Samuel Smiles
Selbsthilfe
Samuel Smiles

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.

Der Charakter. – Der wahrhaft »vornehme Mann.«

»Wer könnte je ihm kommen gleich,
Dem tausendfach Erinnrung gilt?
An Großmut unerschöpflich reich,
Die als sein Wesen sich enthüllt:

An Güte, die in Freundlichkeit
Und zarten Diensten sich erweist
Und Anmut der Erscheinung leiht
Und nur erblüht aus edlem Geist!
Nur Männern solcher Art gebührt
Der stolze Name: »Edelmann.« –«

Tennyson.

»Es bildet ein Talent sich in der Stille,
Sich ein Charakter in dem Strom der Welt.« –

Goethe.

»Was einem Lande Bedeutung. Kraft und Würde giebt – was seine Macht ausdehnt, ihm moralischen Einfluß verleiht und ihm Achtung und Gehorsam erzwingt – was ihm die Herzen von Millionen zuwendet und den Stolz der Völker vor ihm in den Glaub beugt – das Mittel der Herrschaft, die Quelle der Gewalt, der wahre Thron, die Krone und das Scepter einer Nation: das ist jener Adel, der nicht im Blut, nicht im eleganten Auftreten und nicht im Talent, sondern einzig im Charakter liegt, und der dem Manne sein bestes Wappenschild verleiht.« – Die »Times«

Der Charakter ist die Krone und der Ruhm des Lebens. Er ist das edelste Besitztum eines Menschen, welches an sich einen Rang und einen Anspruch auf die allgemeine Achtung darstellt – wie es jeden Beruf adelt und jeder Lebensstellung Würde giebt. Der Charakter besitzt eine größere Macht als der Reichtum; gleich dem Ruhm verschafft er uns Ehren, ohne doch wie jener Eifersucht zu erregen. Er übt eine nie versagende Wirkung aus; denn er ist das Resultat der erprobten Ehrenhaftigkeit, Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit – welche Eigenschaften vor allen anderen das allgemeine Vertrauen und die Achtung der Mitwelt gewinnen.

Der Charakter repräsentiert die menschliche Natur in ihrer besten Gestalt; er ist die Verkörperung der moralischen Ordnung im Individuum. Die charaktervollen Menschen stellen nicht nur das Gewissen der Gesellschaft dar, sondern bilden auch in jedem wohlorganisierten Staate die beste Triebfeder; denn die Welt wird hauptsächlich durch moralische Einflüsse regiert. Napoleon war der Ansicht, daß selbst im Kriege das Kraftverhältnis zwischen moralischer und physischer Gewalt wie 10 zu 1 sei. Die Stärke, die industrielle Entwicklung und die Civilisation der Völker – sie alle hängen von dem individuellen Charakter ab, auf welchem die Grundlagen der bürgerlichen Sicherheit ruhen, und aus welchem auch die Gesetze und Einrichtungen des Staates hervorgehen. Die gerecht abwägende Natur giebt den Individuen, Völkern und Rassen genau so viel, als sie verdienen – aber auch nichts weiter; und da Ursache Und Wirkung in engem Zusammenhange stehen, so werden die Charaktereigenschaften eines Volkes nicht verfehlen, ihre entsprechenden Resultate hervorzubringen.

Ein Mann von verhältnismäßig geringer Bildung, bescheidenen Fähigkeiten und kleinem Vermögen wird doch – wenn er einen tüchtigen Charakter besitzt – immer einen gewissen Einfluß ausüben – sei es in der Werkstätte, im Comptoir, auf dem Markt oder im Senat. Canning schrieb im Jahre 1801 die verständigen Worte: »Ich will auf dem Wege des Charakters zur Macht gelangen. Ich bin entschlossen, kein anderes Mittel zu versuchen; denn ich bin sanguinisch genug, zu glauben, daß dies Mittel, wenn auch nicht das am schnellsten wirkende, so doch das sicherste ist.« Man wird einen geistreichen Mann bewundern; aber es gehört noch etwas mehr dazu, damit man ihm vertraue. Daher machte Lord John Russel einmal die folgende, sehr wahre Bemerkung: »Der englische Parteigeist pflegt den Beistand genialer Männer zu suchen, aber der Leitung charaktervoller Männer zu folgen.« Dies zeigte sich in frappanter Weise in dem Leben des Verstorbenen Francis Horner – eines Mannes, von welchem Sidney Smith sagte, daß die zehn Gebote auf seinem Gesicht geschrieben ständen. »Die wertvolle und merkwürdige Lehre, welche jeder rechtlich denkende Jüngling aus seinem Leben ziehen kann,« sagt Lord Cockburn, »ist diese: Er starb im Alter von achtunddreißig Jahren und hat dabei einen größeren Einfluß besessen als irgend ein anderer Privatmann; denn alle haben ihn bewundert, geliebt, geachtet und beklagt – mit Ausnahme der Herzlosen und Schlechten. Keinem dahingegangenen Mitglied des Parlaments hat man je in diesem Hause ein größeres Lob nachsagen können. Nun wird ein Jüngling fragen: Wie wurde solches erreicht? Durch Rang? – Er war der Sohn eines Edinburger Kaufmanns! – Durch Reichtum? – Weder er noch seine Verwandten hatten je einen Sixpence übrig! – Durch ein einflußreiches Amt? – Er hat nur ein einziges, unbedeutendes Amt bekleidet, welches er wenige Jahre inne hatte, und wofür er nur eine geringe Besoldung erhielt! – Durch Talente? – Die seinigen waren nicht glänzend, denn er war kein Genie. Vorsichtig und schwerfällig, hatte er nur den Ehrgeiz, rechtschaffen zu sein! – Durch Beredsamkeit? – Er sprach ruhig und geschmackvoll, aber ohne eine Spur jener Redekunst, die einschüchtert oder hinreißt! – Durch bezaubernde Manieren? – Die seinigen waren nur korrekt und angenehm! – Aber worin lag denn seine Macht? – Einzig in seinem gesunden Menschenverstand, seinem Fleiße, seinen guten Grundsätzen und seinem guten Herzen – d. h. in solchen Vorzügen, die sich jeder normale Mensch aneignen kann! Die Kraft seines Charakters hob ihn empor; und diesen Charakter hatte ihm nicht die Natur verliehen, sondern er selbst hatte ihn aus ganz gewöhnlichen Elementen gebildet. Es gab im Unterhause viele, die reichere Talente und eine größere Beredsamkeit besaßen; aber es gab nicht einen unter ihnen, der daneben das gleiche Maß moralischen Weites aufzuweisen gehabt hätte. Horner ist ein Beispiel dafür, was eine mäßige Begabung – ohne andere Hilfe als Bildung und Herzensgüte – selbst dann zu leisten vermag, wenn sie sich inmitten des Wettstreites und der Eifersucht des öffentlichen Lebens bethätigt.«

Auch Franklin schrieb seine Erfolge als Staatsmann nicht seiner Begabung oder Redekunst zu, die beide nur mäßig waren, sondern der bekannten Rechtschaffenheit seines Charakters. »Hierdurch,« sagt er, »erlangte ich einen so großen Einfluß auf meine Mitbürger. Ich sprach schlecht, war keineswegs beredt, schwankte oft in der Wahl meiner Worte, drückte mich zuweilen unrichtig aus – und drang doch fast immer mit meiner Ansicht durch.« Vermittelst eines tüchtigen Charakters gewinnt sowohl der hochgestellte als auch der einfache Mann das Vertrauen seiner Mitmenschen. Man hat von dem Kaiser Alexander I. von Rußland gesagt, daß sein persönlicher Charakter so viel wert gewesen sei als eine Konstitution. Während der Kriege der Fronde war Montaigne der einzige Edelmann in Frankreich, der die Thore seines Schlosses nicht verriegelte; man sagte von ihm, sein persönlicher Charakter schütze ihn besser, als dies ein Reiterregiment zu thun vermöchte. Daß der Charakter eine Macht bedeutet, ist in höherem Sinne wahr als die Behauptung, daß das Wissen eine Macht sei. Verstand ohne Herz, Geist ohne Charakter, Klugheit ohne Güte sind auch Kräfte in ihrer Art; aber sie dienen oft nur zu bösen Zwecken. Wir können uns zwar durch sie belehren und unterhalten lassen; doch bewundern kann man sie bisweilen nur in der Weise, wie man etwa die Geschicklichkeit eines Taschendiebes oder die Reitkunst eines Straßenräubers bewundert.

Wahrhaftigkeit, Rechtschaffenheit und Güte – Tugenden, die jeder erwerben kann – bilden das eigentliche Wesen des männlichen Charakters oder, um die Worte eines unserer älteren Schriftsteller anzuführen, »jene tiefgewurzelte Treue gegen die Tugend, welche ihr dienen kann, ohne eine Livree zu tragen.« Wer neben jenen Eigenschaften noch einen starken Willen besitzt, verfügt über eine unwiderstehliche Gewalt. Er hat die Kraft, Gutes zu thun, Böses zu meiden und in Not und Mißgeschick standhaft zu bleiben. Als Stephan von Colonna in die Hände seiner schändlichen Feinde fiel, fragten diese ihn höhnisch: »Wo ist nun deine Festung?« Hier!« antwortete Colonna kühn, indem er die Hand auf sein Herz legte. Im Unglück zeigt sich der Charakter des redlichen Mannes in seinem hellsten Glanze; und wenn alle anderen Stützen brechen, so hält er sich aufrecht an seiner Rechtschaffenheit und seinem Mut.

Die Lebensregeln, welche von Lord Erskine – einem Manne von unbeirrten Grundsätzen und gewissenhaftester Wahrheitsliebe – befolgt wurden, wären es wert, daß jeder Jüngling sie sich ins Herz prägte. »Als eins der ersten Gebote,« sagt er, »empfing ich in meiner frühen Jugend den Rat, immer zu thun, was mein Gewissen mir befehlen würde, und die Folgen davon Gott zu überlassen. Ich werde mich dieser väterlichen Vorschrift bis an mein Lebensende erinnern und ihr auch – wie ich hoffe – allezeit gehorchen. Ich habe dies bisher stets gethan und kann nicht darüber klagen, daß mein Gehorsam mir zeitliche Opfer gekostet. Ich habe im Gegenteil gefunden, daß er der Weg zum Glück und Wohlstand ist, auf den ich auch meine Kinder leiten will.«

Jeder Mensch soll nach der Aneignung eines guten Charakters als einem der höchsten Lebenszwecke trachten. Schon das Bestreben, dies Ziel durch würdige Mittel zu erreichen, giebt unseren Kräften einen heilsamen Antrieb; und je mehr sich unsere Auffassung von dem Wert der Menschen veredelt: um so stetiger und lebhafter wird dieser Antrieb sein. Es ist nützlich, daß wir uns ein hohes Ziel stecken, wenn mir auch nicht imstande sind, es völlig zu erreichen. Herr Disraeli sagt: »Ein Jüngling, der nicht aufwärts schaut, wird den Blick auf die Erde heften; und ein Geist, der sich nicht emporschwingt, wird vielleicht einst im Staube kriechen müssen.« George Herbert giebt den weisen Rat:

»Paar' schlichte Haltung mit erhab'nem Streben!
So wird zur Demut edler Stolz gesellt!
Der Himmel kann dem Pfeil des Schützen geben
Ein höher Ziel, als es die Erd' enthält.«

Wer edle Grundsätze und eine vornehme Anschauungsweise hat, wird sicherlich ein besseres Leben führen als ein anderer, dem beides fehlt. »Zupfe an einem goldenen Rock,« sagt ein schottisches Sprichwort, »und du kannst einen Ärmel davon haben.« Wer sich das höchste Ziel steckt, wird gewiß einen Punkt erreichen, welcher denjenigen, von welchem er ausging, weit zurücklaßt: und wenn das erreichte Ziel auch nicht mit dem ersehnten zusammenfällt, so muß doch schon das bloße Vorwärtsstreben eine heilsame Wirkung ausüben.

Es giebt viele wertlose Nachahmungen des Charakters; aber der echte Artikel kann nicht damit verwechselt werden. Viele, die den pekuniären Wert des Charakters kennen, möchten sich den trügerischen Schein desselben aneignen, um mit seiner Hilfe die Unvorsichtigen zu übertölpeln. Der Oberst Charteris sagte zu einem durch Ehrenhaftigkeit ausgezeichneten Manne: »Ich möchte Ihnen tausend Pfund für Ihren guten Namen geben.« – »Warum?« – »Weil ich damit zehntausend gewinnen könnte!« lautete die Antwort des Schurken.

Redlichkeit in Wort und That ist das Rückgrat des Charakters, und unerschütterliche Wahrhaftigkeit bildet sein hervorragendstes Merkmal. Eins der schönsten Zeugnisse über den Charakter des verstorbenen Sir Robert Peel ist dasjenige, welches der Herzog von Wellington dem großen Staatsmanne wenige Tage nach dessen Tode vor dem Oberhause ausstellte. »Meine Lords!« sagte er, »Sie alle müssen den edlen und ehrenwerten Charakter des verstorbenen Sir Robert Peel anerkennen. Ich habe im öffentlichen Leben lange an seiner Seite gestanden. Wir gehörten beide zu den Ratgebern unserer Gebieterin; und ich hatte lange Zeit die Ehre, seine vertraute Freundschaft zu genießen. Während der ganzen Dauer unserer Bekanntschaft ist mir kein Mann begegnet, zu dessen Wahrhaftigkeit oder Gerechtigkeit ich ein größeres Vertrauen gehabt, oder bei welchem ich ein regeres Verlangen wahrgenommen hätte, das Wohl des Staates zu fördern. Während der ganzen Zeit, die ich mit ihm verkehrte, ist mir kein Fall vorgekommen, in welchem er nicht die strengste Wahrhaftigkeit bewährt hätte; und in meinem ganzen Leben habe ich nie die geringste Ursache gehabt, zu argwöhnen, daß er irgend etwas behauptet, was er nicht auch wirklich für eine Thatsache gehalten.« Und ohne Zweifel lag hauptsächlich in dieser edlen Wahrhaftigkeit des berühmten Staatsmannes das Geheimnis seines Einflusses und seiner Macht.

Zum Wesen eines redlichen Charakters gehört aber nicht nur eine Wahrhaftigkeit in Worten, sondern auch eine solche in Thaten. Der Mann muß in Wirklichkeit das sein, als was er erscheint oder erscheinen will. Als ein Amerikaner über Granville Sharp schrieb, daß er aus Achtung vor seinen großen Tugenden einen seiner Söhne nach ihm benannt habe, sandte ihm Sharp die Antwort: »Ich möchte Sie bitten, Ihrem Sohne einen Lieblingswahlspruch jener Familie einzuprägen, deren Namen Sie ihm gegeben haben; der betreffende Spruch lautet: ›Bemühe dich, allezeit wirklich das zu sein, was du scheinen möchtest!‹ Mein Vater hat mir erzählt, daß der seinige diesem Gebot getreulich und demütig gehorchte und sich infolgedessen im bürgerlichen und häuslichen Leben durch die unverfälschte Biederkeit und Redlichkeit seines Charakters auszeichnete.« Jeder, der sich selbst achtet, und dem etwas an der Achtung der anderen liegt, wird, diesen Grundsatz befolgen, indem er sich jeder Aufgabe mit ehrlicher Bemühung und mit ganzem Herzen widmet – indem er nichts abpfuscht, sondern einen Stolz darein setzt, redlich und gewissenhaft seine Pflicht zu erfüllen. Cromwell sagte einmal zu Bernard, einem gescheiten, aber wenig skrupulösen Rechtsanwalt: »Man hat mir berichtet, daß Ihr in der letzten Zeit sehr vorsichtig in Eurem Benehmen gewesen seid. Verlaßt Euch aber nicht allzusehr darauf. Die Schlauheit kann sich selbst eine Grube graben, die Redlichkeit nie!« – Menschen, deren Thaten ihren Reden direkt zuwiderlaufen, erringen sich keine Achtung ihre Worte haben kein Gewicht; und selbst Wahrheiten scheinen in ihrem Munde den Wert zu verlieren.

Ein echter Charakter handelt immer rechtschaffen, sowohl im Verborgenen als auch vor den Blicken der Welt. Das war ein wohlerzogener Knabe, der auf die Frage, warum er keine Birnen in die Taschen steckte, da es doch niemand sähe, die Antwort gab: »Es sieht's doch jemand – ich selber! und ich möchte mich nie auf einer unredlichen That ertappen!« – Dies ist ein einfaches, aber nicht unpassendes Beispiel, an welchem wir erkennen können, wie die Grundsätze und das Gewissen den Charakter bestimmen und eine edle Schutzherrschaft ausüben – nicht bloß einen passiven Einfluß, sondern eine wirkende Kraft, die das ganze Leben regelt. Solche Grundsätze formen den Charakter täglich und stündlich mit einer stetig wachsenden Gewalt. Ohne diesen zwingenden Einfluß ist der Charakter schutzlos und jeden Augenblick der Gefahr ausgesetzt, der Versuchung zu erliegen. Jede Nachgiebigkeit aber gegen die böse Lockung, jede gemeine That – wie geringfügig sie auch erscheinen möge – bedeutet eine Selbsterniedrigung. Es ist vollkommen gleichgiltig, ob die That Erfolg hat oder nicht, ob sie entdeckt wird oder verborgen bleibt: der Schuldige ist nicht mehr derselbe, der er war, sondern ein anderer Mensch; er wird von einer geheimen Unruhe und von nagenden Selbstvorwürfen gequält, welche die Wirkungen dessen sind, was wir »das Gewissen« nennen, und welche das unvermeidliche Schicksal der Schuld ausmachen.

Und hier wollen wir darauf hinweisen, wie sehr der Charakter durch die Pflege guter Gewohnheiten gekräftigt und gestärkt werden kann. Man hat den Menschen ein »Gewohnheitstier« und die Gewohnheit die »zweite Natur« genannt. Metastasio hatte von der Wirkung oft wiederholter Thaten und Gedanken eine w hohe Meinung, daß er sagte: »Alles am Menschen ist Gewohnheit – sogar die Tugend.« Buttler betont in seiner »Analogie« die große Bedeutung einer sorgfältigen Selbsterziehung und eines festen Widerstandes gegen die Versuchung, da diese beiden Dinge seiner Meinung nach die Tendenz haben, die Tugend derartig zur Gewohnheit zu machen, daß es schließlich leichter ist, gut zu sein als zu sündigen. »Wie die Gewohnheiten des Körpers durch äußerliche Handlungen entstehen,« sagt er. »so werden die Gewohnheiten des Geistes durch die Ausführung innerlicher heilsamer Entschlüsse – durch die Bewahrung der Grundsätze des Gehorsams, der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit – erzeugt, welche man in Thaten umsetzt, oder nach welchen man handelt.« Und wiederum bemerkt Lord Brougham, indem er auf die ungeheuere Wichtigkeit hinweist, welche die Erziehung und das gute Beispiel für die Jugend haben: »Nächst Gott flößt mir das größte Vertrauen die Gewohnheit ein, auf welche sich die Gesetzgeber und Schulmeister aller Zeiten am meisten verlassen haben – die Gewohnheit, welche alles leicht macht und nur die Abweichung von dem gewohnten Pfade schwer erscheinen laßt.« Man mache die Mäßigkeit zur Gewohnheit, und die Unmäßigkeit wird verabscheut werden! Man lasse eine verständige Lebensführung, zur Gewohnheit erstarken, und gegen Ausschweifung und Leichtfertigkeit werden sich alle Grundsätze empören, die das Leben des Individuums lenken! Daher muß das Platzgreifen einer bösen Gewohnheit mit der größten Sorgfalt und Wachsamkeit verhindert werden; denn der Charakter ist immer am schwächsten an der Stelle, an welcher er einmal nachgegeben hat; und es dauert lange, bis ein erneuerter Grundsatz so fest wird wie einer, der nie erschüttert wurde. Von einem russischen Schriftsteller rührt die folgende hübsche Bemerkung her: »Die Gewohnheiten gleichen einem Halsband von Perlen: wird der Knoten gelöst, so fällt die ganze Kette auseinander.«

Gefestigte Gewohnheiten wirken unwillkürlich und ohne Anstrengung! erst wenn man sich ihnen widersetzt, merkt man, wie stark sie sind. Die öftere Wiederholung einer Handlung erzeugt bald Geschicklichkeit und Neigung. Die Gewohnheit ist zuerst vielleicht so schwach wie ein Spinngewebe; ist sie aber erstarkt, so fesselt sie uns wie mit eisernen Ketten, Die kleinen Ereignisse des Lebens mögen – einzeln betrachtet – außerordentlich unbedeutend erscheinen – so unbedeutend wie die leise fallenden Schneeflocken, die doch in ihrer Anhäufung die Lawine bilden.

Selbstachtung, Selbsthilfe, Fleiß, Thätigkeit, Rechtschaffenheit – sie alle sind ihrer Natur nach Gewohnheiten, nicht Überzeugungen. Unsere Grundsätze sind in der Thal nur Namen, die wir unseren Gewohnheiten beilegen. Der Grundsatz ist die Bezeichnung, aber die Gewohnheit ist das Ding, an sich – unser Wohlthäter oder Tyrann, je nachdem sie gut oder böse ist. So rauben unsere Gewohnheiten uns mit der Zeit einen Teil unserer freien Selbstbestimmung und Individualität; unsere Handlungen nehmen etwas von der Natur des Fatums an; und wir fühlen uns von den Ketten gefesselt, die wir uns selbst angelegt haben.

Daß junge Leute in tugendhaften Gewohnheiten erzogen werden, ist von einer Wichtigkeit, die nie zu hoch angeschlagen werden kann. Gerade in der Jugend bilden sich am leichtesten jene Gewohnheiten aus, die, wenn sie erst einmal gefestigt sind, das ganze Leben hindurch vorhalten und – gleich den in die Rinde eines Baumes geschnittenen Buchstaben – mit den Jahren wachsen und zunehmen. »Gewöhne einen Knaben an den Weg, den er wandeln soll, und er wird im Alter nicht davon abweichen!« Der Anfang schließt schon das Ende in sich; das erste Betreten der Lebensstraße bestimmt bereits die Richtung und das Schicksal der Reise, ce n'est que le premier pas qui coûte. »Denken Sie daran,« sagte Lord Collingwood zu einem jungen Manne, den er liebte, »daß Sie vor Ihrem fünfundzwanzigsten Jahre einen Charakter haben müssen, der Ihnen Ihr ganzes Leben lang dienen soll!« Da mit den Jahren die Gewohnheiten erstarken und der Charakter sich festigt, so wird ein Abweichen von dem alten Pfade immer schwieriger. Deshalb ist das Verlernen oft weniger leicht als das Lernen; und so hatte denn der griechische Flötenbläser ganz recht, wenn er von denjenigen Schülern, die vorher bei einem schlechteren Lehrer Unterricht genommen, das doppelte Honorar forderte. Die Ausrottung einer alten Gewohnheit verursacht oft weit mehr Schmerz und Mühe als das Ausziehen eines Zahnes. Man mache den Versuch, Faulenzer, Verschwender oder Trunkenbolde zu bekehren, und man wird finden, daß in den meisten Fällen die Bemühung keinen Erfolg hat. Bei den Unverbesserlichen haben eben die Gewohnheiten das Leben derartig umsponnen und durchdrungen, daß sie ein integrierender Teil desselben geworben sind und nicht mehr daraus entfernt werden können. Herr Lynch bemerkt daher sehr richtig: »Die beste Gewohnheit von allen ist die Gewohnheit, sich in guten Gewohnheiten zu üben.«

Selbst das Glücksgefühl kann zu einer Gewohnheit werden. Der eine pflegt das Leben von der heiteren Seite aufzufassen, der andere hat sich daran gewöhnt, die dunkeln Seiten unseres Daseins zu betrachten. Dr. Johnson aber meinte, die Gewohnheit, alle Dinge im freundlichsten Lichte zu sehen, sei mehr wert als ein Jahreseinkommen von 1000 Pfund. Und wir besitzen in hohem Maße die Fähigkeit, unseren Willen so zu erziehen, daß sich unsere Gedanken nicht auf trübselige Gegenstände, sondern auf solche Dinge richten, die uns Freude und Nutzen gewähren. Demgemäß kann man sich die Gewohnheit einer fröhlichen Lebensanschauung ebensogut aneignen als irgend eine andere; und wenn Knaben und Mädchen in Gesellschaft solch einer frischen, gutmütigen und herzensfrohen Natur aufwachsen, so ist dies für ihr Leben vielleicht von höherer Bedeutung als die Aneignung reicher Kenntnisse und Fertigkeiten.

Wie es möglich ist, das Tageslicht durch die winzigsten Öffnungen zu sehen, so kann ein unbedeutender Zug den Menschen charakterisieren. Der Charakter ist tatsächlich die Summe kleiner Handlungen, die mit Gewissenhaftigkeit und Redlichkeit ausgeführt werden; aus dem Steinbruch des täglichen Lebens gewinnen wir das Material zu seinem Aufbau: und ebendaselbst hauen wir uns aus dem Groben die Gewohnheiten zurecht, durch welche er gebildet wird. Eine der sichersten Charakterproben ist die Art, in welcher wir uns gegen andere betragen. Ein anmutiges Benehmen gegen Vorgesetzte, Untergebene und Gleichgestellte ist eine beständige Quelle des Vergnügens. Es gefällt anderen, weil sich darin Achtung vor ihrer Persönlichkeit offenbart; aber es gewährt uns selbst eine zehnmal größere Befriedigung. Wie alles Übrige können wir uns durch Selbsterziehung auch ein gutes Benehmen aneignen; wir können – wenn wir es nur wollen – gütig und höflich sein, wenn wir auch keinen Heller in der Tasche haben. Ähnlich dem stillen Einfluß des Lichtes, welches der ganzen Natur Leben und Farbe verleiht, wirkt die Freundlichkeit belebend auf die Gesellschaft ein. Sie ist mächtiger und ersprießlicher als der herrische Befehl oder die Gewalt. Sie verfolgt ihren Weg mit Ruhe und Standhaftigkeit – gleich der sprossenden Frühlingsnarcisse, die durch die bloße Beharrlichkeit ihres Wachstums die Erdscholle lockert und zur Seite schiebt.

Schon ein freundlicher Blick kann Vergnügen und Freude bereiten. So erzählt Robertson von Brighton in einem seiner Briefe, eine Dame habe ihm »von dem Entzücken, den Thränen der Dankbarkeit« berichtet, die sie an einem armen Mädchen wahrgenommen, welchem er an einem Sonntage beim Verlassen der Kirche einen freundlichen Blick zugeworfen. »Was für eine Lehre!« fährt er fort, »mit wie leichter Mühe kann man jemand glücklich machen! Wie viele Gelegenheiten zu engelhaften Thaten lassen wir unbenutzt verstreichen! Ich erinnere mich, daß ich jenes Mädchen ansah, als ich – mit trüben Gedanken beschäftigt – an ihr vorüberging, ohne nachher weiter an sie zu denken. Und dennoch verlieh ich damit einem Menschenleben eine Stunde des Sonnenscheins und erleichterte einem Menschenherzen für eine Weile die Last des Daseins!« (Robertsons »Leben und Briefe.«)

Die Sitten und Manieren, welche dem Leben seine Färbung geben, sind viel wichtiger als die Gesetze, die nur aus jenen hervorwachsen. Das Gesetz berührt uns hier und da; aber den Manieren begegnen wir überall, sie durchdringen die Gesellschaft gleich der Luft, die wir einatmen. Gute Manieren – wie wir uns auszudrücken belieben – sind nichts mehr und nichts weniger als ein gutes Benehmen. Sie bestehen hauptsächlich in Höflichkeit und Güte: denn in jedem menschlichen Verkehr, der nach allen Seiten wohlthuend und erfreulich wirken soll, muß gegenseitiges Wohlwollen das vorliegendste Element sein. »Die Höflichkeit,« sagt Lady Montague, »kostet nichts: aber man kann alles damit kaufen.« Der billigste Artikel ist die Freundlichkeit, deren Bewährung das geringste Maß der Mühe und Selbstverleugnung erfordert. »Gewinnt Euch die Herzen,« riet Burleigh der Königin Elisabeth, »und Ihr werdet nicht nur über die Herzen der Menschen, sondern auch über ihre Börsen verfügen!« Wenn wir uns nur mit natürlicher Freundlichkeit, ohne Verstellung und Ziererei benehmen möchten, so würde dadurch die gesellige Heiterkeit und der gesellige Frohsinn ungemein gefordert werden. Die kleinen Höflichkeiten, welche die Scheidemünze des Verkehrs bilden, erscheinen uns – einzeln betrachtet – von geringem Wert: sie erhalten aber eine Bedeutung durch ihre Wiederholung und Häufung. Sie gleichen dem täglichen Grot (kleine Silbermünze) oder den ersparten Augenblicken, welche anerkanntermaßen im Laufe eines Jahres oder eines Lebens so wichtige Resultate erzielen können.

Die Manieren sind die Zierde der Handlungen. Es giebt eine Art, freundliche Worte zu sprechen oder freundliche Thaten zu verrichten, durch welche der Wert der einen wie der anderen bedeutend erhöht wird. Was man uns widerwillig oder mit einer Miene der Herablassung gewahrt, wird von uns kaum als eine Gunst empfunden. Es giebt aber Menschen, die sich auf ihre Grobheit etwas zu gute thun und trotz ihrer Tugend und ihrer Talente durch ihr Benehmen fast unerträglich werden. Es fällt uns schwer, einen Menschen zu lieben, der – ohne uns gerade Nasenstüber zu versetzen – doch beständig unser Selbstgefühl verwundet und es sich zur Pflicht macht, uns unangenehme Dinge zu sagen. Andere wieder sind von einer schrecklichen Herablassung und ergreifen mit Wonne die kleinste Gelegenheit, um ihren Mitmenschen ihr Übergewicht fühlen zu lassen. Als Abernethy sich um die Stelle eines Wundarztes am St. Bartholomäushospital bemühte, besuchte er eine derartige Persönlichkeit – einen reichen Gewürzkrämer, der zu den Vorstandsmitgliedern gehörte. Als der große Mann hinter dem Ladentisch den großen Chirurgen eintreten sah, nahm er sofort jene erhabene Miene an, die er dem Manne gegenüber für passend erachtete, der sich – wie er meinte – um seine Stimme bewerben wollte. »Ich vermute, mein Herr,« sagte er, »daß es Ihnen in diesem wichtigen Augenblick Ihres Lebens um mein Votum und meine Befürwortung zu thun ist.« Abernethy, der allen Humbug haßte und sich über den Ton des anderen ärgerte, versetzte kalt: »Durchaus nicht; ich möchte nur für einen Penny Feigen haben. Bitte, packen Sie mir dieselben rasch ein! Ich habe Eile.« –

Die Pflege guter Manieren ist – obwohl ihr Übermaß geckenhaft und thöricht erscheint – doch höchst notwendig für einen Menschen, der mit anderen geschäftlich verkehrt. Leutseligkeit und seines Benehmen sind sogar eine wesentliche Bedingung des Erfolges für jeden, der eine hervorragende Stellung einnimmt und sich in einer erweiterten Lebenssphäre bewegte denn der Mangel der genannten Vorzüge hat nicht selten die Erfolge eines sehr thätigen, rechtlichen und ehrenwerten Charakters arg beeinträchtigt. Es giebt ja ohne Zweifel starke, tolerante Seelen, welche ein mangelhaftes, eckiges Benehmen entschuldigen und nur auf die wertvolleren Eigenschaften blicken, aber im allgemeinen ist die Welt nicht so duldsam, sondern bildet sich ihr Urteil und ihre Sympathien meistens nach der äußeren Erscheinung und Haltung der Menschen.

Eine andere Art echter Höflichkeit beweisen wir dadurch, daß wir die Meinungen der anderen achten. Man hat von der Rechthaberei gesagt, daß sie nur die ausgebildetste Form der Flegelhaftigkeit sei; und die schlimmste Gestalt, die jene Eigenschaft annehmen kann, ist sicherlich die des starren Vorurteils und der Arroganz. Mögen die Menschen doch eingestehen, daß sie verschiedener Meinung sind, und sich dann gegenseitig ertragen und dulden! Man kann sehr wohl an seinen Grundsätzen und Ansichten festhalten, ohne deshalb mit anderen handgemein zu werden oder in einen heftigen Wortstreit zu geraten; und es giebt Umstände, unter denen ein Wort die Wirkung eines Dolchstiches hat und schwerer heilende Wunden schlägt als solch ein Mordinstrument. In Bezug hierauf wollen wir ein lehrreiches, kleines Gleichnis anführen, welches vor einiger Zeit von einem Wanderprediger des »evangelischen Bundes« im Grenzland von Wales seinen. Hörern erzählt wurde. »Als ich an einem nebligen Morgen aufs Gebirge stieg,« sagte er, »erblickte ich auf einem Bergabhänge ein seltsames Wesen, das mir – aus der Ferne betrachtet – wie ein Ungeheuer erschien. Als ich näher kam, bemerkte ich, daß es ein Mensch war; und als ich es erreicht hatte, erkannte ich in ihm meinen Bruder.«

Die natürliche Höflichkeit, welche aus einem warmen, freundlichen Herzen kommt, ist nicht das ausschließliche Eigentum eines bestimmten Ranges oder einer besonderen Stellung. Der Tischler an seiner Hobelbank kann sie ebensogut besitzen als ein Geistlicher oder ein Mitglied des Oberhauses. Rohheit oder Grobheit ist durchaus nicht ein notwendiges Attribut des arbeitenden Standes. Die Höflichkeit und Bildung, welche in vielen Ländern des Kontinents allen Klassen der Bevölkerung eigen ist, beweist, daß auch die Gesamtheit der Engländer sich jene Eigenschaften erwerben könnte – was ohne Zweifel auch eines Tages infolge der erhöhten Kultur und des allgemeiner werdenden geselligen Verkehrs geschehen wird – ohne daß uns dadurch eine unserer echt menschlichen Tugenden verloren ginge. Keinem Rang und keiner Lebensstellung – ob hoch oder niedrig, reich oder arm – versagt die Natur ihre edelste Gabe: die Hochherzigkeit. Es hat noch nie einen wahrhaft anständigen Menschen gegeben, der nicht hochherzig gewesen wäre. Und diese Tugend kann sich ebensogut in den groben Kittel des Bauern als in den zobelverbrämten Rock des Edelmanns hüllen. Robert Burns wurde einmal von einem jungen, etwas hitzigen Edinburger, mit welchem er spazieren ging, gescholten, weil er einen schlichten Pachter auf offener Straße begrüßt hatte. »Aber du lächerlicher Mensch!« rief Burns, »ich sprach ja nicht mit dem Flauschrock, der Kegelmütze und den Kniehosen, sondern mit dem Mann, der darin steckte; und der, mein Bester, ist so viel wert als ich und du – und noch zehn andere von unserer Sorte obendrein.« Die Schlichtheit der äußeren Erscheinung mag denjenigen gemein erscheinen, welche das darunter verborgene gute Herz nicht zu erkennen vermögen; aber dem Redlichen werden die Merkmale des echten Charakters bald offenbar werden.

William und Charles Grant waren die Söhne eines, Farmers aus Inverneßshire, welcher durch eine plötzliche Überschwemmung alles – sogar das Land verlor, welches er bebaute. Der Farmer und seine Söhne, vor denen nun die Welt offen lag, wanderten. Arbeit suchend, gen Süden, bis sie in die Nähe von Bury in Lancashire kamen. Von dem Gipfel des bei Walmesley liegenden Berges blickten sie weit in das vor ihnen ausgebreitete Land, dessen Ebene der Irwell in geschlängeltem Laufe durchströmte. Sie waren in der Gegend vollkommen unbekannt und wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten. Um ihrer Ungewißheit ein Ende zu machen, warfen sie einen Stock in die Höhe und beschlossen, die Richtung einzuschlagen, in welcher er niederfallen würde. So trafen sie ihre Entscheidung und setzten ihren Weg fort, bis sie das benachbarte Dorf Ramsbotham erreichten. Dort fanden sie Beschäftigung in einer Druckerei, in welcher William seine Lehrzeit durchmachte; und vermöge ihres Fleißes, ihrer Mäßigkeit und strengen Rechtschaffenheit erwarben sie sich das Wohlwollen ihrer Prinzipale. Die beiden Brüder arbeiteten weiter und stiegen von Stufe zu Stufe, bis sie endlich selbst Arbeitgeber und – nach langen Jahren fleißigen, mutigen und wohlthätigen Wirkens – reiche Leute waren, die von allen, welche sie kannten, geehrt und geachtet wurden. Ihre Baumwollenspinnereien und Kattundruckereien beschäftigten ein großes Arbeiterheer. Ihre verständige Betriebsamkeit schuf in der Gegend eine Fülle von Thätigkeit, Heiterkeit, Gesundheit und Wohlstand. Von ihrem reichen Vermögen spendeten sie große Summen für wohlthätige Zwecke. Sie bauten Kirchen, gründeten Schulen und förderten auf alle Art das Wohl der arbeitenden Klasse, aus welcher sie selbst hervorgegangen waren. Später bauten sie auf der Spitze des den Ort Walmesley überragenden Berges einen hohen Turm zur Erinnerung an jenes Ereignis ihres früheren Lebens, welches die Wahl ihres Wohnsitzes bestimmt hatte. Die Gebrüder Grant wurden durch ihre Wohlthätigkeit und Güte bald weit und breit berühmt: und man behauptet, daß Herr Dickens an sie gedacht habe, als er den Charakter der Gebrüder Cheeryble zeichnete. Wir wollen unter zahlreichen ähnlichen Anekdoten eine herausgreifen, um zu beweisen, daß der genannte Dichter sich bei der Schilderung des Brüderpaares keiner Übertreibung schuldig gemacht hat. Ein Geschäftsmann aus Manchester veröffentlichte eine außerordentlich grobe Schmähschrift gegen die Gebrüder Grant, in welcher der ältere Teilhaber der Firma als » Billy Button« (Willychen, der Knopf) verspottet wurde. William wurde durch irgend jemand von dem Inhalt des Pamphlets unterrichtet und that dabei die Äußerung: »Der Mann wird die Sache sicherlich noch einmal bereuen.« Als dem Verfasser der Schmähschrift diese Bemerkung wiedererzählt wurde, meinte er: »Aha! Grant denkt vermutlich, daß ich sein Schuldner werden könnte; aber ich will mich davor wohl in acht nehmen.« Ein Geschäftsmann ist aber nicht immer in der Lage, vorauszusehen, wer einst sein Gläubiger sein wird; und so geschah es, daß Grants Beleidiger bankerott wurde und zur Wiederaufnahme seines Geschäfts einer Accordbestätigung bedurfte, welche auch von den Gebrüdern Grant unterschrieben werden muhte. Eine Gunst von jener Firma zu erbitten, erschien ihm als ein ganz aussichtsloses Unternehmen: aber die Notlage seiner Familie bestimmte ihn schließlich doch dazu, den Versuch zu wagen. Er erschien also vor dem Manne, den er als » Billy Button« verspottet hatte; er erzählte ihm seine Geschichte und legte ihm das Attest vor. »Sie haben ja wohl einmal eine Schmähschrift gegen uns geschrieben?« fragte Herr Grant. Der Bittsteller dachte nun nicht anders, als daß sein Dokument ins Feuer fliegen würde; aber statt dessen wurde es von Herrn Grant mit dem Namen der Firma unterzeichnet und auf solche Art wirkungskräftig gemacht. »Wir haben die Gewohnheit,« sagte der reiche Mann, indem er dem anderen die Schrift zurückgab, »nie unsere Zustimmung zu dem Accord eines ehrlichen Kaufmanns zu verweigern; und es ist uns nicht zu Ohren gekommen, das Sie sich je anders als ein solcher gezeigt hatten.« Dem Manne traten die Thränen in die Augen. »Aha!« fuhr Herr Grant fort, »sehen Sie wohl, ich hatte doch recht mit der Prophezeiung, daß Ihre Schmähschrift Ihnen eines Tages leid sein würde. Ich meinte das gar nicht als eine Drohung – ich meinte nur, daß Sie uns einst besser kennen lernen und dann bereuen würden, uns beleidigt zu haben.« – »Ich bereue es auch! ja, wahrhaftig, ich bereue es!« – »Gut, gut! Sie kennen uns jetzt. Aber wie geht es Ihnen? Was werden Sie anfangen?« – Der arme Mann erzählte, daß er Freunde hätte, die ihm helfen wollten, wenn er die Bestätigung erwirkte »Aber wie sind Sie in der Zwischenzeit daran?« – Die Antwort des bankerotten Kaufmanns lautete, er habe jeden Heller seinen Gläubigern überlassen und seine Familie selbst in den notwendigsten Lebensbedürfnissen beschränkt, um nur das Attest bezahlen zu können. »Aber mein guter Mann, das geht doch nicht! Ihre Frau und Ihre Kleinen dürfen nicht Not leiden! Seien Sie so gut und bringen Sie Ihrer Gattin diese Zehnpfundnote! Na, na! weinen Sie doch nicht so – es wird schon noch alles gut werden; fassen Sie nur Mut und arbeiten Sie wie ein Mann! dann werden Sie eines Tages Ihren Kopf wieder so hoch halten können als der Besten einer« – Der Mann war so überwältigt, daß er nicht imstande war, ein Wort des Dankes hervorzustammeln; er schlug die Hände vors Gesicht und verließ das Zimmer, schluchzend wie ein Kind.

Ein wahrhafter Edelmann ist ein solcher, der sich nach den besten Mustern gebildet hat. Der Name »Edelmann« hat von altersher einen stolzen Klang und ist als Rang und Macht in allen Stadien der Gesellschaft anerkannt worden. »Ein Edelmann,« sagte jener alte französische General zu seinem schottischen Adelsregiment bei Roussillon, »ist immer ein Edelmann und bewährt sich als ein solcher in jeder Not und Gefahr.« Einen derartigen Charakter zu besitzen, ist schon an sich ein Vorzug, der die Sympathie jedes edlen Herzens gewinnt, und der selbst diejenigen zur Ehrfurcht zwingt, die sich vor dem Titel allein nicht beugen würden. Die Merkmale des echten Edelmanns liegen nicht in seiner vornehmen Erscheinung oder in seinen feinen Manieren, sondern in seinem moralischen Wert – nicht in seinen persönlichen Besitztümern, sondern in seinen persönlichen Tugenden. Der Psalmist beschreibt ihn kurz als einen Mann, der »ohne Wandel einhergehet und recht thut und redet die Wahrheit von Herzen.« (Psalm 15; 2.)

Ein edler Mensch zeichnet sich vor allem durch seine Selbstachtung aus. Er halt seinen Charakter hoch – nicht nur da, wo er von anderen gesehen wird, sondern auch da, wo er selbst sein einziger Zeuge ist – zufrieden, wenn ihm nur die Billigung seines inneren Beraters zu teil wird. Und wie er sich selber achtet, so hat er naturgemäß auch Achtung vor anderen. Das Menschentum ist ihm heilig; und aus dieser Gesinnung entspringen Höflichkeit, Duldsamkeit, Güte und Barmherzigkeit, Man erzählt von Lord Edward Fitzgerald, daß ihn auf einer Reise durch Kanada, die er in Begleitung von Indianern machte, die Unbarmherzigkeit eines Häuptlings empörte, der sein schweres Gepäck von seiner armen Squaw schleppen ließ, während er selbst unbeladen einherging. Sofort nahm Lord Edward dem Indianerweibe die Last ab und legte sie auf seine eigenen Schultern, indem er so ein schönes Beispiel jener dem wahrhaft vornehmen Manne angeborenen Höflichkeit gab, welche die Franzosen als »politesse de coeur« bezeichnen.

Der wahrhaft vornehme Mensch besitzt ein seines Ehrgefühls er vermeidet sorgfältig jede gemeine Handlung. Er hat von der Redlichkeit in Wort und That die höchste Auffassung. Er braucht keine Schliche und Winkelzüge, keine Vorwände und Ausflüchte, sondern ist ehrlich, aufrichtig und offenherzig. Sein Gesetz ist die Rechtschaffenheit – das Handeln nach ehrenhaften Grundsätzen. Wenn er »Ja« sagt, so darf man sich fest auf dies Wort verlassen: aber er hat auch den Mut, zur rechten Zeit ein tapferes »Nein« zu sagen. Ein edler Mann läßt sich nicht bestechen: nur Menschen von niedriger Gesinnung und fadenscheinigen Grundsätzen verlassen sich an diejenigen, die ein Interesse daran haben, sich auf solche Art ihres Beistandes zu versichern. Als der redliche John Hanway als Kommissär des Proviantamts fungierte, lehnte er jedes Geschenk von seiten eines Lieferanten ab, um sich nicht in der Ausübung seiner Amtspflichten beeinflussen zu lassen. Ein ähnlicher hübscher Charakterzug wird aus dem Leben des Herzogs von Wellington berichtet. Bald nach der Schlacht bei Assaye machte eines Morgens der erste Minister des Hofes von Hyderabad dem Herzog seine Aufwartung, um unter der Hand zu erfahren, welches Gebiet und welche Vorteile seinem Herrn in dem Friedensvertrage zwischen den Mahrattenfürsten und dem Nizam bewilligt wären. Für die ersehnte Auskunft bot der Minister dem britischen General eine sehr hohe Summe – weit über 100,000 Pfund. Sir Arthur sah ihm ruhig ein paar Sekunden lang ins Gesicht: dann sagte er: »Sie glauben also imstande zu sein, ein Geheimnis zu bewahren?« – »O sicherlich kann ich das!« rief der Minister. »Nun, ich kann es auch!« versetzte der englische Feldherr lächelnd und komplimentierte dann seinen Besucher zur Thür hinaus. Es gereicht Wellington zum höchsten Ruhm, daß er in Indien, wo er so große Erfolge errang und sehr wohl imstande gewesen wäre, sich auf die angedeutete Weise ungeheuere Reichtümer zu erwerben, dennoch sein Vermögen nicht um eines Hellers Wert vermehrte, sondern als ein verhältnismäßig armer Mann nach England zurückkam.

Ebenso feinfühlig und hochherzig war sein edler Verwandter, der Marquis von Wellesley, der energisch ein Geschenk von 100,000 Pfund ausschlug, welches ihm gelegentlich der Eroberung von Mysore von den Direktoren der ostindischen Handelscompagnie angeboten wurde. »Ich halte es für überflüssig,« sagte er, »mich auf die Unabhängigkeit meines Charakters und auf die Würde meines Amtes zu berufen: noch andere Erwägungen und Gründe als die genannten bestimmen mich, eine derartige Anerkennung – als mir nicht geziemend – abzulehnen. Ich denke einzig an unsere Armee: es würde mir sehr leid thun, wenn der Anteil unserer wackeren Soldaten um meinetwillen verkürzt würde.« Und der Marquis war durch nichts zur Annahme des Geschenks zu bewegen.

Die gleiche edle Selbstlosigkeit zeichnete Sir Charles Napier während seiner indischen Laufbahn aus. Er wies alle die kostbaren Geschenke zurück, welche die Barbarenfürsten ihm zu Füßen legen wollten, und bemerkte ganz richtig: »Sicherlich hätte ich seit meiner Ankunft in Scinde (Sindiah) schon 30,000 Pfund gewinnen können: aber ich brauche meine Hände noch nicht zu waschen. Das Schwert unseres teueren Vaters, welches ich in beiden Schlachten trug (bei Meane und Hyderabad) ist unbefleckt.«

Reichtum und Rang sind nicht notwendige Attribute des echten Adels. Auch ein armer Mann kann seinem Geist und Leben nach ein wahrer Edelmann sein. Er kann ehrlich, wahrheitsliebend, aufrichtig, höflich, mäßig und mutig sein – kann Selbstachtung und Selbsthilfe beweisen – kann, mit einem Wort, ein Mann von echtem Adel sein. Der arme Mann, welcher einen reichen Geist besitzt, ist dem reichen, aber geistlosen Manne in jeder Beziehung überlegen. Der erstere gehört – um mit Paulus zu reden – zu denen, »die nichts haben und doch alles haben;« während der andere, der alles besitzt, doch in Wahrheit nichts sein eigen nennt. Der erstere hofft alles und fürchtet nichts; der letztere hofft nichts und fürchtet alles. Nur der Geistesarme ist wirklich arm. Wer alles verloren, aber seinen Mut, seine Heiterkeit, seine Hoffnung, Tugend und Selbstachtung bewahrt hat, ist immer noch reich. Solch ein Mann hat gewissermaßen Kredit bei der Welt. Dasein Geist seine materiellen Sorgen beherrscht, darf er sein Haupt hoch tragen – als ein Mann von echtem Adel.

Ein tapferer und edler Charakter erscheint zuweilen im schlichtesten Gewände. Das nachstehende Beispiel ist alt, aber schön. Einst hatte die Etsch ihre Ufer überschwemmt und die Brücke von Verona mit Ausnahme des Mittelpfeilers zerstört. Auf dem letzteren stand ein Häuschen, dessen Bewohner aus den Fenstern um Hilfe riefen, wahrend die Zertrümmerung des Brückenpfeilers sichtbare Fortschritte machte. »Ich gebe jedem, der die Rettung dieser Unglücklichen versucht, hundert Louisdor,« rief der anwesende Graf Spolverini. Darauf trat ein junger Bauer aus der Menge, sprang in ein Boot und ruderte in den Strom hinein. Er erreichte den Brückenpfeiler, nahm die ganze Familie in seinen Kahn und brachte sie glücklich ans Land. »Hier ist Euer Geld, mein wackerer junger Freund!« rief der Graf. »Nein!« lautete die Antwort des Jünglings: »ich verkaufe mein Leben nicht! Gebt das Geld dieser armen Familie, die es nötiger braucht als ich!« – Aus diesen Worten sprach der Geist eines echten Edelmannes, wenn der Sprecher auch nur in die schlichte Tracht eines Bauern gekleidet war.

Nicht weniger rührend war das heldenhafte Benehmen einer Anzahl von Schiffern aus Deal, welche die Mannschaft einer bei den »Downs« (Dünen) gestrandeten Kohlenbrigg vor nicht allzulanger Zeit retteten (am 11. Januar 1866). Ein plötzlich eintretender Nordoststurm riß verschiedene Schiffe von ihren Ankern los und eins derselben geriet – da gerade Ebbe war – in beträchtlicher Entfernung vom Ufer auf den Grund, sodaß die Wellen über das Fahrzeug hinwegspülten. Es gab für das letztere allem Anschein nach nicht die geringste Hoffnung – so groß war die Wut des Sturmes und so heftig die Gewalt der Wogen. Es gab auch nichts, was die Schiffer am Ufer dazu verlocken konnte, ihr Leben für die Rettung des Schiffes oder der Mannschaft zu wagen; denn nicht ein Heller Bergungsgeld stand in Aussicht. Aber in diesem kritischen Augenblick blieb den Dealer Schiffern ihr kühner Wagemut treu. Die Brigg war kaum gestrandet, so warf Simon Pritchard, einer der vielen am Ufer versammelten Leute, seinen Rock ab und rief: »Wer kommt mit mir und versucht es, die Mannschaft zu retten?« Augenblicklich drängten sich zwanzig andere aus der Menge vor und riefen: »Ich, ich!« Aber nur sieben wurden gebraucht. Eine Schaute (flaches Boot) wurde in die schäumende Brandung geschoben; und dann sprangen die Leute in das Fahrzeug, welches wie ein Pfeil durch die sich überstürzenden Wellen schoß, begleitet von dem Beifallsgeschrei derer, die am Strande zurückgeblieben waren. Trotz der empörten See entging das Boot wie durch ein Wunder der Zertrümmerung. Von den kräftigen Ruderschlägen der wackeren Leute getrieben, erreichte es bald, »auf dem Kamm einer Woge schwebend,« das gestrandete Schiff; und noch war keine Viertelstunde seit dem Augenblick verflossen, da das Boot vom Ufer abstieß, als auch schon die sechs Leute, aus denen die Mannschaft der Kohlenbrigg bestand, sicher bei Walmer-Beach ans Land gesetzt waren. Ein schöneres Beispiel von dem unerschütterlichen Mut und der uneigennützigen Tapferkeit der Dealer Schiffer kann wohl kaum angeführt werden, obwohl diese immer als wackere Männer gegolten haben. Uns aber freut es, daß wir hier Gelegenheit fanden, diese That zu berichten.

Herr Turnbull erzählt in seinem Buche über »Österreich« eine Anekdote von dem verstorbenen Kaiser Franz, aus welcher hervorgeht, wie sehr die Regierung jenes Landes ihre Beliebtheit beim Volke den persönlichen Eigenschaften der habsburgischen Fürsten verdankt. Zu der Zeit, da die Cholera in Wien wütete, ging der Kaiser eines Tages mit einem Adjutanten durch die Straßen der Stadt und der Vorstädte. Dabei begegnete er einem Sarge, der auf einer Bahre getragen wurde, ohne daß dem darin liegenden Toten auch nur ein einziger Freund das Trauergeleit gab. Dieser ungewöhnliche Umstand erregte die Aufmerksamkeit des Monarchen, welcher auf seine Anfrage erfuhr, daß der Verstorbene ein armer Mensch gewesen, den die Cholera hinweggerafft, und dessen Verwandten es aus Furcht vor Ansteckung nicht wagten, ihn zur letzten Ruhe zu geleiten. »Dann,« erklärte Franz, »wollen wir ihre Stelle vertreten! denn keiner meiner Untertanen sollte zu Grabe getragen werden, ohne diese letzte Ehre zu empfangen.« Und so folgte er denn mit dem Adjutanten dem Sarge bis zu dem entlegenen Begräbnisplatze und stand barhäuptig neben dem Grabe, bis jeder Brauch und jede Sitte getreulich erfüllt war.

Wie schön dies Beispiel auch das Wesen des wirklich vornehmen Mannes kennzeichnet, so können wir ihm doch ein ebenso schönes zur Seite stellen, welches eine Morgenzeitung vor etlichen Jahren von zwei englischen Kanalarbeitern berichtete, die sich vorübergehend in Paris aufhielten. Eines Tages fuhr ein Leichenwagen mit einem Sarge aus Pappelholz, in welchem ein Toter lag, auf dem Wege nach dem Dorfe Montmartre die steile Rue de Clichy hinauf. Keine lebende Seele folgte dem Verstorbenen, nicht einmal sein Hund – wenn er überhaupt einen gehabt. Der Tag war regnerisch und unfreundlich; die Passanten lüfteten den Hut, wie man das zu thun Pflegt, wenn man einem Leichenzug begegnet: das war aber auch alles. Endlich gingen zwei englische Kanalarbeiter vorüber, die auf dem Wege von Spanien nach England in Paris Station gemacht hatten. Unter der Leinwandbluse dieser beiden Männer schlug ein edles Herz. »Der arme Bursche!« sagte der eine zum andern; »kein Mensch giebt ihm das Geleit. Komm, wir wollen ihm folgen!« Und die beiden nahmen ihre Hüte ab und folgten unbedeckten Hauptes dem Sarge eines unbekannten Toten zum Kirchhof von Montmartre. Ein Mann von vornehmer Gesinnung ist vor allen Dingen ein Feind der Lüge. Er betrachtet die Wahrheit als »die Krone des menschlichen Charakters,« als die Seele der Redlichkeit. Lord Chesterfield erklärte, daß erst die Wahrheitsliebe die Vornehmheit zur Vollendung bringe. Als der Herzog von Wellington mit dem General Kellermann, der ihm auf der Pyrenäenhalbinsel gegenüberstand, wegen der »Gefangenen auf Ehrenwort« verhandelte, schrieb er ihm, daß es für den englischen Offizier neben dem Mute noch etwas gebe, das ihm höher stehe als alles andere, – nämlich seine Wahrhaftigkeit. »Wenn englische Offiziere,« schrieb er, »ihr Ehrenwort gegeben haben, keinen Fluchtversuch zu machen, so können Sie sicher sein, daß sie dies Gelübde nicht brechen werden. Glauben Sie mir dies und vertrauen Sie jenen Braven! Das Wort eines englischen Offiziers ist eine bessere Bürgschaft als der Pflichteifer der Schildwachen.«

Wahrer Mut und wahre Güte gehen Hand in Hand. Der Tapfere ist großmütig und nachsichtig, nie hart und grausam. Parry fällte ein schönes Urteil über seinen Freund, den Sir John Franklin, als er ihn als einen Mann bezeichnete, »welcher nie der Gefahr den Rücken wandte und dabei doch so sanftmütig war, daß er keiner Fliege ein Leid zufügen mochte.« Einen edlen Charakterzug – in welchem sich eine wahrhafte Güte verriet, die des Geistes eines Bayard würdig gewesen wäre – zeigte ein französischer Offizier in dem Reiterkampfe bei El Bodon in Spanien. Er hatte bereits sein Schwert erhoben, um Sir Felton Harvey niederzuschlagen; da bemerkte er plötzlich, daß sein Gegner nur einen Arm hatte; und augenblicklich senkte er seine Waffe und salutierte damit vor Sir Felton in der üblichen Weise, worauf er von dannen ritt. Hierbei wollen wir auch eine That des Edelmutes und der Güte berichten, welche der Marschall Ney in demselben spanisch-portugiesischen Befreiungskriege vollbrachte. Charles Rapier wurde bei Corunna schwer verwundet und gefangen genommen; seine Freunde in der Heimat aber wußten nicht, ob er tot war oder noch lebte. Ein besonderer Bote wurde mit einer Fregatte von England abgesandt, um sein Schicksal festzustellen. Der Baron Clouet empfing den englischen Parlamentär und benachrichtigte Ney von dessen Ankunft. »Der Gefangene darf sich von seinen Freunden besuchen lassen, um ihnen sagen zu können, daß er sich wohl befindet und von uns gut behandelt wird,« sagte Ney. Als Clouet zögerte, fragte der Marschall lächelnd, »was denn sonst noch gewünscht würde.« – »Er hat eine alte, blinde Mutter, die Witwe ist.« – »So? dann soll er sie selbst besuchen und ihr sagen, daß er noch lebt!« – Da die Auswechslung der Gefangenen zwischen den feindlichen Parteien damals nicht gestattet war, so hatte sich Ney – wie er selbst recht wohl wußte – durch die Freilassung des jungen Offiziers leicht den Zorn des Kaisers zuziehen können; doch glücklicherweise billigte Napoleon die edle That.

Trotz der gelegentlich laut werdenden Klagen über die entschwundene Ritterlichkeit hat doch auch unsere Zeit Thaten der Tapferkeit und Güte – der heroischen Selbstverleugnung und männlichen Großmut – aufzuweisen, die hinter keiner historischen Heldenthat zurückstehen. Die Ereignisse der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, daß unsere Landsleute noch nicht entartet sind. Auf dem öden Plateau von Sebastopol – wie in den nassen, gefahrvollen Laufgräben bei jener zwölfmonatlichen Belagerung – haben sich Männer aus allen Volksklassen als würdige Erben des Ruhmes ihrer Ahnen erwiesen. Aber am hellsten erstrahlten die Tugenden unserer britischen Landsleute in jener schweren Prüfungszeit in Indien. Der Marsch Neills nach Cawnpore und der Marsch Havelocks nach Lucknow – wobei Offiziere und Mannschaften in gleicher Weise durch den Wunsch, die Frauen und Kinder zu retten, angetrieben wurden – sind Ereignisse, die in der ganzen Geschichte des Rittertums nicht ihresgleichen haben. Outrams Benehmen gegen seinen Unterfeldherrn Havelock, dem er die Ehre der Führerschaft bei dem Angriff auf Lucknow überließ, ist ein Charakterzug, der Sidneys würdig gewesen wäre, und der allein schon den Namen des »indischen Bayard« rechtfertigt, welchen man Outram gegeben hat. Der Tod des Henry Lawrence – jenes tapferen und milden Mannes, dessen letzte Worte lauteten: »Macht nicht so viel Aufhebens mit mir! begrabt mich mit den Leuten zusammen!« – Der treue Eifer, mit welchem sich Sir Colin Campbell bemühte, die bedrängte Besatzung von Lucknow zu retten und den langen Zug der Weiber und Kinder bei Nacht von dort nach Cawnpore zu führen, was ihm trotz aller Angriffe des übermächtigen Feindes gelang – die Sorgfalt, mit welcher er seine Schutzbefohlenen dann über die gefährliche Brücke geleitete und sein Hüteramt nicht eher aufgab, als bis er sie sicher auf die nach Allahabad führende Straße gebracht – das Ungestüm, mit dem er sich danach auf die Armee von Gwalior stürzte: das alles sind Charakterzüge, die uns auf unsere Landsleute stolz machen und uns die Überzeugung einflößen, daß der beste und reinste Glanz der Ritterschaft noch nicht erloschen ist, sondern noch hell in unserem Lande erstrahlt.

Selbst die gemeinen Soldaten haben sich in der Stunde der Prüfung als Männer von edler Gesinnung bewährt. Bei Agra wurden viele der armen Burschen bei dem Zusammenstoß mit dem Feinde verwundet und verstümmelt und in diesem Zustande ins Fort gebracht. Hier wurden die rauhen, wackeren Leute von den zarten Händen der Damen gepflegt und benahmen sich dabei so sanft wie Kinder. Während der vielen Wochen, die ihre Pflege dauerte, enthielten sich die verwundeten Soldaten jedes Wortes, das ein zartfühlendes, weibliches Ohr hätte verletzen können. Und als alles vorüber war – als die tödlich Verwundeten gestorben, die Überlebenden aber von ihren Wunden geheilt und imstande waren, ihren Dank abzustatten, da veranstalteten die rauhen Veteranen, die durch Narben und Verstümmelungen entstellt waren, für ihre Pflegerinnen und die hervorragendsten Persönlichkeiten aus Agra ein Fest in den schönen Gärten des Taj, wo sie unter Blumen und Musik ihren freundlichen Landsmänninnen dafür dankten, daß sie ihnen in der Zeit der Not beigestanden – sie gekleidet, gespeist und gepflegt hatten. Auch in den Spitälern von Skutari priesen viele verwundete und kranke Soldaten die Güte der englischen Damen, die sich ihrer Pflege widmeten; und nichts kann an Zartheit die dankbare Gesinnung jener armen Dulder übertreffen, die in ihren schlaflosen Schmerzensnächten den Schatten der Miß Florence Nightingale segneten, wenn derselbe über ihr Kopfkissen glitt.

Der Schiffbruch der »Birkenhead,« welcher sich am 27. Februar 1852 in der Nähe der afrikanischen Küste ereignete, liefert einen anderen denkwürdigen Beweis dafür, daß sich auch in unserem neunzehnten Jahrhundert in einfachen Leuten ein ritterlicher Geist offenbaren kann, auf den jedes Zeitalter stolz sein könnte. Der Dampfer fuhr mit 472 Männern und 166 Frauen und Kindern an Bord an der afrikanischen Küste entlang. Die Leute gehörten verschiedenen am Kap stationierten Regimentern an und bestanden hauptsächlich aus Rekruten, die erst kurze Zeit im Dienst waren. Gegen zwei Uhr morgens, als alle unten schliefen, stieß das Schiff mit großer Gewalt auf eine verborgene Klippe, die seinen Boden so arg beschädigte, daß über seinen bevorstehenden Untergang kein Zweifel obwalten konnte. Das Wirbeln der Trommeln rief die Soldaten auf das Oberdeck, wo sich die Leute wie zur Parade aufstellten. Die Parole lautete: »Rettet die Frauen und Kinder!« Und die hilflosen Geschöpfe wurden, kaum notdürftig bekleidet, aus den unteren Räumen heraufgeholt und stillschweigend in die Boote geschafft. Als alle Frauen und Kinder das Schiff verlassen hatten, gab der Kapitän des Dampfers den unbesonnenen Befehl: »Wer schwimmen kann, springe über Bord und suche die Boote zu erreichen!« Aber der Hauptmann Wright von den Bergschotten des 91. Infanterieregiments rief dagegen: »Nein! wenn ihr das thut, müssen die Boote mit den Frauen sinken!« und die wackeren Leute standen regungslos. Es waren keine Boote mehr vorhanden! es gab keine Hoffnung auf Rettung: aber trotzdem erbebten die tapferen Herzen nicht, und keiner schrak in diesem fürchterlichen Augenblick vor seiner Pflicht zurück. Der Hauptmann Wright – einer der Überlebenden – berichtet: »Es wurde kein Murren, kein Schrei unter ihnen laut, bis das Fahrzeug von den Wellen verschlungen wurde.« Zu Grunde ging das Schiff, und zu Grunde ging die Mannschaft, welche ein feu de joie abfeuerte, während sie in den Fluten versank. Ruhm und Ehre den Edeln und Tapferen! Die Thaten solcher Männer werden nie vergessen werden – sie sind unsterblich wie ihr Andenken.

Es giebt viele Merkmale, an denen sich die vornehme Gesinnung eines Mannes erkennen läßt; aber eins ist das sicherste: die Art, in der er sich gegen seine Untergebenen oder gegen schwache Frauen und Kinder benimmt. Wir müssen darauf achten, wie der Offizier seine Leute, der Herr seine Diener, der Lehrer seine Schüler – kurz, wie der Mensch in jeder Stellung diejenigen behandelt, welche ihm untergeordnet sind. Die Rücksicht. Geduld und Güte, mit welcher die Macht in solchen Fällen gebraucht wird, ist die Feuerprobe des vornehmen Charakters. Als La Motte eines Tages durch eine dichtgedrängte Menge ging, trat er zufällig einem jungen Burschen auf den Fuß, worauf dieser ihm sogleich einen Schlag, ins Gesicht versetzte. »Ach, mein Herr!« rief La Motte; »ich bin gewiß, Ihre Thai würde Ihnen leid sein, wenn sie wüßten, daß ich blind bin.« Wer diejenigen mißhandelt, die nicht fähig sind, ihm Widerstand zu leisten, ist ein Flegel, aber nicht ein vornehmer Mann. Wer die Schwachen und Hilflosen unterdrückt, ist überhaupt kein echter Mann, sondern eine Memme. Wie jemand sehr richtig bemerkt hat, ist der Tyrann nur ein mit äußerlicher Macht bekleideter Sklave, während der echte Mann durch das Bewußtsein seiner Kraft innerlich veredelt wird und im Gebrauch derselben sehr vorsichtig ist: denn

»Ein Vorzug stolzer Art
Ist eines Riesen Kraft; doch der ist ein Tyrann,
Der sich der Kraft bedient.«

Die Sanftmut ist eins der sichersten Kennzeichen des vornehmen Mannes. Ein solcher nimmt unter allen Umständen Rücksicht auf die Gefühle seiner Mitmenschen – seiner Untergebenen wie auch derer, die ihm gleichgestellt sind – und er hütet sich, ihr Selbstgefühl zu verwunden. Er erträgt lieber selbst eine kleine Kränkung, als daß er der Handlungsweise eines anderen eine übelwollende Deutung giebt und so in Gefahr kommt, eine große Ungerechtigkeit zu begehen. Er ist nachsichtig gegen die Schwächen, Fehler und Irrtümer derer, denen das Leben nicht so leicht gemacht wurde wie ihm. Er ist selbst gegen seine Haustiere barmherzig. Er rühmt sich weder seines Reichtums, noch seiner Macht oder seiner Talente. Er wird durch den Erfolg nicht aufgeblasen, durch das Mißgeschick nicht entmutigt. Er drängt seine Ansichten niemand auf, sagt aber seine Meinung bei passender Gelegenheit gerade heraus. Er erteilt seine Gunstbezeugungen nicht mit gönnerhafter Miene. Sir Walter Scott sagte einmal von Lord Lothian: »Er ist ein Mann, von dem man eine Gunst annehmen kann; und das will heutzutage viel sagen.«

Lord Chatham hat einmal geäußert, was den vornehmen Mann kennzeichne, sei seine Selbstverleugnung und Opferwilligkeit im Verkehr des täglichen Lebens. Als ein Beispiel solcher rücksichtsvollen Gesinnung eines edlen Mannes wollen wir eine Anekdote aus dem Leben des tapferen Sir Ralph Abercromby berichten. Derselbe wurde in der Schlacht bei Abukir tödlich verwundet und in einer Tragbahre an Bord des »Foudroyant« gebracht, wo man ihm zur Linderung seiner Schmerzen das Bettlaken eines Soldaten unter den Kopf schob, was ihm in der That eine große Erleichterung verschaffte. Auf seine Frage, was es wäre, antwortete man ihm: »Das Bettlaken eines Soldaten.« – »Wem gehört es?« fragte er, sich halb aufrichtend. – »Einem der Leute!« – »Ich will den Namen des Mannes wissen, dem dieses Laken gehört.« – »Dem Duncan Roy von den Zweiundvierzigern, Sir Ralph!« – »Dann achtet darauf, daß Duncan Roy noch diese Nacht sein Bettlaken zurückerhält!« (Browns »Horae Subsecivae«). Selbst mit dem Tode ringend, wollte der General den gemeinen Soldaten auch nicht für eine einzige Nacht seines Bettlakens berauben. Diese Erzählung ist in ihrer Art ebenso schön als jene von dem sterbenden Sydney, der seinen Trunk Wasser dem gemeinen Soldaten auf dem Schlachtfelde von Zütphen überließ.

Der biedere alte Fuller faßt die Kennzeichen des wahrhaft vornehmen Mannes kurz in der Beschreibung zusammen, die er uns von dem großen Admiral Sir Francis Drake giebt: »Er war rein in seiner Lebensführung, gerecht in seinem Handeln, wahrhaftig in seinen Worten, milde gegen seine Untergebenen und nichts war ihm so verhaßt wie die Trägheit. In wichtigen Angelegenheiten verließ er sich nie auf einen anderen – wie vertrauenswürdig und geschickt derselbe auch sein mochte – sondern war mit Nichtachtung aller Gefahr und Mühe immer der erste auf dem Platze (ohne nach einem zweiten zu fragen), wenn es sich darum handelte, Mut, Geschicklichkeit oder Fleiß zu beweisen.«


 << zurück