditorei füllt sich jetzt noch schneller als zuvor, auch solche Personen, die das Lokal früher kaum beachtet haben, drängen hinein; und bald ist kein Stuhl mehr zu haben.

Der Wirt bedient seine Gäste mit doppelter Anspannung der Kräfte; denn ein solches Geschäft an einem Abend war ihm noch nie vorgekommen.

Und bald darauf klingen wieder die Geigen gedämpft und die Pärchen drehen und schwingen sich im Kreis oder schreiten unter grotesken Bewegungen im matten Dämmerlicht der Tanzdiele am Kurfürstendamm.


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