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Ein neuer Weg

Im Laboratorium des Chemikers Dr. Grellnick dampft und kocht es wieder in den Retorten und Kesseln und gelblichgraue Rauchschwaden durchziehen den Raum. Sonnenstrahlen dringen durch die hohen Fenster, bilden grelle Reflexe in buntschillernden Farben an den Gläsern und geben der Werkstatt heute ein freundlicheres Gepräge als sonst.

Auch der Chemiker selbst ist offenbar fröhlicherer Stimmung, er singt ein Liedchen vor sich hin und spricht zu seinem Diener Streichhan in witzigen und launigen Worten, was bisher nur sehr selten geschah. – Beide sind emsig an den Apparaten beschäftigt.

Es klopft etwas zaghaft an der Tür. Ein zweites und ein drittes Mal, aber ungeduldiger und eindringlicher.

Nach einem heiseren »Herein!« des alten Dieners betritt ein wohlbeleibter, elegant gekleideter Herr mit feistem runden Gesicht das Laboratorium. Der Besucher, der sich zwar höflich verneigt, blickt sich mit seinen kleinen, stechenden Augen forschend um, als ob er den ganzen Betrieb auf seine Leistungsfähigkeit einschätzen wollte. Dr. Grellnick geht ihm entgegen und bittet ihn mit nachlässiger Bewegung, in der Nähe des Schreibtisches Platz zu nehmen.

Die Fröhlichkeit des Chemikers ist einer merklichen Verstimmung gewichen, er ist zurückhaltend, kleinlaut und verlegen.

Der Besucher wendet sich kurz um, ob jemand in der Nähe weile, und als er sich überzeugt hat, daß er ungestört sprechen kann, beginnt er flüsternd, aber dennoch mit einer gewissen Heftigkeit:

»Ich bin sprachlos, Herr Doktor! Meine Kontoauszüge und Mahnungen werden von Ihnen nicht einmal einer Postkarte gewürdigt. Was denken Sie sich eigentlich! Glauben Sie, ich habe mein Geld gestohlen, um Ihnen Chemikalien umsonst zu liefern? Und noch dazu, wie Sie den Preis gedrückt haben und dreißig Tage Ziel?! Jetzt sind neunzig Tage daraus geworden, und das Geld ist so entwertet, daß ich mir mit der Summe nicht einmal eine einzige Säureflasche kaufen kann. Ist das der Dank für mein Entgegenkommen? Also, meine Geduld ist jetzt zu Ende, Herr Doktor! Entweder zahlen Sie oder ich übergebe die Sache heute meinem Rechtsanwalt!«

Der ungemütliche Gläubiger erhob sich rasch und griff nach Hut und Stock. Dr. Grellnick, der diesen Angriff auf seine Geldtasche mit Gleichmut ertragen hatte, drückte seinen Gläubiger wieder sanft in den Stuhl zurück und flüsterte ihm mit geheimnisvoller Miene zu: »Sie werden sich gleich beruhigen, Herr Goldstein, wenn ich Ihnen eine Neuigkeit mitteile, die Sie bestimmt nicht erwartet haben!«

»Nu also, dann haben Sie Geld und werden mir eine größere Abschlagszahlung machen. Das habe ich bei Gott nicht erwartet!« entgegnete der Gläubiger freudestrahlend.

»Noch nicht, Herr Goldstein, noch nicht«, fuhr der Chemiker in derselben geheimnisvollen Tonart fort, »aber sehr bald, und dann gleich einen stattlichen Posten auf einmal. Ich habe mich nämlich mit einer sehr reichen jungen Dame heimlich verlobt. Die Sache soll aus bestimmten Gründen noch nicht öffentlich bekanntgegeben werden; aber ich glaube, wir werden schon im nächsten Monat Hochzeit feiern, und dann bekommen Sie alles auf einen Tisch gezahlt. Meine Braut hat erst kürzlich eine beträchtliche Dollarerbschaft angetreten, Millionen über Millionen sage ich Ihnen …!«

Herr Goldstein war schon während dieser Worte aufgestanden; jetzt brach er die Unterhaltung plötzlich ab und wandte sich der Tür zu.

»Lassen Sie mich mit Ihrem Schmus in Ruhe«, knurrte er verbissen, »ich kenne Ihre Schmonzes zur Genüge und werde Ihnen sagen, was Sie sind. 'n Schwindler und Betrüger sind Sie, der die Leute zum Narren hält und das Geld der Lieferanten mit Frauenzimmern durchbringt. Ich werde es Ihn'n anstreichen; Ihr ganzes Lügenlaboratorium lasse ich Ihn'n versiegeln, wenn Sie mir morgen nicht fünfzigtausend Mark zahlen und in jeder Woche mindestens die gleiche Summe. So wahr ich hier stehe, diesmal lasse ich mich nicht mit Ihren Erbschaften und reichen Bräuten vertrösten!«

Mit lautem Krach fiel die eiserne Tür ins Schloß. Dr. Grellnick schaute dem Gläubiger verblüfft nach und schüttelte unwillig den Kopf, denn die Wut des Herrn Goldstein kam ihm gerade in der gegenwärtigen Zeitspanne sehr ungelegen. Nachdenklich saß er eine ganze Weile an seinem Schreibtisch, starrte dann ins Leere, erhob sich, ging mit langen Schritten umher und entschloß sich endlich fortzugehen.

Als der »Scheff« mit kurzem Gruß das Laboratorium verlassen hatte, brummte Streichhan vor sich hin: »Mir kann keener for dumm verkoofen, ick weeß Bescheed. Nu is er wieder brejendöflich! Nach meine Vastehste hätt' er sich doch an det Übel jewöhn'n müssen, denn der is doch nich der eenz'je!«

Nach einer reichlichen halben Stunde befand sich Dr. Grellnick bei Hilma im Untersuchungsgefängnis.

Ohne einleitende Freundlichkeiten ging er nach flüchtigem Gruß sofort zu dem eigentlichen Zweck seines Besuches über. Er sprach kühl und sachlich von den bisherigen Bemühungen, dem Verbrechen auf die Spur zu kommen, von den langwierigen Konferenzen mit Dr. Adler und schließlich von der Notwendigkeit, dem Rechtsanwalt einen Honorarvorschuß von fünfzigtausend Mark zu zahlen.

Hilma trug kein Bedenken, ihm diesen Betrag durch ihre Bank überweisen zu lassen, damit er die Angelegenheit mit dem Rechtsanwalt persönlich erledige.

Nach einigen allgemeinen Redewendungen über gleichgültige Dinge, und nachdem der Chemiker noch pflichtschuldigst die baldige Befreiung des Mädchens in Aussicht gestellt hatte, empfahl er sich mit galantem Handkuß und verließ das unheimliche Gebäude diesmal ohne besondere innere Erregung. Von Holdtmanns Verhaftung hatte er merkwürdigerweise kein Wort erwähnt.

Inzwischen hatte der Architekt seine seelische Ruhe wiedergefunden.

Anspruchslos von Natur, und den Geist mehr auf ideale Bereicherung als auf materiellen Genuß gerichtet, bot ihm die kleine Gefängniszelle mit den kahlen Wänden besondere Gelegenheit zur Selbstbetrachtung.

Zwar hatte ihm der Untersuchungsrichter bei seiner letzten Vernehmung gesagt, daß eine Anzahl Zeugen, mit denen er in der Tanzdiele an einem Tisch gesessen, ihn sehr belastet hätten, er möge daher ein freimütiges Geständnis ablegen und durch die Reue die Milde seiner Richter zu gewinnen suchen. Aber diese anscheinend sehr ungünstige Lage, die sich noch dadurch verwickelter gestaltete, daß man bei einer Durchsuchung seiner Wohnung Gifte für photographische und chemisch-technische Zwecke vorfand, verwischte keineswegs die Klarheit seiner Gedanken, mit denen er sich in der Einsamkeit beschäftigte.

Im Vergleich zu Hilmas Geschick war ihm seine eigene Bedrängnis höchst gleichgültig. Er hatte auf niemand Rücksicht zu nehmen. Seine Eltern waren längst verstorben und seine Verwandten in Ostpreußen unterhielten keine Verbindung mit ihm. So völlig von allem losgelöst, was ihm vielleicht Rückhalt und Ziel gegeben hätte, konnte er ganz in dem einen Wunsche aufgehen, sich selbst einer Jugendfreundin zum Opfer zu bringen. Er überlegte lange, was er jetzt, wo man ihn selbst der Freiheit beraubt habe, für Hilmas Befreiung noch unternehmen könnte, und schließlich gelangte er zu der Überzeugung, daß es nur eine einzige Möglichkeit gebe, nämlich der Ermahnung des Untersuchungsrichters Folge zu leisten, den Mord auf sich zu nehmen und durch ein solches Geständnis Hilma sofort zu entlasten.

Während er sich eingehend damit beschäftigte, die Gründe und Vorgänge der angeblichen Tat möglichst glaubhaft zu konstruieren und zu Papier zu bringen, wurde Hilma aus der Haft entlassen, weil die vorhandenen Indizienbeweise zur Erhebung einer öffentlichen Anklage nicht genügten, und vor allem, weil die ganze Angelegenheit durch die Festnahme des Architekten Holdtmann eine andere Wendung bekommen hatte.

Den ersten glücklichen Tag der Freiheit durchlebte Hilma in ihrem künstlerischen Heim, indem sie sich der Musik hingab und ihre Gedanken wieder leidlich in Ordnung brachte; am nächsten Nachmittag aber galt ihr erster Weg dem Rechtsanwalt Dr. Adler.

Die Aufhebung des Haftbefehls war dem Rechtsanwalt selbst von der Staatsanwaltschaft noch nicht zugegangen, so daß er überrascht und zugleich erfreut war, seine Klientin vor sich zu sehen.

Nach den einleitenden Dankesworten für die aufopfernde und erfolgreiche Tätigkeit des Verteidigers kam das Gespräch naturgemäß sehr bald auf die Ursache der plötzlichen Haftentlassung, und Dr. Adler erzählte nun mit allen Einzelheiten, wie der Architekt Werner Holdtmann in seinem Sprechzimmer und in Gegenwart des Dr. Grellnick unter dem dringenden Verdacht der aus Eifersucht begangenen Tat verhaftet worden sei, daß der Beschuldigte sich zwar heftig gewehrt und seine Schuldlosigkeit beteuert habe, daß er selbst ihn aber auch für den Täter halte. Und lächelnd fügte der Rechtsanwalt hinzu: »Allerdings unter mildernden Umständen, denn er ist von Jugend an sterblich in Sie verliebt, was ich ihm wohl nachfühlen kann!«

Der jungen Dame schoß das Blut in den Kopf. Es war nicht zu erkennen, ob die überraschende Mitteilung oder eine tiefe Gemütserregung sie so plötzlich erhitzt hatte. Und sie brauchte auch geraume Zeit zur inneren Sammlung, bis sie die Sprache wiederfand und mit bewegter Stimme entgegnete:

»Was Sie mir soeben erzählten, Herr Rechtsanwalt, ist für mich so unfaßbar, daß ich vor einem unlösbaren Rätsel stehe. Mit Werner Holdtmann bin ich wie eine Schwester aufgewachsen, wir haben uns so gern gehabt, daß wir nicht einen einzigen Tag ohne einander verbringen konnten. Noch bis in die letzte Zeit kamen wir häufig zusammen, aber niemals hat Holdtmann mir auch nur andeutungsweise offenbart, daß er für mich mehr empfinde als Freundschaft. Ich halte es wieder einmal für einen Mißgriff der Polizei, einen Mann wie meinen Jugendfreund Holdtmann unter solchem Verdacht festzunehmen. Ich kenne seinen Charakter und lege meine Hand dafür ins Feuer, daß er mit der geheimnisvollen Geschichte nicht das mindeste zu tun hat. Wir müssen selbstverständlich alles daran setzen, ihn wieder freizubekommen; ich bitte Sie daher, seine Verteidigung zu übernehmen, Herr Rechtsanwalt. Für die Kosten verpflichte ich mich Ihnen natürlich!«

Dr. Adler zog die Augenbrauen in die Höhe, schaute mit ernstem Blick über den Kneifer hinweg zu Hilma hinüber und sagte mit leichtem Nachdruck:

»Ich bedaure, mein Fräulein! Holdtmann hat mir bereits seine Verteidigung selbst angeboten und ich habe abgelehnt, weil ich gegen meine Überzeugung nicht handeln kann. Sie scheinen nicht zu wissen, Fräulein Stephany, welche merkwürdigen und dummen Streiche durch die Liebe geschehen. Man staunt oft selbst in der Praxis über die eigenartigsten Seitensprünge des menschlichen Verstandes, sogar bei ernsten, gebildeten und hervorragend tüchtigen Menschen, die durch verschmähte Liebe, was eigentlich nichts anderes als eine Art Eigensinn bedeutet, veranlaßt werden. Also, legen Sie Ihre schöne Hand lieber nicht ins Feuer, es wäre schade darum!«

Hilma war offensichtlich sehr niedergedrückt. Sie sprach kein Wort mehr und schaute den Rechtsanwalt, der sich mit seinen Akten zu beschäftigen begann, forschend und fragend an, als ob sie von ihm einen Rat erwarte, was in der Sache nun schnellstens zu tun sei.

Dr. Adler fühlte die Augen seiner Klientin auf sich ruhen, und ohne von seinen Akten aufzublicken, sprach er fast gleichgültig vor sich hin:

»Im übrigen steht es Ihnen doch frei, sich für Ihren Jugendfreund einen anderen Rechtsbeistand zu wählen; ich möchte Ihnen den Justizrat Dr. Perls empfehlen, der in Strafsachen sehr bewandert ist.«

Hilma erhob sich schüchtern, um den Rechtsanwalt bei seiner Beschäftigung nicht zu stören, wartete einen günstigen Augenblick ab, als er seine Feder wieder eintauchte, bedankte sich und ging hinaus.

Auf der Straße jagten ihr hundert Gedanken durch den Kopf. Einerseits war sie unschlüssig, ob sie den Justizrat Dr. Perls sofort aufsuchen sollte oder ob es angebrachter sei, erst mit Holdtmann zu sprechen. Andererseits wußte sie nicht, wie sie sich ihrem Jugendfreund gegenüber verhalten sollte, nachdem sie aus dem Munde ihres Rechtsanwalts erfahren hatte, daß er in sie verliebt sei. Dann ärgerte sie sich wieder über seine Unentschlossenheit, sich ihr offenbart zu haben; und die Gründlichkeit, mit der sie diese Frage behandelte, ließ darauf schließen, daß der flüchtige Schatten des Ärgers über ihren Jugendfreund nicht nur verstandesgemäß zum Ausdruck kam.

Und sogleich fiel ihr auch Dr. Grellnick ein. Sie wunderte sich, daß er ihr von der Verhaftung Holdtmanns nichts erzählt hatte, obwohl ihm doch die Jugendfreundschaft hinreichend bekannt war und er selbst noch vor einigen Jahren zu beobachten Gelegenheit hatte, daß sie und Werner wie zwei Geschwister miteinander verkehrten. Diese merkwürdige Schweigsamkeit des Chemikers und Halbvetters in einer so außergewöhnlich wichtigen und dringlichen Sache, machte sie stutzig, denn sie vermochte trotz vielfacher Erwägungen keine Erklärung hierfür zu finden.

Um aus allen Zwiespältigkeiten herauszukommen und zugleich eine Grundlage für ihr künftiges Tun zu gewinnen, entschloß sie sich, ihren Jugendfreund am nächsten Vormittag in seiner Zelle aufzusuchen.

Als die Gefängnistür sich öffnete und der Häftling das Wesen hereintreten sah, um das er bangte und litt, war es ihm, als ob ein Traum ihn umfangen hielt und Hilmas Lichtgestalt ihm erscheine, um ihn zu trösten und seiner bekümmerten Seele Mut und Hoffnung für die Zukunft einzuflößen.

Hilma selbst tief bewegt, erkannte sofort die sinnverwirrende Wirkung ihrer Anwesenheit; sie eilte auf ihn zu und streckte ihm beide Hände mit dem Ausruf entgegen: »Aber, Wernerchen, du bist gar zu niedergeschlagen, ich erkenne dich kaum wieder! Ein Mann wie du muß sich über solche Scherze des Schicksals hinwegsetzen können. Nur Geduld, bald ergeht es dir ebenso wie mir. Durch Nacht zum Licht! Ich komme gerade deshalb zu dir, um mit dir zu besprechen, was ich für dich tun kann. Von hier aus gehe ich gleich zu einem Justizrat, der mir von Dr. Adler als besonders tüchtig empfohlen wurde. Also, erzähle mir zunächst, was du verbrochen hast, um dich der Gastfreundschaft dieses Staatshotels zu erfreuen!«

Wenn Hilma glaubte, durch ihre burschikose Begrüßung den Jugendfreund zuversichtlicher oder fröhlicher gestimmt zu haben, so erreichte sie ihren Zweck keinesweg; denn Holdtmann machte ein Gesicht, als ob ihm das Weinen sehr nahe sei, und er schien auch nicht zu wissen, was er ihr sofort antworten sollte.

Zunächst erhob er sich und bot seiner liebenswürdigen Besucherin den einzigen Schemel an, der sich in dem kleinen Raum befand. Dann ging er einige Schritte laut seufzend auf und ab, drehte sich plötzlich um und sprudelte heraus: »Was ich verbrochen habe, willst du wissen?! Nichts, absolut nichts! Als ich von deinem Unglück erfuhr, wanderte ich umher, in der Hoffnung, eine Spur des Täters zu ermitteln und dich zu befreien. So landete ich auch in der ominösen Tanzdiele und fand an einem Tisch Platz, an dem offenbar eine zweideutige Gesellschaft saß. Ein Kerl aus diesem Kreis schien mir sehr verdächtig. Ich verfolgte ihn, stellte seine Wohnung fest und denunzierte ihn bei seinem ständigen Polizeirevier. Am nächsten Tag verhaftete man mich im Sprechzimmer des Dr. Adler und in Gegenwart deines Bräuti…m, deines Halbvetters Dr. Grellnick, der sogar den Beamten zu Hilfe kam, als ich mich, meiner Sinne nicht mehr mächtig, zur Wehr setzte. Das ist alles!«

Hilma hatte dieser Erklärung nur mit halbem Ohr zugehört, da ein anderer Gegenstand ihre Aufmerksamkeit zu sehr in Anspruch nahm. Auf dem kleinen Tisch an der Wand, vor dem sie saß, befand sich nämlich außer der in jedem Gefängnis üblichen Bibel ein Bogen Kanzleipapier, eng beschrieben mit der Handschrift des Untersuchungsgefangenen und an die Staatsanwaltschaft adressiert. Neugierig überflog sie die Zeilen, und als Holdtmann in seiner Rede zu Ende war, nahm sie das Papier in die Hand, schaute verwundert und fragend auf ihren Jugendfreund und sagte in einem Tonfall, der Zweifel und Mitleid enthielt: »Indiskreterweise kommt mir der Inhalt dieser Eingabe zu Gesicht, liebes Wernerchen, ich weiß nicht, was ich davon halten soll, denn der Gegensatz zwischen dem, was du mir soeben erzähltest und dieser eigenhändig geschriebenen Selbstbezichtigung ist so kraß, daß ich dich doch um Aufklärung bitten muß. Ich wüßte sonst nicht, wie ich den Justizrat informieren sollte.«

»Ach so«, rief Holdtmann etwas bestürzt und verlegen aus, »das ist nichts, das hat keinen Wert!« sprang hinzu, nahm ihr das Papier aus der Hand, zerriß es und warf die Fetzen in den Mülleimer.

Hilma erhob sich langsam, ging ihrem Jugendfreund entgegen, legte beide Hände auf seine Schultern; und indem sie ihm zärtlich in die Augen sah, sprach sie mit einschmeichelnder Stimme: »Du mußt nicht so aufgeregt sein, Wernerchen, ich meine es doch gut mit dir. Sieh mal, dadurch, daß du ein geschriebenes Geständnis vernichtest, kannst du doch meine Frage nach einer Erklärung für dein zweideutiges Verhalten nicht beseitigen?! Wenn das Papier keine Bedeutung hat, dann hätte ich gern gewußt, warum du es erst geschrieben hast, um es später zu vernichten? Ich kann das beim besten Willen nicht begreifen!«

Holdtmann schlug die Augen nieder und seine Lippen zitterten nervös, als er mit einem tiefen Seufzer stoßweise hervorbrachte: »Ach, Hilma, du kannst mir glauben, was ich dir sagte. Es ist alles richtig. – Mein Geständnis ist durch deine Haftentlassung überholt und deshalb wertlos. – Es war nur fingiert, um dich zu retten!«

»Großer Gott!« schrie Hilma auf, »welch ein Glück, daß ich im rechten Augenblick zu dir kam, du wärest sonst verloren gewesen!«

»Ich bin es auch so!« murmelte der Architekt vor sich hin, und zu Hilma gewendet, sagte er mit fester, fast jubelnder Stimme: »Für dich, Hilma, ist mir kein Opfer zu groß. Mein Leben galt deine Freiheit. Nun ist es zu spät, da du meiner nicht mehr bedarfst!«

Er sank auf den Schemel nieder und barg sein Gesicht in beiden Händen. Hilma trat dicht an ihn heran, streichelte sein Haar und flüsterte ihm mit schmerzerfüllter Miene und doch mit dem süßesten Wohlklang ihrer Stimme zu:

»O wie schön ist es, mein liebes Wernerchen, daß ich Treue mit Treue vergelten kann. Und mein Herz schlägt vor Freude, dir mit ganzer Kraft beistehen zu dürfen, bis ich dich wieder frei und glücklich sehe. Lebe wohl, sei stark im Schmerz und vertraue mir!«

Holdtmann blickte nicht mehr auf. Sein ganzer Körper schüttelte sich, als ob er schluchze.

Hilma konnte den Anblick nicht mehr ertragen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihr Gesicht rötete sich vor innerer Erschütterung. Auf den Zehenspitzen schlich sie sich hinaus, als ob es gelte, einen Kranken nicht zu stören.

Als Dr. Grellnick gelegentlich einer telephonischen Anfrage bei Rechtsanwalt Dr. Adler erfuhr, daß Hilma aus dem Gefängnis entlassen und das Verfahren eingestellt sei, eilte er schleunigst zu ihr, um sie zu beglückwünschen und sich so recht in den Vordergrund zu stellen, indem er darauf hinwies, daß es seinen aufopfernden Bemühungen nun doch endlich gelungen, ihr die köstliche Freiheit wieder zu verschaffen.

Hilma war zu niedergedrückt, als daß sie sich beglückt und erfreut zeigen konnte. Und nach der Ursache ihrer Verstimmung befragt, gab sie an, daß das Schicksal ihres Jugendfreundes Holdtmann ihr zu Herzen gehe. Und gleichzeitig fügte sie verwundert hinzu: »Im übrigen verstehe ich nicht, weshalb Sie mir ein so erschütterndes Ereignis verheimlicht haben. Es war Ihnen doch bekannt, wie eng befreundet wir sind. Und daß Sie sich sogar dazu herbeiließen, bei der Festnahme meines Jugendfreundes behilflich zu sein, finde ich geradezu empörend!«

Dr. Grellnick war auf einen ganz anderen Empfang gefaßt und auf solche Vorwürfe nicht im geringsten vorbereitet. Verlegen nagte er an seiner Unterlippe, und erst nach einer ganzen Weile räusperte er sich umständlich und erwiderte kleinlaut: »Ja. mein Gott, das habe ich eben vergessen, vollständig vergessen, weil ich mit meinen Gedanken immer bei Ihnen war. Und daß ich dem Kriminalkommissar behilflich war, den widerspenstigen Burschen abzuführen, hatte seinen guten Grund. Die Beleidigungen und Verdächtigungen, die er in bezug auf Ihre Person mir vor den anwesenden Männern ins Gesicht schleuderte, reizten mich zur Wut, und so …«

Hilma unterbrach ironisch: »Sollten Sie sich nicht verhört haben?! Ich komme nämlich soeben von Holdtmann und werde seinetwegen heute zu einem Rechtsanwalt gehen. Bei meinem Besuch in seiner Zelle habe ich übrigens den tatsächlichen Beweis dafür bekommen, daß seine Gesinnung gegen mich eine ganz andere war und noch ist, als Sie mir soeben erzählen zu müssen glauben!«

»Ganz richtig, ganz richtig«, erwiderte Dr. Grellnick jetzt hastig, »die Sache liegt so, daß er in Sie seit vielen Jahren verliebt ist, und zwar in der Weise, wie dies bei solchen schwärmerischen Jünglingen immer der Fall zu sein pflegt, und seine Äußerungen in dieser Beziehung habe ich natürlich als Beleidigung, … hm …, wie so etwas natürlich immer eine verschiedenartige Auffassung zuläßt. Das ist nun mal persönlicher Geschmack, persönliche Empfindung, … hm …, weil nun eben … hm – der andere Teil auch bis über beide Ohren verliebt – natürlich hm – mit mehr männlichem Einschlag – und dem Bewußtsein der Selbständigkeit. Für mich ist die Sache erledigt, ich habe ihm längst verziehen, auch in Ihrem Namen!«

Hilma spielte nachdenklich mit ihren schlanken Fingern, ohne den Chemiker anzusehen.

»Und Sie glauben an seine Schuld?« fragte sie nach einer langen Pause nachdrücklich und gedehnt.

»Hm – diese Frage ist schwer zu beantworten«, murmelte Dr. Grellnick vor sich hin, aber doch so, daß das Fräulein die Worte vernahm. – Je mehr er aber nach einer geeigneten Erwiderung suchte, desto mehr verfinsterte sich sein Gesicht und die Augen versanken immer tiefer in ihre Höhlen und die schmalen Lippen wurden aschfahl, als er schließlich mit etwas vibrierender Stimme fortfuhr: »Ich möchte der Justiz nicht vorgreifen. Sprechen Sie nur mit dem Rechtsanwalt. Ich will Sie auch nicht länger stören; denn Sie sind nicht in der Verfassung, um mit mir die Angelegenheit zu besprechen, um derentwegen ich gekommen bin, nämlich um die Einlösung Ihres Versprechens, und ich glaube, etwas mehr gute Laune dürfte wohl erforderlich sein, um eine so wichtige Lebensfrage mit Grazie und Anmut … zum Abschluß zu bringen. Nach meiner Auffassung darf die Verlobungsstunde zweier Menschen keinen Raum für kriminelle Erörterungen bieten. Ich werde mir gestatten, mich morgen wieder nach Ihrem Befinden zu erkundigen.«

Dr. Grellnick erhob sich rasch, küßte dem Fräulein mit gesellschaftlicher Gewandtheit die Hand und empfahl sich.

Hilma hatte das Gefühl, als ob ihr jemand eine empfindliche Ohrfeige versetzt hätte, und eine leichte Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Sie machte sich Vorwürfe, ihren Befreier vielleicht doch etwas zu taktlos und undankbar behandelt zu haben, und bedauerte den ironischen Ton einem Manne gegenüber, der nach seinem Auftreten und Handeln ihr geistig weit überlegen war.

Nach der Rücksprache mit Fräulein Stephany begab sich Justizrat Dr. Perls am nächsten Tag zu Holdtmann und hatte mit ihm eine sehr lange Unterredung.

Der in Strafsachen außerordentlich bewanderte und gesuchte Verteidiger hielt sich frei von jedem Vorurteil und vertrat nur den Standpunkt, daß der Täter in den Kreisen der Hilma und des Amerikaners zu finden sei. Fräulein Stephany sei im Besitz einer Millionenerbschaft gewesen und Milner habe gleichfalls Millionen in Dollars in der Tasche gehabt. Da eine Beraubung in der Tanzdiele unmöglich gewesen sei, könne der Täter es auch auf die Millionen der Dame abgesehen haben, und nur durch einen Zufall sei der Amerikaner vielleicht dem Verbrechen zum Opfer gefallen. Jedenfalls halte er es zunächst für das Wichtigste, alle Persönlichkeiten, die mit Hilma und dem Amerikaner in Berührung gekommen seien, gründlich auf Herz und Nieren zu prüfen, und er empfahl schließlich, die Nachforschungen in dieser Richtung dem ihm bekannten und als findig erprobten Detektiv Dörries anzuvertrauen.

Wenige Stunden später befand sich der Detektiv im Privatbureau des Justizrats und notierte sich alle Informationen bis in die kleinsten Einzelheiten, bis er schließlich bei der Verhaftung des Holdtmann und der Beihilfe des Dr. Grellnick stutzig wurde. Der Justizrat sah ihn verblüfft an: »Nun, und was finden Sie dabei?« fragte er neugierig.

»Sehr viel!« erwiderte trocken der Detektiv, »es ist doch sehr auffallend, daß ein gebildeter Mann sich zum Helfer der Polizei hergibt und einem Mann gleichen Standes Handfesseln anlegen läßt, obwohl er, wohlverstanden, obwohl er in dem Augenblick von der Schuld des Festgenommenen nicht überzeugt sein konnte. Also, mußte er ein Interesse daran haben, den Verhafteten als schuldig hinzustellen. Mit dieser merkwürdigen und sehr auffallenden Erscheinung steht auch sein Verhalten dem Fräulein Stephany gegenüber in Verbindung. Was mag ihn nur veranlaßt haben, die aufregende Szene im Sprechzimmer des Dr. Adler zu verheimlichen, obwohl ihm doch bekannt war, daß es sich um einen Jugendfreund der Dame handle?! Ich habe das Gefühl, daß dieser Dr. Grellnick in der Mordsache seine Hand im Spiel gehabt hat, und meine nächste Aufgabe wird es daher sein, mir diesen Herrn etwas näher anzusehen!«

Der Justizrat wiegte seinen ergrauten Kopf hin und her. »Nicht übel kombiniert«, sagte er beiläufig, »ich wünsche Ihnen viel Glück zu Ihrer kühnen Hypothese!«

Der Detektiv empfahl sich und ging sofort an die die Arbeit.

Einige Tage später wurde die Verlobung des Fräulein Stephany mit Herrn Dr. Grellnick öffentlich bekanntgegeben.


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