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Stammgäste der Diele

Wieder klingen die Geigen und wieder drehen sich die Paare im Dämmerlicht der Tanzdiele.

An einem Tisch vereint sitzen Erna Gadebusch und Trude Pöllnitz. Die »Valutenderin« ist in Begleitung ihres Liebhabers, des Babiers Paul Stommel, der in seinen Kreisen den Spitznamen »Krawattenpaul« führt, weil er mit Vorliebe kostbare Krawatten trägt und Wucher- und Schiebergeschäften verwegenster Art nicht abgeneigt ist. Die »Matrosentrude« hat es bisher zu keinem ständigen »Freund« gebracht. Die jungen Männer, die heute abend in ihrer Gesellschaft sind, gehören zwar auch zu ihren Liebhabern, aber sie haben sich ohne besonderes Interesse für sie und nur der Bekanntschaft wegen an den Tisch gesetzt.

Paul Stommel ist ein berufsmäßiger Nichtstuer und Tagedieb. Er hat Rasiermesser, Kamm und Schere an den Nagel gehängt, nachdem er durch den näheren Umgang mit liederlichen Mädchen erkannt hatte, daß sich auf leichtere Art viel mehr Geld verdienen lasse. Zum Verbrecher ist oft nur ein Schritt, und so mußte der erst vierundzwanzigjährige Bursche schon verschiedene Jahre seines Lebens hinter Gefängnismauern verbringen. – Charakterlos, ohne Gewissen, arbeitsscheu und feige, war ihm jede Betätigung willkommen, wenn sich nur die Aussicht bot, ohne jede Anstrengung einen Posten Geld einzuheimsen.

Die hohe Belohnung, die von den Angehörigen des Milner, vom Polizeipräsidium und von Hilma selbst für die Ermittlung des Mörders ausgesetzt worden war, hatte es dem »Krawattenpaul« angetan und ihm keine Ruhe mehr gelassen.

Die Anwesenheit in der Tanzdiele brachte naturgemäß das Gespräch auf den geheimnisvollen Abend, und Stommel trieb es, seiner Sehnsucht nach der hohen Belohnung Ausdruck zu geben, indem er sagte:

»Die Jeschichte mit dem Amerikaner is noch immer nich uffjeklärt. Et is doch 'ne merkwürdije Sache, det man den Kerl noch nich jefaßt hat. Hier könnt' ma sich 'n anständijet Trinkjeld vadien'n, ohne sich de Finger schmutzich zu mach'n. Ick kann mir nich denk'n, det so'n reichet Meechen, wie die, die se jekappt hab'n und die selbst 'ne jroße Belohnung aussetzt, mit dem Kerl in de Tanzdiele kommt, bloß, um ihn zu verjiften. Det hätt' se bei sich zu Hause oder uff seine Bude ville besser und bequemer machen könn'n. Nach meine Vastehste kann det bloß 'n Liebhaber von det Meechen jewesen sind, der den Amerikaner aus Eifersucht um die Ecke jebracht hat. Oder vielleicht ooch 'n Landsmann, den andre Bewejjründe jetrieb'n hab'n. Ick muß det rauskriej'n, sonst blamier' ick mir vor mir selbst!«

»Na denn blamier' dir man«, rief die Erna belustigt, »ick habe von deine Fähigkeiten als Kriminal noch nich ville jemerkt. Du hast wohl schon manchet ausbaldovert, aber noch keen'n Jiftmord nich; und anstatt, daß du andere ins Kittchen jebracht hast, haben se dir dahin jebracht. Et wäre besser vor dir, du mischst dir in sonne Dinge nich rin; denn am Ende erkenn'n se dir am Alexanderplatz jrade in dem Ogenblick, wo du 'n Kriminal markierst, und se lad'n dir freundlich in, 'n bißken näher zu treten und dir häuslich niederzulassen. Bei de Polente heeßt et immer: zehn Schritt vom Leibe!«

Die Tischgesellschaft lachte hell auf und bespöttelte den »Krawattenpaul« nicht wenig. Von allen Seiten hagelte es Witze unter Hinweis auf seinen früheren Beruf.

Stommel ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen, obwohl er ziemlich verärgert war, und zu seiner »Braut« gewandt – wie man in diesen Kreisen solche »Freundinnen« bezeichnet –, erwiderte er lakonisch:

»Quatsch doch bloß nich sonne Töne, Erna! Du weeßt doch, det ick schon 'ne janze Menge rausjekriegt habe, wenn du mir mit's Jeld hinterjangen hast, und denn haste mir immer jeschmeichelt und jesagt: ›Paul‹, haste jesagt, ›du bist der reenste Weltdetektiv, vor dir is wirklich keener sicher!‹ Und nu, wo et sich um 'n jroßet Vermöjen handelt, da machste plötzlich flau und willst mir und meine Talente nich mehr kenn'n! Aber ick weeß ja alleene, wat ick zu tun habe. Von mir kriegste jedenfalls nischt ab, det merke dir!«

Wieder lachten die Unbeteiligten, wie immer in solchen Fällen, wenn sich zwei streiten. Die »Valutenderin« verspürte jedoch keine Lust, ihrem Freund das letzte Wort zu gönnen, und wütend fauchte sie ihm zu:

»Wenn du nu nich bald de Luft anhälst, denn fahre ick dir aber jründlich über de Leber, du einjebildeter Fatzke! Wat du von mein'm Jeld sagst, womit ick dir hinterjangen hab'n soll, da scheinst du aus alter Jewohnheit wieder mal Mein und Dein zu verwechseln. Wat ick mir redlich vadiene, jehört mir, vastehste! Da hast du deine Neese nich rin zu stecken, und da is ooch nischt rauszukriejen, vastehste! Meinetwejen kannste machen, wat de willst; aber wenn du dir wieder injeseeft hast, denn hole ick dir nich aus de Pedulje, vastehste!«

»Nu is aber Schluß, Erna!« brüllte der »Krawattenpaul« und schlug auf den Tisch, daß sich die ganze Nachbarschaft erschreckt umsah, »hier will ick dir nischt weiter sag'n, aber komm du erst mal nach Hause, da sprech'n wir uns unter vier Ogen!«

»Och, du willst mir wohl wieder verpolken!« fuhr die Gadebusch auf und machte Miene, sich auf ihren »Freund« zu stürzen, aber die »Matrosentrude« hielt sie mit beiden Armen fest und sagte beschwichtigend:

»Kinder, nu seid doch mal endlich vanünftig, et lohnt sich doch wirklich nicht, euch wejen solchen Quatsch in de Haare zu kriejen! Laß doch deinen Paul mach'n, wat er will, Erna! Det zarte Jeschlecht soll sich nich in de Jeschäfte der Männer inmischen!« Und um die Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegenstand zu lenken, fügte sie belustigend hinzu: »Nu kiek doch eener bloß den blondjelockten Jüngling an, der wie tiefsinnig rumlooft und sich 'n Platz sucht, aber er find't keen'n!«

Und während die ganze Tischgesellschaft sich umdrehte, machte auch der merkwürdige junge Mann eine Wendung und näherte sich langsam, seine Blicke immer umherschweifen lassend, dem Tisch, an dem die beiden Mädchen mit ihren Begleitern saßen.

Hier befand sich tatsächlich der einzige leere Stuhl im ganzen Raum, und da die Musik ausnahmsweise lange pausierte und kein anderer Platz frei wurde, trat der Fremde kurz entschlossen an den Tisch heran und setzte sich, nachdem er vorher höflich um Erlaubnis gebeten hatte.

Die Tischgesellschaft ließ sich in ihrer Unterhaltung keineswegs beirren. Und wenn der unerquickliche Streit auch beendet war, so wurde der bisherige Gesprächsstoff von den Bekannten der Trude Pöllnitz, die sich während der vorausgegangenen Auseinandersetzung wortkarg und zurückhaltend benahmen, jetzt dennoch fortgesetzt.

Einer der jungen Männer erkundigte sich eingehend nach der Stelle, wo der Amerikaner die verhängnisvolle Schokolade getrunken hatte und leblos zusammengebrochen war, und die »Matrosentrude« beeilte sich sogleich, den ganzen Vorgang in allen Einzelheiten zu schildern.

Dies veranlaßte den Fremden, sehr aufmerksam zuzuhören; und als das Mädchen seine weitschweifige Erzählung beendet hatte, begann er sich an der Unterhaltung zu beteiligen, indem er etwas befangen fragte:

»Mich hat Ihre Wiedergabe des geheimnisvollen Mordes sehr interessiert, weil ich die junge Dame, die man als mutmaßliche Täterin verhaftet hat, sehr verehre und ihr Schicksal mir deshalb sehr zu Herzen geht. Wenn jemand von den Anwesenden an dem unglückseligen Abend zugegen war, dann hätte ich gern erfahren, ob nicht vielleicht einer von Ihnen, meine Herrschaften, noch eine andere Person in Begleitung jener Dame oder des Amerikaners gesehen hat, oder vielleicht einen verdächtigen Menschen, der sich in der Nähe des Paares aufhielt!?«

Die beiden Mädchen sahen sich verwundert an und schüttelten verneinend die Köpfe, ohne auf die Frage näher einzugehen.

Die Einmischung des Fremden in ihr Tischgespräch kam ihnen recht sonderbar vor, und wahrscheinlich stieg auch die Vermutung in ihnen auf, daß der neue Gast ein Kriminalbeamter sei, der Ermittlungen anstellen wollte. Vor einer näheren Bekanntschaft mit solchen Personen aber pflegen die Kreise der Leichtverbrecher begreiflicherweise einen tiefgründigen Widerwillen zu haben, der sich zumeist in völliger Zurückhaltung und Schweigsamkeit äußert.

Nur der »Krawattenpaul« hatte sich in seine fixe Idee, die hohe Belohnung zu gewinnen, dermaßen verrannt, daß er diesmal jede Vorsicht beiseite ließ und von seinem Standpunkt aus dem Fremden besonderes Interesse entgegenbrachte, weil er hoffte, von ihm für seine eigenen Ziele Vorteile erlangen zu können.

Es entwickelte sich nun zwischen den beiden ein längeres Zwiegespräch, da der Tanz indessen wieder begonnen hatte und die Mädchen sich mit ihren Begleitern bei den Klängen der Musik vergnügten.

Der junge Mann mit dem blondlockigen Haar war sehr eifrig bei der Sache und nahm jedes Wort des ehemaligen Barbiers gierig auf, während Stommel sich in Mutmaßungen über den vermeintlichen Täter erging, und zwar in ähnlicher Art, wie er dies kurz vorher der ganzen Tischgesellschaft gegenüber getan hatte. In seiner Wichtigtuerei ging er jetzt nur etwas weiter und gab sich als feinen Beobachter, indem er durchblicken ließ, er sei wohl der einzige Mensch, der an jenem Abend einen dunkelhaarigen bartlosen Mann in mittleren Jahren in der Nähe des Amerikaners gesehen habe.

Der Blonde schien erleichtert aufzuatmen und wurde sichtlich froh gestimmt, erkundigte sich auch nach Namen und Adresse seines gesprächigen Nachbarn und erbot sich, am nächsten Abend wieder mit ihm zusammenzutreffen.

Auf Stommel hatte dieses lebhafte Interesse aber eine entgegengesetzte Wirkung ausgeübt. – Er sträubte sich, Namen und Wohnung anzugeben, indem er behauptete, nur vorübergehend in Berlin zu sein; außerdem wollte er seine Persönlichkeit nicht in die Sache hineingezogen wissen. Umgekehrt aber erschien der Fremde dem »Krawattenpaul« außerordentlich verdächtig.

Zunächst hatte der eigentümliche Mensch sich selbst als einen Verehrer der Begleiterin des Amerikaners ausgegeben. Er mußte also der Dame nahe gestanden haben und mit deren Gewohnheiten vertraut geworden sein. Und es war ferner mit Sicherheit anzunehmen, daß er die Anwesenheit des Amerikaners in Berlin mit Eifersucht und vielleicht sogar mit Haß verfolgte. Dazu kam die auffallend freudige Erregung des Fremden, als er von der geheimnisvollen Person in der Nähe des Paares erfuhr. Und sogleich folgerte Stommel, daß der Blonde seine eigene Prahlsucht dazu verwenden wolle, um sich eine Art Alibi zu schaffen, indem er ihn als Zeugen dafür verwerten möchte, daß nicht er, sondern eben jene geheimnisvolle Person in der Nähe des Ermordeten beobachtet worden sei.

Aus allen diesen Gründen reifte in »Krawattenpaul« der Entschluß, seinen Tischnachbar nicht mehr aus den Augen zu lassen, bis er dessen Wohnung ermittelt hätte.

Andererseits aber wurde der Fremde sehr stutzig, als der frühere Barbier sich in unbegreiflicher Zurückhaltung sträubte, über seine Persönlichkeit nähere Auskunft zu geben. Und er sagte sich deshalb: ein Mann, der den ganzen Vorgang beobachtet habe und sich dennoch so merkwürdig ablehnend und verbissen schweigsam verhalte, müsse entschieden durch sehr schwerwiegende Bedenken veranlaßt werden, sich in ein geheimnisvolles Dunkel zu hüllen, und solches Gebahren könne nur in einer Mittäterschaft Erklärung finden. Deshalb entschloß sich der Blonde, seinen verdächtigen Gesellschafter nicht aus den Augen zu lassen und zum mindesten dessen Schlupfwinkel festzustellen.

Aus diesen gegenseitigen Verdächtigungen ergab sich ein sonderbares Verhalten der beiden, die sich ohne es auszusprechen, unter gegenseitige Bewachung gestellt hatten, dergestalt, daß der eine den unauffälligen Abgang des anderen zu verhindern suchte. Ging »Krawattenpaul« einmal hinaus, dann folgte ihm der Fremde auf dem Fuße, und umgekehrt. Selbst die Häufigkeit einer solchen Promenade vermochte die Hartnäckigkeit der gegenseitigen Verfolger nicht abzuschwächen. – Deutete der Fremde an, die Tanzdiele verlassen zu wollen, erklärte sich Stommel hierzu ebenfalls bereit, wodurch auch beide Teile in ihrem Vergnügen zu kurz kamen. Der ehemalige Barbier mußte auf den Tanz verzichten, was ihm sehr unangenehm war, und der Fremde auf jede weitere Unterhaltung, obwohl er noch gehofft hatte, andere Anhaltspunkte und Einzelheiten zu erfahren. Stommel aber blieb schweigsam.

Etwas Abwechslung in dieses stille System gegenseitiger Beobachtung und Überwachung brachten nur die Pausen der Musik, wenn die beiden Mädchen mit ihren Begleitern an den Tisch zurückkehrten. Man widmete sich dann den Erfrischungen und lachte und scherzte miteinander, aber man vermied es geflissentlich, sich mit dem Fremden in eine Unterhaltung einzulassen.

Allmählich leerte sich der Tanzraum, denn die Polizeistunde war schon überschritten. Die »Valutenderin« ging mit dem rumänischen Verehrer davon, die »Matrosentrude« ließ sich von einem der jungen Männer begleiten, und schließlich, als die Lampen schon verlöscht wurden, blieb den beiden »Verdächtigen« nichts anderes übrig, als ebenfalls den Heimweg anzutreten, nachdem noch am Garderobetisch ein schwieriges Stück Arbeit zu überwinden war, damit der eine dem anderen nicht zuletzt noch entwischte.

Vor der Tür der Konditorei begann eine neue Taktik. Stommel wartete darauf, daß der Fremde die Füße in Bewegung setzen sollte, andererseits hoffte der Blonde, den unangenehmen Begleiter bald wandern zu sehen, damit er ihn heimlich verfolgen und seine Wohnung ermitteln könne.

Dieser Doppelwachtposten zur unrechten Zeit und am unrechten Ort dauerte eine ganze Weile, bis »Krawattenpaul« wegen der eiligen Heimfahrt seiner »Braut« in Begleitung eines Liebhabers etwas unruhig wurde. Die Erna war nämlich schon mehrfach von mittellosen Kavalieren geneppt worden.

Zwar dachte er wohl daran, den Verdächtigen einer Schupo-Patrouille zu übergeben, die an ihnen vorüberging, aber teils mochte er mit den »Grünen« nichts zu tun haben, teils fürchtete er, daß ihm seine Belohnung verlorengehen könnte.

Endlich faßte Stommel einen Entschluß und fragte im Tone möglichster Gleichgültigkeit: »Sie wohnen wohl ooch in der Nähe?«

»Ja«, erwiderte ebenso trocken der Fremde, »am Savignyplatz!«

»Na, denn hab'n wir ja een'n Weg«, gab der andere zurück, »ick bin ja denn sozusagen Ihr Nachbar!«

Und beide trotteten langsam den Kurfürstendamm hinunter, bis sie in die Knesebeckstraße einbogen und sich der Kantstraße näherten. Die spärliche Unterhaltung erstreckte sich auf ganz gleichgültige Dinge.

Vor seinem Haus angelangt, verabschiedete sich der Fremde ganz kurz, schloß das Tor auf und verschwand. Stommel rieb sich vergnügt die Hände. Jetzt, wo er die Hausnummer wußte, schien es ihm ein leichtes, die Persönlichkeit des Blonden feststellen zu lassen. Dieser aber hatte nicht daran gedacht, seine Wohnung unverrichteter Sache aufzusuchen; denn kaum war der ehemalige Barbier über den Platz geschritten, als sich die Haustür wieder langsam öffnete und der Blonde, vorsichtig Umschau haltend, die Spur seines Begleiters sofort aufnahm.

»Krawattenpaul« ging fröhlich vor sich hinpfeifend die Grolmannstraße hinunter und erreichte nach einer Zickzackwanderung durch wenig beleuchtete Gegend endlich die übelbeleumundete Spreestraße im ältesten Stadtviertel Charlottenburgs. Vor einer hohen grauen Mietskaserne machte er halt, blickte sich noch flüchtig nach allen Seiten um und ging hinein.

Der Blonde war ihm bis hierher unbemerkt gefolgt; er notierte sich jetzt die Hausnummer und suchte sofort das nächste Polizeirevier auf, wo er trotz der vorgerückten Stunde seine Verdachtsgründe zu Protokoll gab. Dem Beamten fiel es nicht schwer, die Persönlichkeit des Verdächtigen zu identifizieren; denn Stommel war der Behörde wegen seines verbrecherischen Treibens bekannt und sollte demnächst wieder zur Verbüßung einer Gefängnisstrafe abgeholt werden. »Krawattenpaul« liebte es nämlich nicht, der Aufforderung des Herrn Staatsanwalts zum Strafantritt Folge zu leisten, sondern zog es immer vor, sich nach Moabit feierlich einholen zu lassen. Jedenfalls war beabsichtigt, ihn wegen des Mordverdachts noch im Laufe der Nacht zu vernehmen.

Der Fremde, dem bei seinem, auf eigene Faust durchgeführten Ermittlungsunternehmen das Mißgeschick widerfuhr, selbst als Täter verdächtigt zu werden, war kein anderer als der Architekt Werner Holdtmann, der Jugendfreund der Hilma Stephany.

Seit seiner Zusammenkunft mit dem Rechtsanwalt Dr. Adler trieb es ihn mit aller Macht, Nachforschungen anzustellen, um durch das Auffinden einer anderen Spur, gemäß den Ratschlägen des Rechtsbeistandes, vielleicht die Befreiung seiner angebeteten Jugendfreundin, für die er heimlich in Liebe erglühte, zu erwirken.

So war er nun schon zwei Tage unterwegs, hatte in allen Lokalen, die Milner während seines kurzen Aufenthalts besuchte, Umfrage gehalten und sich mit dem amerikanischen Generalkonsul über etwaige Ermittlungen in Amerika besprochen. Er hatte ferner die Pensionswirtin in der Tauentzienstraße besucht, die er nach allen erdenklichen Kleinigkeiten ausfragte, und war endlich des Abends in der Tanzdiele selbst gelandet.

Holdtmann, ein Schwärmer von Natur und ein in sich gekehrter Mensch, hatte seine Leidenschaft für Hilma jahrelang in seinem Herzen verborgen gehalten und, obwohl er seelisch sehr gelitten, keinem Menschen hiervon auch nur andeutungsweise Erwähnung getan, am wenigsten dem Mädchen gegenüber. Im geheimen hoffte er freilich, daß sich hierzu Gelegenheit finden würde; er selbst aber unternahm nichts, eine solche Gelegenheit herbeizuführen. Erst durch die Zeitungsberichte über die Festnahme Hilmas und den schweren Verdacht, der auf ihr ruhte, wandelte sich sein stilles Liebessehnen in männliche Entschlossenheit. Er war sofort davon überzeugt, daß nur die unglückliche Verquickung besonderer Umstände ein so hartes Schicksal über das bedauernswerte Mädchen verhängt habe, und er fühlte, daß Hilmas Befreiung und Zukunft mit seinem eigenen Leben und Gedeihen so eng verknüpft sei, daß eine Erfolglosigkeit seines tatkräftigen Eingreifens den Untergang beider verursachen würde. Diese innere Überzeugung und die jahrelang in seinem Herzen glimmende Liebe, die nun plötzlich zu einer Leidenschaft von elementarer Kraft entflammt war, trieb ihn jetzt, alle geistigen und körperlichen Kräfte zu wagen, Arbeit und Existenz aufs Spiel zu setzen und die schwersten Entbehrungen und Leiden zu erdulden, um Hilmas Glück und dadurch seinen Seelenfrieden, vielleicht sogar die Liebe des angebeteten Mädchens zu erlangen.

Als zwei Schupoleute im Morgengrauen den Versuch machten, den »Krawattenpaul« nach der Polizeiwache zu bringen, erklärte ihnen die aus dem Schlaf geweckte »Valutenderin«, daß ihr Untermieter vor einer halben Stunde fortgegangen sei. Ein Absuchen der kleinen Wohnung war ergebnislos.

Stommel hatte tatsächlich nichts Eiligeres zu tun gehabt, als mit dem ersten Stadtbahnzug nach dem Alexanderplatz zu fahren und dem betreffenden Dezernenten von seinen Wahrnehmungen in der geheimnisvollen Mordangelegenheit Kenntnis zu geben.

Da der Kommissar es nicht für ausgeschlossen hielt, daß ein Liebhaber der Hilma seine Hand im Spiele gehabt habe, wurden die Bekundungen des »Krawattenpaul« aufmerksam entgegengenommen.

»Krawattenpaul« glaubte sich schon im Besitz der ausgebotenen Belohnung und stolzierte vergnügt den langen Korridor hinunter, als ihn ein unerwartetes Mißgeschick ereilte.

Ein Kriminalbetriebsassistent, der die Kartei der Leichtverbrecher bearbeitete, erkannte, als er dem geldgierigen Denunzianten auf dem Korridor begegnete, in dem elegant angezogenen jungen Mann den Gelegenheitsdieb Paul Stommel wieder, der bisher vergebens aufgefordert worden war, eine über ihn verhängte Gefängnisstrafe zu verbüßen.

Da es dem Beamten nach seinen Erfahrungen ratsam erschien, derartige unsichere Mitbürger bei der ersten und besten Gelegenheit an ihre Pflichten dem Staate gegenüber zu erinnern, lud er den verdutzten »Krawattenpaul« freundlichst ein, bis zur Abholung mit der »grünen Minna«, dem Polizeiwagen, in einer Zelle des Präsidiums Quartier zu nehmen.


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