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11

Aus den Grenzdörfern kamen die ersten Flüchtlinge, Kossäten und bewegliches Tagelöhnervolk, das mit dem Heimatboden nicht so verankert war wie die eingesessenen Bauern. Zu Fuß kamen sie angepilgert, den kleinen Leiterwagen, mit dem sie abends das frischgeschnittene Gras einzuholen pflegten, hochbepackt mit Betten und allerhand Hausrat. Die Kuh und das Schwein am Strick und in den Augen sinnloses Entsetzen. Hunde rannten kläffend nebenher, Kinder, die vor Erschöpfung nicht weiter konnten, hingen an den Händen der Eltern, schrien und weinten. In der zum Bahnhof führenden Straße staute sich die Flut, die Männer umlagerten drohend das rote Stationsgebäude, verlangten von dem ratlosen Vorsteher die Bereitstellung eines Zuges, der sie und ihre Habe in Sicherheit zu bringen hätte. Umsonst bemühten sich Bürgermeister und Landrat, die Aufgeregten zu beruhigen. Der Krieg sei noch lange nicht erklärt, noch dürfe man die Hoffnung auf Erhaltung des Friedens nicht aufgeben. Die Männer hörten stiernackig zu. Wenn die abwiegelnden Herren glaubten, sie hätten die Menge wieder zur Besinnung gebracht, flogen ihnen gellende Zurufe wie Steine ins Gesicht:

»Johann'sburg brennt … In Grodzisko haben die Kosaken die Männer an die Wand geställt und dotgeschossen, die Weiber zu sich ins Lager geschläppt … In Sawadden haben se den Inspäkter an der Scheunentür gekreuzigt, weil se's ihm versprochen hatten …«

Der Landrat von Döhlau sprang auf die Bahnhofstreppe, aber seine machtvolle Stimme vermochte nicht, den Lärm zu übertönen. Losgerissene Kühe rasten mit standartenähnlich hochgerichtetem Schwanz durch die Menge, kreischende Weiber wälzten sich im Knäuel. Der alte Stadtwachtmeister Pigulla fuchtelte mit dem Säbel und schrie mit heiserer Stimme:

»Kärls, wänn'r jetz nich ändlich Vernunft annehmt, spärr' ich eich alle ein wegen Landfriedensbruch und unerlaubter Zusammenrottung.«

Plötzlich stand ein schmächtiger junger Mann neben dem Landrat. In abgeschabtem schwarzem Röcklein, um Mund und Kinn einen rötlichen, schütternen Bart. Er griff an den Hut.

»Herr von Döhlau, entschuldigen Sie, die Angst dieser Leute ist nicht so ganz unberechtigt. Ich war heute mittag zu Rad in Wahlangelegenheiten in einem kleinen Dorfe unmittelbar an der russischen Grenze. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, wer ich bin.«

»O doch, Herr Kochanski. Und es ist eigentlich eine Zumutung. Ich sollte meinen unbequemsten Gegner im Wahlkampfe nicht kennen, den Kandidaten der Sozialdemokratischen Partei?«

Der Kleine zuckte mit den Achseln.

»Von Ihren Vorgängern bin ich in dieser Hinsicht nicht verwöhnt, oder sie taten aus törichter Vornehmheit vielleicht nur so … Also in dem Dörfchen habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie sechs Kosaken die Tochter des Schullehrers vor den Augen des Vaters in den Obstgarten schleppten. Er warf sich mit auf dem Rücken gefesselten Händen dazwischen, ein Kolbenhieb über den Kopf schmiß ihn um. Das letzte der sechs Tiere in Menschengestalt trat zum Dank dem armen kleinen Mädchen ins Gesicht. Das liebe Gesichtchen war nur ein Blutflecken danach, ich aber sprang mit zitternden Knien auf mein Rad und fuhr fort …«

Das schmächtige Männchen hob den rechten Arm und rief in masurischer Sprache:

»Ihr Leute von der Grenze, hört auf mich! Schon bei manchem von euch hab' ich abends am Herdfeuer gesessen, zum Guten geraten. So hört auch heute auf mich, wenn ich euch sage, ihr werdet alle ohne Gefahr weiterkommen. Der Herr Landrat hat mir versprochen, er wird dafür sorgen, daß ihr für die Nacht in den Güterschuppen, Schulen und Nachbarhäusern unterkommt, auch Essen wird beschafft werden. Aber alles in Ruhe und Ordnung, die Frauen und Kinder voran! Morgen früh werden wir euch weiterbringen, zu Fuß oder mit der Eisenbahn. Die Nacht aber könnt ihr ruhig schlafen. Von Insterburg, Gumbinnen und Königsberg schieben sich zehn Armeekorps an die Grenze, kein einziger Russ' kommt mehr durch.«

In der Menge trat Ruhe ein, nur die Kinder schrien weiter. Der Landrat, der sich von dem Bürgermeister den Inhalt der Rede hatte übersetzen lassen, schüttelte seinem politischen Widersacher die Hand:

»Bravo, Herr Kochanski! Und mein Kompliment für Ihre blühende Phantasie …«

Der Kleine wehrte ab.

»Herr von Döhlau, ich habe keine Ahnung von den Absichten der preußischen Armeeleitung, aber sehen Sie dorthin … stehen da jetzt nicht wirklich zehn Armeekorps hinter diesen erschreckten Leuten? Und wenn nun Ihr tapriger alter Wachtmeister noch den Säbel einsteckt, werden die Leute folgsam werden wie Lämmer.«

Da regte sich in dem Landrat der alte, ulkfrohe Korpsstudent mitten in Not und Bedrängnis. Er rief mit hallender Stimme: »Pigulla, wenn Sie jetzt nicht Ihren Bratspieß wieder zu Muttern nach Haus tragen, werden Sie noch das Schwein totstechen, das vor Ihnen steht!« Und zu der Menge gewandt fuhr er fort: »Entschuldigen Sie den Braven, meine Herrschaften, er hat heute Geburtstag gefeiert, da sieht er in jedem Borstenvieh einen Russen.«

Über den weiten Platz flog ein brausendes Gelächter. Dem Redakteur Kochanski war es ein kleines danach, durch Namensaufruf ein Dutzend Ordner zu bestellen, die bei dem schwierigen Werk der Unterbringung tatkräftige Hilfe leisteten. Und als alles glücklich geschafft war, standen die beiden Arbeitsgenossen auf der Rampe des riesigen Güterschuppens, in dem die Mehrzahl der Flüchtlinge untergebracht war, und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Fern im Osten hob sich rötlicher Schein hinter dem dunklen Saum des Waldes, der ringsum den Blick verschloß.

Herr von Döhlau steckte sich eine Zigarette an.

»Herr Kochanski, wenn nicht alles trügt, fängt die Welt zu brennen an. Es wird viel darauf ankommen, ob Ihre Partei mit kümmerlichen Resolutionen Löscheimerchen schwingt oder nach dem Rüstzeug langt, die Mordbrenner mit zu verjagen …«

Der Kleine sah in den roten Glast, der sich am Himmel wie ein Nordlicht breitete.

»Herr Landrat, Sie wissen zu wenig von uns, sonst würden Sie nicht so fragen. Wir beide haben uns in dieser Stunde ein bißchen näher kennengelernt, und schon ist einiges zwischen uns gefallen … Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Da hab' ich mir unser Volk immer so vorgestellt wie zwei Erdschichten, auf die man manchmal beim Graben stößt: unten roter Lehm und oben blauer Ton. Der Ton dünkt sich vornehmer, weil er blau ist und oben liegt … Da denke ich mir, laß nur jetzt das große Feuer kommen, vielleicht brennen die beiden Schichten dann zusammen, und es gibt eine einhellige harte Masse … schlackenfrei und hell klingend wie Stahl … der herrlichste Guß, der je aus dem Ofen eines Schöpfers gelaufen ist.«

Der Landrat von Döhlau warf seine Zigarette fort. Ihm war zumut, als erlebte er einen Augenblick, der in gleicher Schönheit nie mehr wiederkehrte im Leben … Er schüttelte dem kleinen Sozialdemokraten die Hand und ging vom Bahnhofe langsam nach Hause. Das Haus war dunkel und einsam, aber ihm graute nicht mehr so davor wie zu der Zeit, da er es verlassen hatte … Ein Spielzeug war daraus fort, gut zum Tändeln in müßiger Stunde. Und recht so … Wenn man steigen wollte im Dienst des Vaterlandes, mußte man frei sein. Oder einen Kameraden zur Seite haben, der in schwerer Zeit nicht davonlief, sondern sich die Dreckstiebel anzog, durch dick und dünn mitging …

*

Das Korn war in dem heißen Sommer rascher gereift als sonst, auf den meisten Gütern hatte schon die Roggenmahd begonnen. Und es war ein Jahr schweren Segens gewesen, die Ernte versprach einen weit über Mittelmaß reichenden Ertrag. Aber es war mehr Sorge dabei als Freude.

Im Osten die Wolke ballte sich immer schwärzer zusammen, und hinter ihr kam das lohende Feuer, leckte schon mit gierig vorlaufenden Zungen hie und da über friedliches Land. Schier undenkbar war es, daß das Wetter sich noch einmal verteilen könnte, aber nicht wenige von denen, die in all diesen Wochen mit der Unabwendbarkeit des Krieges gerechnet hatten, hofften plötzlich auf ein allerletztes Wunder. Die Antwort des einen Mannes in Petersburg, in dessen Hand die Entscheidung lag, stand ja noch aus, und man vermochte sich nicht vorzustellen, daß er die Schuld an so ungeheuerlichem Frevel auf sich laden könnte. Auch er aß ja von der Erde gezeugtes Brot, war von einer Mutter unter dem Herzen getragen worden. Wie sollte es ihn da nicht vor dem Worte grausen, das die Erde mit Feuer schlug und Hunderttausende von Müttern weinen machte? …

Aber der Zeiger an der Uhr rückte weiter, die erlösende Nachricht kam nicht und kam nicht. Und auf den Gutshöfen und in den Dörfern begann ein stilles Rüsten für die Stunde, in der es galt, die liebe Heimat zu verlassen, irgendwo im Reich das bittere Brot der Fremde zu essen.

Um Mitternacht ging von Ordensburg ein Zug nach Königsberg, da galt es, sich eilen. Und in den Häusern begann ein emsiges Packen, sorgenvolle Hausfrauen saßen ratlos zwischen der zusammengeschleppten Habe. An jedem einzelnen Stück hing ihr Herz. Die Männer aber rührten keine Hand, schimpften nur und drängten. Dreißig Züge hätten bereitstehen müssen, statt des einen, um allen überflüssigen Kram mitzunehmen. Doch auch die Männer ermangelten zuweilen kaltblütiger Überlegung. Wenn die Gattin jammerte, daß für ein gesticktes Sofakissen in den vollgepackten Koffern kein Platz mehr sei, erschienen sie mit noch unnützlicheren Gegenständen: Stiefelknechten, Jagdgewehren und Zigarrenkisten, und waren nur schwer zu überzeugen, daß diese Dinge nicht zu den unentbehrlichen Notwendigkeiten des Lebens gehörten …

Die einzigen, die in der allgemeinen Aufregung unbekümmert ihren Geschäften nachgingen, waren die drei von Berlin für den Wahlkampf verschriebenen rednerischen Klopffechter. Und auch darin war ein Stückchen deutscher Gewissenhaftigkeit. Da die Reichstagswahl nicht abgesagt war, hatten sie ihre Pflicht bis zu Ende zu erfüllen, dem Kandidaten ihrer Partei zum Siege zu helfen.

Daheim in der Hauptstadt achteten sie sich gegenseitig als ehrbare Söldner der verschiedenen politischen Meinungen, in der Provinz befehdeten sie sich mit wissentlich falschen Anschuldigungen. Und wenn ein nachdenklicher Bürger ihre Flugblätter oder Maueranschläge nebeneinander las, mußte er sich verwundern, daß die darin geschilderten Verbrecher die Stirn haben durften, sich um das höchste vom Volke zu vergebende Amt zu bewerben … Kornwucherer, Ausbeuter, Verräter am Volkswohl, Vaterlandsfeinde, vom Arbeiterschweiß genährte Drohnen, schachernde Profitjuden und internationales Demagogengesindel waren sie, wenn man ihren Gegnern trauen durfte. In den abendlichen Versammlungen aber schien es, als hätte jeder dieser Landsknechte einen riesigen Kübel neben sich, aus dem er knallende Schlagworte, hanebüchene Grobheiten und ehrabschneiderische Verleumdungen wie mit einer Maurerkelle zwischen seine Zuhörer schmiß. Was ihn natürlich nicht hinderte, nach getaner Arbeit mit dem rednerischen Vertreter des Gegenkandidaten einen streng sachlichen Bericht zu tauschen zur Bedienung der großen Parteiblätter …

So hatten sie sich an dem Abend, an dem das letzte Wort gesprochen werden sollte über Krieg oder Frieden, ausgemacht, um in dem großen Kirchdorfe Borzymmen eine von der Sozialdemokratischen Partei einberufene Wahlversammlung zu sprengen. Und da im Städtchen nur ein einziger Wagen aufzutreiben gewesen, fuhren sie einträchtlich zusammen. Hielten Burgfrieden unterwegs, teils aus Heiserkeit, teils wegen gänzlicher Aussichtslosigkeit, berufsmäßige Gegner zu besseren Ansichten zu bekehren. Nur von Zeit zu Zeit renommierten sie sich gegenseitig mit besonderen Informationen an, die jeder von ihnen von seiner Berliner Parteileitung über die auswärtige Lage erhalten haben wollte …

Als aber die drei vor dem Borzymmer Dorfkruge aus dem Wagen stiegen, wartete ihrer eine große Enttäuschung. Die Fenster des großen Saales waren dunkel, und der im Haustor stehende Wirt begrüßte sie mit der Eröffnung, der Sozialistenhäuptling Kochanski habe die Versammlung in letzter Stunde abgesagt, weil er in dieser sorgenvollen Zeit Wichtigeres zu tun habe, als sich mit Berliner Strohdreschern herumzuärgern. Im Herrenstübchen aber sitze der Baron von Lindemann, unweit eines frisch angesteckten Fäßchens Königsberger Bieres, und werde sich freuen, die Herren zu einem parteilosen Umtrunke zu begrüßen …

Danach gab es einen recht gemütlichen Abend. Der joviale kleine Baron merkte sehr verständig, daß mit mangelnden Truppen keine Schlachten zu liefern seien. Man setzte sich zusammen und erzählte alte und noch ältere Witze. Plötzlich aber, als die Stimmung schon jene Feuchtfröhlichkeit annahm, die in der gemeinschaftlichen Absingung eines Liedes zu gipfeln pflegt, breitete sich hinter den Fenstern der Krugstube roter Schein. Ein kleines Tagelöhnermädchen kam atemlos hereineingestürzt: »Herr Baron … Herr Baron …«

»Was 's denn los?«

»Die Russen! An hundert Mann sind im Hof eingerückt, der Kuhstall brännt schon, und wänn der Härr Baron nich gleich kömmt, hat der Unteroffizier geschrien, wollen se auch das Schloß anstäcken.«

Der dicke Freiherr von Lindemann langte gleichmütig nach seinem an der Wand hängenden Krückstocke.

»Es scheint, unser Ultimatum hat in Petersburg keine rechte Gegenliebe gefunden! Unter diesen Umständen werden wir die gemütliche Sitzung wohl aufheben müssen, meine Herren! Aber wenn Sie die Liebenswürdigkeit haben wollen, mich zu begleiten, können Sie sich vielleicht gleich als Kriegsberichterstatter frisieren …«

»Um Gottes willen!« schrien die drei aus einer Kehle. »Sie werden sich doch nicht freiwillig dieser Bande ausliefern? Draußen steht unser Wagen, und es ist noch reichlich Platz …«

Da maß der dicke Baron sie mit einem zornigen Blick von oben bis unten:

»Was wissen Sie, meine Herren, wo in so einer Stunde der Platz eines preußischen Edelmannes ist? Auf seinem Eigentum und neben seinen Leuten! Glückliche Reise, meine Herren!« Und er stapfte eilig die Dorfstraße entlang, die ihrer vielen Untiefen wegen sonst nur mit Vorsicht zu begehen war, heute aber, vom Glast des Feuers übergossen, hell wie bei Tage dalag.

Auf dem Hofe hielt ein Pulk Kosaken von zehn Mann unter Führung eines Unteroffiziers, Karabiner auf die Schenkel gestemmt. Die auf dem Rücken hängenden Lanzen hoben sich wie schwarze Striche gegen das Licht des brennenden Stalles. Daß aber noch mehr von dem Gesindel unterwegs war, kündeten die gellenden Frauenschreie aus Hof und Garten.

Der bärtige Unteroffizier reckte sich im Bügel und schrie auf russisch:

»Sohn einer Hündin, weshalb kommst du nicht rascher, wenn ich dich rufen lasse?«

Da übermannte den kleinen Baron der Zorn, er schrie, ebenfalls auf russisch, zurück:

»Du verlauster Sprößling einer dreckigen alten Sau, hab' ich dich vielleicht eingeladen? Und wenn du dich auf meinem Hof nicht anständig benimmst, wird dir ein millionenfaches Ungewitter in deine vermaledeiten Gedärme schlagen!«

Keine Sprache der Welt eignet sich so zum Fluchen, wie aus vielhundertjähriger Übung das Russische …

Der Unteroffizier stutzte unwillkürlich, nur ein Herr durfte sich herausnehmen, so grob zu sein. Und ein wenig höflicher fragte er: »Batuschka, wo sind die deutschen Soldaten, die du versteckt hast?«

»Such' sie doch! Aber nimm dich in acht, hinter jedem Busch steckt einer und schießt dir eine Kugel in den Bauch!«

Er sagte es höhnisch, aber der Russe nahm es ernst.

»Dann vorwärts, dort an die Wand! Drei Mann absitzen, Feuer!«

Da wußte der Freiherr von Lindemann, daß sein Leben verwirkt war; aber er verschmähte es, sich aufs Verhandeln zu verlegen. Ob man nun ein paar Jahre später starb an Rotweinasthma im Bett oder ein weniges früher an einer Russenkugel in seinen Stiefeln, war schließlich für die Allgemeinheit belanglos. Jedenfalls konnte niemand gegen ihn den Vorwurf erheben, er habe um sein Leben gebettelt … Er spie verächtlich aus: »Laß mich nur totschießen, du aussätziges Schwein! Wenn du so die Befehle deiner Offiziere befolgst, wird es dir ja gut gehen …« und schritt langsam zur Mauer. Daß er sich mit diesen aufs Geratewohl gesprochenen Worten das Leben gerettet hatte, wurde ihm erst später klar.

Plötzlich kam durch das Hoftor eine unheimliche Gestalt gejagt, ein leeres Handpferd am Zügel. Oben sah sie aus wie ein Mann, unten aber flog ein Frauenrock um ihre langen Beine. In ihrer Linken hielt sie ein bedrucktes Papier mit dem russischen Adler, in der Rechten schwang sie einen derben Krückstock. Und wie ein Ungewitter fuhr sie auf den Führer der Patrouille los, hielt ihm das Papier dicht vors Gesicht.

»Da, du in einer schmutzigen Gosse aufgelesener Findling, kannst du lesen?«

»Heilige Mutter Gottes von Kiew, hilf, nein!«

»Und da willst du dich gegen die Unterschrift deines Kaisers versündigen? Sofort hilfst du dem Gospodin da aufs Pferd und führst uns zu deinem Hauptmann! Dort werd' ich dich zur Bestrafung melden, daß du nicht weißt, wer hier in Preußen Freund der guten Sache ist und wer nicht!«

Der dicke Herr von Lindemann hatte sich mit einer sonst ungewohnten Behendigkeit in den Sattel des Handpferdes geschwungen und schrie hoheitsvoll den Russen an: »Na, vorwärts, wird's jetzt bald?«

Da hob der Unteroffizier die Rechte an den Mützenschirm: »Väterchen, reit' lieber allein! Den Weg kennst du ja, und leg' bei meinem Hauptmann für mich ein gutes Wort ein …«

Sie ritten langsam vom Hofe herunter, erst hinter der ersten Wegbiegung ließen sie die Gäule laufen, was sie konnten. Der dicke Herr von Lindemann bog sich nach rechts im Sattel.

»Mein liebes Fräulein von Streit, wie soll ich Ihnen nur danken?«

»Ach, Unsinn … Nachbarschaft! Wie ich's bei Ihnen brennen sah, ritt ich los mit einem alten russischen Ausfuhrzertifikat. Und weil ich immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben habe, aus Ihnen einen anständigen Menschen zu machen.«

»Wohin reiten wir denn eigentlich?« fragte er nach einer Pause beklommen. »Bei Ihnen in Marczinowen dürfte es doch nicht viel sicherer sein als bei mir in Borzymmen?«

»Ganz recht, aber da ich weiter vorauszudenken pflege als andere Leute, habe ich in einer undurchdringlichen Kiefernschonung der Beldahner Forst ein sicheres Lager bauen lassen für mich und mein Hofgesinde. Den Borzymmer Pastor habe ich auch noch rechtzeitig gerettet, damit uns in den Tagen der Prüfung der geistliche Beistand nicht fehlt.«

»Lobenswert, sehr lobenswert«, sagte der dicke Herr von Lindemann; innerlich aber dachte er, zwei Kisten geretteten Rotweins wären ihm lieber gewesen. Und die Anwesenheit des verordneten Dieners Gottes weckte unbestimmte Befürchtungen in seinem Herzen. Diese Männer hatten die Befugnis, zu binden und zu lösen. Namentlich aber das erste … Und in vorausahnendem Geiste sah er sich vor einem improvisierten Altar neben seiner Lebensretterin stehen, der Priester sprach segnende Worte. Da verhielt er unwillkürlich sein Roß und hatte nicht übel Lust, zu den Russen zurückzukehren. Aber schließlich, Leben war Leben. Und ein schmunzelnder Gedanke trieb ihn wieder vorwärts. In den letzten Jahren hatte ihm das Bummeln schon gar keinen Spaß mehr gemacht. Er hatte es, zuweilen widerwillig, aus alteingewurzelter Gewohnheit betrieben. Aber welchen neuen Reiz gewann es, wenn man einen strengen Aufpasser hatte, den man jedesmal vorher mit neu ersonnenen Listen beschwindeln mußte, um zu verbotenem Genuß zu gelangen! Herrlich mußten dann die spärlichen Tage der Freiheit schmecken! Und schon jetzt, noch lange vor der Verlobung, wälzte er lügnerische Ausreden im Gehirn, die ihm im Ehestand ab und zu einen lustigen Ausflug nach Königsberg oder – Herz, schweig still – vielleicht gar nach Berlin verstatteten. Unter diesem Gesichtspunkte erschien ihm die Zukunft an der Seite des Fräuleins von Streit nicht mehr so unfreundlich wie noch kurz zuvor …


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