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Das Dragonerregiment Graf Schmettau, drittes ostpreußisches Nr. 17, feierte die hundertste Wiederkehr des Tages, an dem es in glorreicher Zeit gestiftet worden war. Aus den Überbleibseln einer berittenen Landwehrbrigade, die in der Schlacht von Laon beim Ansturm auf die eisernen Vierecke der Napoleonischen Garde mehr als drei Viertel ihres Bestandes verloren hatte. Kaum anderthalb Schwadronen sammelten sich am nächsten Morgen um die zerschlissene Fahne, die der Leutnant Hans von Uhlenburg aus einem Knäuel feindlicher Bajonette zurückgeholt hatte. Und in ihrem weißen Felde saß ein roter Fleck von dem Herzblute des Junkers Heinrich von Brinckenwurff, der im Stürzen das Fahnentuch gegen die zerschossene Brust gepreßt hatte … Auf der Walstatt aber lag die Blüte ostpreußischer Jugend und Manneskraft ohne Unterschied von Rang oder Herkunft, wie die mähende Sense des feindlichen Gewehrfeuers sie niedergeworfen hatte. Der Kommandeur Generalmajor Graf Schmettau neben seinem wackeren Stabstrompeter Schluppschnies, der Burggraf Richard zu Dohna neben dem masurischen Bauernsohn Jan Podleschny und der Oberlehrer Gusovius von der Ordensburger Lateinschule neben seinem unbegabtesten Primaner Hans von Gorski … und noch manch anderes Paar lag da mit dem Gesicht nach unten, das bei Lebzeiten in wenig erfreulichem Verhältnis stand. Der unverbesserliche Grenzgänger und Wilddieb Samiel Guzek mit »seinem« Richter Embacher, von dem er wegen schier unzähliger Verstöße gegen die verzwickten Paragraphen der Zoll- und Jagdgesetze gar oft freies Winterquartier bekommen hatte; in dem »roten Hause«, durch dessen vergitterte Fenster man weit über den Ordensburger See blickte bis zum dunkeln Saum des Beldahner Waldes … Als der brave Guzek, selbst schwer verwundet, den Versuch machte, das schmächtige Richterlein aus der Feuerlinie zu schleppen, traf ihn von rückwärts her die Franzosenkugel …

Nach dem Feldzuge erhielt das neugegründete Dragonerregiment den Mittelpunkt seines künftigen Rekrutierungsbezirkes als Standort angewiesen. Das im südöstlichen Winkel Ostpreußens gelegene Städtchen Ordensburg. Ein ehemals festes Haus der Kreuzritter, die in den heidnischen Osten das Evangelium mit dem Schwerte getragen hatten. Und um die auf einer Insel gelegene Burg des Ordens war das Städtchen erwachsen, mitten in einem wald- und seenreichen Landstriche, der von seinen Bewohnern harte Arbeit verlangte, wenn er das zum Leben Notwendige hergeben sollte.

Diesen Standort hatte das Regiment im Laufe des Jahrhunderts nur viermal auf kurze Zeit verlassen. Im Jahre Achtzehnhundertfünfzehn zum letzten Schlage gegen Napoleon, Vierundsechzig, als es gegen die Dänen ging, Sechsundsechzig gegen Österreich und Anno Siebzig gegen die Franzosen. Jedesmal war es mit ruhmbedeckter Fahne heimgekehrt, der Friedensdienst ging wieder seinen Gang, nur die schwarzen Tafeln zu beiden Seiten der Kasernentreppe, die da die Überschrift trugen: »Es starben den Tod fürs Vaterland«, hatten sich um einige vermehrt. Und auf den Tafeln fehlte kaum ein Name der im Ordensburger Kreise eingesessenen Familien, denn der siegreichen Gefechte und Schlachten waren gar viele gewesen, und der Tod, wenn er einmal im Schreiben war, hörte so bald nicht auf.

Aber auch das Städtchen war mit dem Ruhme seines Regiments gewachsen und hatte sich mächtig gereckt. Zunächst in die Länge zu beiden Seiten seiner »Hauptstraße«, die diese Bezeichnung mit Fug und Recht führte, weil sie geraume Zeit zugleich die einzige war. Dann aber auch in die Breite, als die ostpreußische Südbahn ihre eisernen Gleise von Königsberg zur russischen Grenze legte. Zum Sitze eines Landgerichtes wurde es erhoben, an der zum Bahnhofe führenden Straße entstand ein neues Viertel mit mehrstöckigen Gebäuden, und in der Stadtverordnetenversammlung erwog man ernstlich die Anlage eines der Neuzeit angemessenen Straßenpflasters. Das alte war nämlich für den im Wagen Reisenden wenig erfreulich und hatte im Laufe der Jahrzehnte die Formation eines gipfel- und tälerreichen Hochgebirges angenommen. Der Kreistag jedoch, als entscheidende Instanz, lieh dem Ansuchen der Stadtverordneten kein wohlwollendes Gehör. Es zeigte sich wieder einmal der alte Gegensatz zwischen Stadt und Land, und da die ländlichen Abgeordneten in diesem kleinen Parlament über die Mehrheit verfügten, benützten sie die Gelegenheit, der städtischen Seite des Hauses wegen mißliebiger Haltung bei sonstigen politischen Fragen gehörig eins auszuwischen. Die sich entspinnende Debatte nahm erregte Formen an, die Glocke des Vorsitzenden läutete heftig, und hanebüchene Zwischenrufe knallten in den Saal. Als aber gar nach erfolgter Ablehnung des Antrages der Kreistagsdeputierte Freiherr von Lindemann-Borzymmen dem Ordensburger Magistrate in einer persönlichen Bemerkung zum Ankäufe eines preußischen Lotterieloses riet, aus dem im Falle eines Hauptgewinnes die Kosten der Neupflasterung bequem gedeckt werden könnten, hätte es fast einen Tumult gegeben. »Frecher Agrarier« und »Kodderschnauze« war noch das Gelindeste, was man dem kleinen, dicken Herrn von der linken Seite des Hauses zuschrie.

Die wild flutenden Wogen der Zwietracht glätteten sich erst beim nächsten Punkt der Tagesordnung: »Teilnahme der Bevölkerung an dem hundertjährigen Jubiläum des Dragonerregiments Graf Schmettau.« Sämtliche Anträge des Ordensburger Magistrats wurden durch einfaches Hochheben der Hände bewilligt. Die würdige Ausschmückung der Straßen, die Stiftung eines silbernen Tafelaufsatzes für das Offizierkasino und festliche Speisung der Mannschaften in der großen Turnhalle des Gymnasiums. Nur der Antrag des Stadtverordneten und Manufakturwarenhändlers Bär junior, jedem Dragoner auf Kosten der Kreiskasse ein Paar wollene Unterhosen nebst Leibbinde zu stiften, wurde, als offensichtlich aus selbstsüchtigen Motiven entsprungen, von der Konkurrenz zu Fall gebracht.

Und als der große Festtag anhub, war das regnerische Wetter der letzten Wochen strahlendem Sonnenschein gewichen. Die dröhnenden Schläge der Glocken in den Türmen der evangelischen Kirche am Markt und der katholischen in der Vorstadt hoben sich gegen einen leuchtenden blauen Himmel, und die von jedem Dache wehenden Fahnen blähten sich langsam in weichem Sommerwinde. In der weiten Ausbuchtung der Hauptstraße aber, vor dem schlichten Ziegelbau der evangelischen Pfarrkirche, vollzog sich das militärische Schauspiel. Schier zahllos waren die Zuschauer. Auf der einen Seite der Straße standen die Väter in schwarzem Veteranenrock und Zylinder, auf der andern hielten in Paradeaufstellung die Söhne und Enkel hoch zu Roß. Hell schien die liebe Sonne auf blitzende Helme und blaue Waffenröcke, die Gäule hatten vom gezwungenen Stillstehen nasse Flanken, bissen ungeduldig auf die Eisen und schlackerten mit den Köpfen. Die Reiter aber saßen unbeweglich, Augen geradeaus, denn seit einer Viertelstunde schon sprach der Kommandierende General, der an der Spitze eines glänzenden Gefolges von Offizieren aller Waffengattungen vor der langgedehnten Front hielt.

Von seiner Rede war nicht viel zu verstehen, denn der Wind hatte sich stärker aufgemacht, und der hohe Herr verfügte wohl über eine große Zahl militärischer Tugenden, nur nicht über eine weithin schallende Stimme. Aber das tat der festlichen Andacht der Zuhörer keinen Abtrag. Die Rede las man ein paar Tage später im Kreisblatte, und über die Beweise kaiserlicher Huld für das jubilierende Regiment war man schon vorher unterrichtet: Verlegung des Stiftungstages auf das Datum der glorreichen Schlacht von Laon, ein neues Fahnenband an die ruhmbedeckte Standarte und zahlreiche Ordensauszeichnungen für die Spitzen des Kreises und der Bürgerschaft.

Als der Herr General den rechten Arm hob, wußte jedermann, daß er in diesem Augenblicke im Auftrage des obersten Kriegsherrn dem Regiment ein Hoch ausbrachte. Von allen Fenstern der Häuser, die den Marktplatz säumten, aus der in drangvoller Enge stehenden Zuschauermasse kam lauter Widerhall. Die am rechten Flügel haltende Musik spielte den ersten Vers des Preußenliedes.

Jetzt hob der Regimentskommandeur, Oberstleutnant Harbrecht, die sehnige Reiterfigur ein wenig im Sattel, auf dem weiten Platze wurde es still. Seine klare Kommandostimme trug so weit, daß jedes Wort der Erwiderung auch in den letzten Reihen der Zuschauer deutlich verstanden wurde.

»Exzellenz,« sagte er, »das Regiment dankt für die am heutigen Tage kundgegebenen Ehrungen; diese Ehrungen gelten denen, die vor uns unter dieser, heute neu geschmückten Fahne in Krieg und Frieden ihre Schuldigkeit taten. Wir müssen unseren Anteil daran erst verdienen! Dazu sind wir fest entschlossen, das kann ich für mich, mein Offizierkorps und meine Dragoner versprechen. Und wenn ich in die Runde blicke auf unsere forschen ostpreußischen Jungen, die zwischen den Festteilnehmern stehen, glaube ich's auch für die versprechen zu dürfen, die nach uns hinter dieser ehrwürdigen Fahne herreiten werden!«

In der kleinen Pause, die der Oberstleutnant nach diesen Worten machte, ereignete sich ein unerwarteter Zwischenfall. Einer der Gymnasiasten, die trotz dem Proteste des alten Stadtwachtmeisters Pigulla das Kriegerdenkmal erklettert hatten, ein ranker Bursch mit blauen Augen, riß in überströmender Begeisterung die Tertianermütze von dem blonden Haarschopf. Scharf schnitt die helle Knabenstimme über den Platz: »Na und ob, Papa!! Darauf kannst du dich felsenfest verlassen!«

Den Bruchteil einer Sekunde gab es in der Volksmenge ein Stutzen. Dann hob sich rings um den Markt ein brausendes Lachen, zu dem der Herr General selbst das Zeichen gegeben hatte. Erst hatte er, ärgerlich über die unangemessene Störung, den Kopf gehoben. Dann aber rief er: »Der Junge wird gut!« und lachte, daß er sich auf den Hals seines Schweißfuchses beugen mußte. Mitten aus der schwarzen Masse aber hob sich die gewaltige Stimme des Schmiedemeisters Sareyka: »Und gärn' werden's unsere Jungens tun, wenn se solche Vorgesätzte haben wie unsern Härrn Oberstleitnant Harbrächt, der liebe Freind der Stadt Ordensburg, er lebe hoch, hoch und nochmals hoch!«

Alles, was zum Zivil gehörte auf dem Festplatze, fiel jubelnd ein, aber das Hochrufen ebbte rasch wieder ab, weil es der Unterstützung durch die Militärmusik entbehrte. Über das sonnengebräunte Gesicht des Oberstleutnants flog ein nachsichtiges Lächeln, als er fortfuhr:

»Ich danke der verehrlichen Bürgerschaft für den Beweis ihrer Zuneigung, die ich aufs herzlichste erwidere. Nehmen wir den kleinen Zwischenfall als ein Zeichen, daß wir heute hier keine rein militärische Feier begehen, sondern ein Familienfest! Nicht nur in dem Sinne, daß unsere Volksgenossen im engeren Kreise ihre Söhne und Brüder unter der Fahne des heimatlichen Regiments sehen, sondern auch in dem Gedanken, daß uns alle in diesem Augenblicke ein Gefühl der Dankbarkeit vereint. Das aber ist die Hauptsache, daß jeder von uns in der Stunde der Entscheidung nicht nur seine Pflicht, sondern mehr als seine Pflicht tut! Mit einem begeisterten Aufschrei zuerst, dann aber mit der kalten Entschlossenheit, so lange dreinzuschlagen, bis unsere Feinde ringsum zerschmettert sind!«

Ein brausendes Rufen erhob sich, wie es der alte Marktplatz des Städtchens wohl noch nie gehört hatte. Das Hurra aus den rauhen Kehlen der Dragoner klang gleich krachenden Salven dazwischen. Die Kirchenglocken dröhnten mit mächtigen Schlägen, die Regimentsmusik blies Tusch, und unter ihrer Führung lösten sich aus der Menge die feierlichen Klänge der Volkshymne. Über der schwarzen Masse aber stand ein heller Schein von wehenden Tüchern und wie zum Schwur erhobenen Händen …

Der Oberstleutnant zog den Säbel. Hell klang das Kommando:

»Parademarsch! Die erste Eskadron geradeaus! Mit Zügen rechts schwenkt – Trab!«

Die Regimentsmusik spielte die Paradepost, um dann in den Pariser Einzugsmarsch überzugehen, der erste Zug trabte an, der Kommandeur lenkte seinen hochbeinigen Trakehner in die vorschriftsmäßige Stellung halbrechts hinter den die Parade abnehmenden General. Der hohe Herr wandte sich im Sattel, winkte den Untergebenen näher heran.

»Famos war das, lieber Harbrecht! Ich wünschte, wir hätten diese Schlagedreinstimmung, die Sie mit Ihrer Ansprache entzündet haben, wenn es wirklich Ernst werden sollte!«

»Glauben Exzellenz, daß es überhaupt jemals dazu kommen könnte?«

Der General hob die breiten Schultern und murmelte in den eisgrauen Schnurrbart:

»Erst zu Neujahr hat er uns Kommandierenden Generalen fast zornig erklärt, er führt keinen Vorbeugungskrieg! Da heißt es, Maul halten und sich bescheiden. Vielleicht hat er wieder einmal recht …«

»Vielleicht …«

Die beiden Herren schwiegen und blickten aufmerksam auf die vorbeireitenden Dragoner. Wie an einer gespannten Schnur ausgerichtet kamen die einzelnen Züge vorüber, man fühlte es ordentlich, wie in jedem der straff emporgereckten Reiter der Eifer glühte, unter den Augen der Vorgesetzten sein Bestes herzugeben. Der Kommandierende General hatte seine helle Freude daran, denn es war auch Geist von seinem Geist, der sich da in der prächtigen Truppe offenbarte. Aber Wehmut schlich sich ihm ins Herz, wenn er daran dachte, daß ein anderer vielleicht ernten würde, was er gesät hatte … Die Frage, wie lange er noch felddienstfähig bleiben würde, rückte immer näher. Fünfundsechzig Jahre war er jetzt alt, und die früher so elastischen Knochen fingen an steif zu werden. Wenn er erst im Sattel saß, ging es ja. Aber das Aufsteigen machte Beschwerden. Die verfluchte Franzosenkugel war schuld daran, die ihm vor Orleans den linken Oberschenkel zerschossen hatte. Seit ein paar Wochen biß und zwickte es gar schmerzhaft in der alten Narbe …

Auf der geräumigen Terrasse des Hotels zum Königlichen Hof, das auf der anderen Seite des Marktplatzes der Kirche gegenüberlag, saßen zwischen verstaubten Oleanderbäumen und frischem Tannengrün die Damen des Regiments mit denen der Spitzen der bürgerlichen Behörden. Die Gattin des Oberstleutnants Harbrecht, eine stattliche Dame mit noch immer jugendlichem Gesicht, forschen der Frau Landrat von Döhlau und der dicken Frau Bürgermeister Wessollek, die in ihrem krachenden Schwarzseidenen dasaß.

Frau von Döhlau, eine mit pariserischer Eleganz gekleidete, pikante Brünette von einigen zwanzig Jahren, gewann dem soldatischen Schauspiele offenbar nicht allzuviel Interesse ab. Sie hörte zwar in verbindlicher Haltung zu, wenn Frau Oberstleutnant Harbrecht sie mit kurzen Bemerkungen über die hervorragendsten Persönlichkeiten des Kreises unterrichtete, ihre Gedanken aber weilten anscheinend ganz woanders. Und von Zeit zu Zeit blickte sie forschend und neugierig nach der anderen Seite der Terrasse hinüber, auf der die jüngeren Damen des Regiments saßen mit etlichen aus den Gutshöfen der Nachbarschaft und denen des ebenfalls in Ordensburg liegenden Infanterieregiments. Eine dieser Damen, eine schlank gewachsene Blondine, schien ihre Aufmerksamkeit besonders zu fesseln …

Frau von Döhlau war erst vor wenigen Tagen ins Städtchen gekommen, während ihr Gatte seine Stellung schon vor einigen Wochen angetreten hatte. Er stammte aus einer altangesehenen rheinischen Beamtenfamilie, sie war die einzige Tochter eines lothringischen Großindustriellen, der aus seinen nach dem Westen neigenden Sympathien wenig Hehl machte. Jedem andern hätte diese Verbindung den Hals gebrochen, der Regierungsassessor Botho von Döhlau fiel, dank dem Einflusse seines hochmögenden Vaters, die Treppe hinauf. Nur lag die Landratsstelle, die er mit verhältnismäßig jungen Jahren erhielt, im fernen Osten. In einer Gegend, die seiner bei den frommen Ursulinerinnen in Thildonck erzogenen Frau ungefähr gleichbedeutend mit Sibirien war. Auf Grund ihrer in der Klosterschule erworbenen Geographiekenntnisse hatte sie vor der nur widerwillig unternommenen Übersiedlung einen umfangreichen Einkauf von Pelzen aller Art bewerkstelligt und war bei ihrer Ankunft nicht wenig verwundert, daß in Ordensburg die Sonne fast ebenso warm schien wie daheim über den Rebenhügeln Lothringens. Da beschloß sie, sich das »russische Abenteuer«, wie sie die Versetzung an die Grenze in ihrem Innern nannte, ein paar Wochen anzusehen. Viel länger konnte es ja nicht dauern, bis sie ihrem Manne die Überzeugung beibrachte, daß ein weiteres Verweilen in dieser Umgebung über ihre Kräfte gehen müßte. Und dann strengte er eben wieder einmal seine »Verbindungen« an und ließ sich nach Berlin versetzen.

Der Parademarsch näherte sich seinem Ende. Die fünfte Schwadron trabte in schnurgeraden Linien vorüber, die Köpfe hochgereckt mit Augen rechts, vor der Mitte auf einem prächtigen irischen Fuchswallach der Rittmeister Baron von Foucar. Das pikante Gesicht der kleinen Frau von Döhlau belebte sich, mit einer raschen Bewegung wandte sie sich zu ihrer Nachbarin:

»Gnädige Frau, wie heißt dieser Offizier, der mit so weltmännischer Haltung vor dem Herrn General seinen Degen senkte?«

Frau Oberstleutnant Harbrecht nannte zerstreut und ein wenig ärgerlich den Namen. Ihr durch lange Übung militärisch geschultes Auge hatte soeben entdeckt, daß der linke Flügelmann des zweiten Zuges das Verbrechen begangen hatte, sich nach einem jungen Mädchen umzusehen, das ihm aus der vordersten Reihe der Zuschauer mit einem Tuche zuwinkte.

Die junge Frau sprach lebhaft weiter: »Genau so hatte ich ihn mir vorgestellt nach der Schilderung, die man mir vor einigen Monaten – ich war damals noch unverheiratet – in Paris gegeben hat. Und nicht wahr, die große blonde Dame da drüben ist seine Frau, die in dem geschmacklosen blauen Kleid und mit dem unwahrscheinlich dicken Chignon?«

Frau Harbrecht hob unwillkürlich ihre stattliche Figur zu strafferer Haltung, und in ihr sonst so gütiges Gesicht trat ein abweisender Ausdruck.

»Frau von Döhlau, Sie sprechen von einer Dame meines Regiments. Und das ›unwahrscheinlich dicke‹ Haar ist echt. Das weiß ich ganz genau, denn ich kenne Frau Annemarie von Foucar nicht erst seit heute! Aber, wenn ich fragen darf, wer hat Ihnen denn in Paris eine so genaue Schilderung meines Freundes Foucar geben können, daß Sie ihn danach wiedererkannten?«

Die junge Frau errötete bis unter die künstlich gebrannten Stirnlöckchen und erwiderte stockend: »Es war … es war … wenn ich mich recht entsinne, ein Herr von der deutschen Botschaft.«

Frau Harbrecht sah ihre Nachbarin argwöhnisch an.

»Wie hieß er denn?«

»Ich habe den Namen bei der Vorstellung nicht recht verstanden. Ich traf den Herrn auf einem Rout beim Minister der schönen Künste – mein Papa hatte kurz zuvor dem Louvre ein bedeutendes Geschenk gemacht – ja, und da lernte ich ihn kennen.«

»Entschuldigen Sie,« sagte Frau Harbrecht in ehrlichem Entsetzen, »ich glaube nicht recht gehört zu haben! Ihr Herr Papa hätte dem Louvremuseum ein Geschenk …? Ich denke, er ist doch Deutscher?«

»Ganz recht, aber noch nicht lange genug, um sein eigentliches Vaterland vergessen zu haben! Zwei seiner älteren Brüder fielen als französische Offiziere am gleichen Tage in der Schlacht von Fröschweiler. Ihn, als den Jüngsten, traf das Los, unseren großen Besitz von Hüttenwerken und Fabriken unter der preußischen Herrschaft der Familie zu erhalten.«

»Und Sie … Sie teilen die Anschauungen Ihres Herrn Vaters?«

Frau von Döhlau biß sich auf die Lippen. Schon wieder hatte sie eins der strengen Gebote ihres Mannes übertreten, mit diesen Leuten hier niemals über Fragen der Politik zu sprechen. Zugleich aber regte sich in ihr ein törichter Trotz.

»Selbstverständlich, gnädige Frau! Wäre ich sonst wohl wert, den Namen Eberlé zu führen, der in der Geschichte Frankreichs eine so große Rolle gespielt hat?« Sie hatte mit allem verfügbaren Aplomb gesprochen, aber die erwartete Wirkung blieb aus. Diese massive Preußenfrau an ihrer Seite lächelte nur nachsichtig.

»Kleines Frauchen, Sie werden hier manches umlernen müssen, wenn Sie Ihrem Manne nicht unnütz das Leben schwer machen wollen! Na, und nun – ich brenne nämlich geradezu darauf –, wie ist dieser deutsche Gesandtschaftsattaché dazu gekommen, mit Ihnen über Persönlichkeiten gerade unseres Kreises zu sprechen?«

Frau von Döhlau hob unwillig die schmalen Schultern, die ein wenig zu rosig unter dem durchsichtigen Gewebe Brüsseler Spitzen hervorschimmerten, fast als hätten auch sie etwas von der lebhaften Farbe der Lippen und der kleinen Ohrmuscheln abbekommen.

»Gnädige Frau, Sie fragen mich zuviel! Ich weiß nicht mehr, wie das Gespräch zustande kam. Ich entsinne mich nur, daß Herr von Foucar dabei besser abschnitt als seine Gemahlin. Sie soll ihm von der ersten Begegnung an unablässig nachgestellt haben, trotzdem sie mit einem Edelmann dieser Gegend verlobt war.«

»Ganz und gar unrichtig, aber, bitte, weiter!«

»Na, da soll – immer nach der Schilderung meines Gewährsmannes – auch Herr von Foucar einen Schwur vergessen haben, den er einer liebenswerten, durch ihn todunglücklichen Frau einstmals abgelegt hatte. Sie weint noch heute um ihn.«

»So, so«, sagte Frau Harbrecht langsam. »Ich glaube jetzt zu wissen, wie Ihr Gewährsmann aussah. Wenn Sie an ihn schreiben, richten Sie ihm aus, er sei falsch unterrichtet. Der junge Edelmann, der von Fräulein von Gorski – so hieß nämlich Frau Rittmeister von Foucar vor ihrer Verheiratung – ja also, der von ihr verabschiedet wurde, war keine Zierde seines Standes. Er hat seine Heimat verlassen müssen, weil ihn hier jedermann wegen seines unwürdigen Benehmens schnitt. Über die Dame, der Herr von Foucar die Treue gebrochen haben soll, habe ich kein Urteil. Sie aber, Frau von Döhlau, möchte ich bitten, in Zukunft ein wenig vorsichtiger zu sein. Unsere Männer hier sind genötigt, selbst für eine Taktlosigkeit ihrer Frau einzutreten.«

Frau Harbrecht machte eine kurze Handbewegung und stand auf, um einen hochgewachsenen Offizier in Generalstabsuniform zu begrüßen, der sich von dem Gefolge des Kommandierenden gelöst hatte und mit suchendem Blick die Treppe zur Hotelterrasse hinaufstieg. Auch von den übrigen Damen war mehr als ein Dutzend aufgesprungen, drängte sich am Eingange, das Umarmen und Händeschütteln wollte kein Ende nehmen. Die kleine Frau von Döhlau aber mußte alle Selbstbeherrschung aufbieten, um die Tränen zurückzuhalten, die ohnmächtiger Zorn ihr in die Augen trieb. Und dazu kam der Ärger über sich selbst, daß sie der fernen Freundin wohl kaum einen guten Dienst erwiesen hatte, als sie sich von ihrem allzu lebhaften Temperament hinreißen ließ …

Frau Bürgermeister Wessollek, die das Bedürfnis einer Ansprache fühlte, wandte sich über den leeren Stuhl hinweg zu der Landratsgattin:

»Ist das nicht härrlich, gnädige Frau, wie jetzt nach dem aktiven Regiment die Veteranen vorbeimarschieren? Der Ries' da, mit dem langen weißen Bark, der die Fahn' vom Kriegerverein trägt, ist der frühere Wachtmeister Schikorra, ein naher Verwandter von mir, mütterlicherseits. Drei Feldzüge hat er mitgemacht und mehr als vierzig Schlachten, aber, wenn's jetzt wieder losgeht – hat er gesagt –, geht er mit.«

Frau von Döhlau hatte eine sarkastische Erwiderung auf den Lippen, aber sie dachte an die Ermahnungen ihres Mannes und nahm sich zusammen.

»In der Tat,« sagte sie höflich, »dieser alte Krieger macht einen tapferen Eindruck. Wie eine Verkörperung des Preußentums erscheint er mir, das mit ebenso groben Stiefeln durch die Weltgeschichte schreitet. Aber – wenn ich fragen darf – wer ist denn dieser Offizier mit den breiten roten Streifen an den Beinkleidern, der von einem Teil unserer Damen so stürmisch begrüßt wird?«

»Härrjees,« erwiderte Frau Wessollek erstaunt, »kännen Se den dänn nich? Das ist doch der Oberst Wegener, der beriehmteste Sohn unserer Stadt! Keein Mänsch hat gedacht, daß er mal so'n großes Tier werden könnt'. Fast ein Jahr lang ist er nicht in der Heimat gewesen. Das letztemal zur Hochzeit seiner Nichte, der Annemarie von Gorski, mit dem Rittmeister von Foucar. Und jetzt soll er Paten stehen, weil vor vier Wochen doch ein Jungchen angekommen ist. Wir alle haben uns gefreut. Denn das Ehepaar ist in der ganzen Stadt so beliebt … ich alte Frau hab' auch gebibbert, ob die schwere Stunde glücklich ablaufen würde.«

»Kaum vier Wochen, sagen Sie, und da geht die junge Mutter schon in Gesellschaft?«

Frau Wessollek lachte.

»Ja, das ist echt ostpreußischer Schlag. Das Kinderkriegen ›ragt‹ uns nicht!« Sie bog sich vertraulich über den leeren Stuhl und sprach halblaut weiter: »Wissen Sie, Frau Landrat, ich hatt' mal ein Dienstmädchen, die hatt' was mit 'nem Dragoner … erschräcken Se nich, es war ganz moralisch, denn er hat se nachher geheiratet! Bis zur letzten Viertelstund' stand se an der Waschtonn', und am sälben Abend sagte se: ›Frau Bürgermeister, ich möcht' doch zu gärn das Balch meiner Mutter zeigen! Könnt' ich nich für e Viertelstundche 'rieberspringen?‹«

Die kleine Frau in dem kostbaren Spitzenkleid antwortete nicht. Sie grub die weißen Zähne in die rote Unterlippe und sah mit einem Blick voll Neid zu der jungen Rittmeistersgattin hinüber, die mit blühendem und lachendem Gesicht vor dem alten Herrn in Generalstabsuniform stand …

Der Oberst Wegener hatte mit sichtlichem Vergnügen seine zahlreichen Nichten aus den Geschlechtern der Schloß, Leitner, Laurach, Ahrens und Gorski abgeküßt, jetzt stand er mitten in der hellgekleideten Schar junger Frauen und Mädchen.

»Kinderchen, das hat nach langer Entwöhnung wohlgetan! Wie 'nem alten Karrengaul, der mit einem Male vom Sandboden in eine frühlingsgrüne Wiese kommt. Aber es ging zu rasch hintereinander! Heute abend lade ich euch alle zu dem Fest der fünften Schwadron. Da werden wir die Übung wiederholen, und ich etablier' mich als Schiedsrichter, wer von euch das weichste Schnäbelchen hat.«

»Du,« sagte die rundliche Erbtochter des Gutsbesitzers Leitner auf Brodowen, »ich schreib's nach Berlin, daß du die gute Tante Malwine mit despektierlichen Beiwörtern bedenkst. Ein bißchen mager ist sie ja, aber ›Sandboden‹ ist doch zu viel gesagt!«

Der Oberst machte ein erschrecktes Gesicht.

»Um Gottes willen, Mädel, untersteh dich! Sonst seht ihr mich lebendig nicht wieder.«

Alles im Kreise lachte fröhlich auf. Der Oberst wandte sich wieder zu der vor ihm stehenden Frau von Foucar. »Na und du, Annemieze? Was macht der kleine Franzos, den ich morgen aus der Taufe heben soll?«

Über das ein wenig schmal gewordene Gesicht der jungen Frau flog ein frohes Leuchten.

»Der trinkt und schläft! Wenn er Durst hat, brüllt er. Aus dieser Charaktereigenschaft schließe ich, daß er die Absicht hat, ganz und gar Deutscher zu werden!«

Regimentsveteranen und Kriegervereine waren vorbeimarschiert. Die bunte Menge der Zuschauer drängte unaufhaltsam auf den Platz, den bisher das Regiment eingenommen hatte. Der Polizeiwachtmeister Pigulla, unterstützt von einigen Gendarmen, hatte Mühe, vor der Hotelterrasse einen Raum für die Spitzen der Behörden freizuhalten.

Das Schauspiel der großen Parade hatte sich rascher abgespielt, als vorausgesehen, und bis zum Beginn des Festessens im Saale des Königlichen Hofes dauerte es noch eine ganze Weile. Der dicke Wirt Kurowski erschöpfte sich in Entschuldigungen und beruhigte sich erst, als der Herr Geheimrat von der Regierung versicherte, er freue sich, vor den Anstrengungen des sicherlich sehr opulenten Diners noch ein wenig frische Luft zu genießen. Der Kommandierende General aber rief dem übereifrigen Polizeiwachtmeister Pigulla in jovialer Laune zu, die verehrlichen Herrschaften vom Zivil nicht so fürchterlich anzuschnauzen. Drängeln gehöre zum Vergnügen, und er für seine Person wäre froh, wenn er oben im Himmel mal so viel Platz haben würde wie hier unten. Das Scherzwort wirkte mehr als jede strenge Absperrungsmaßregel. Das Publikum hielt sich in gebührender Entfernung und faßte Vertrauen zu dem Manne, von dem es hieß, daß er im Ernstfalle zum Befehlshaber der ganzen Ostarmee bestimmt wäre …

Der Herr Geheimrat von der Regierung stand vor einem breitschultrigen alten Herrn in der Uniform eines Majors der Reserve, der ihn um mehr als Haupteslänge überragte.

»Herr von Gorski,« sagte er halblaut und eindringlich, »vor ein paar Stunden erst habe ich's zu meinem größten Schrecken erfahren, Sie beabsichtigen, Ihr Reichstagsmandat niederzulegen. Also es geht absolut nicht, daß Sie uns gerade in dieser Zeit im Stich lassen!«

»Tut mir leid, Herr Geheimrat, mein Entschluß ist unabänderlich!«

»Aber, mein Verehrtester, so bedenken Sie doch, der Wahlkreis geht glatt in die Hände der Opposition über! Die vereinigten Liberalen würden den außerordentlich populären hiesigen Bürgermeister aufstellen, die Polen einen Zählkandidaten, Zentrum und Bauernbund desgleichen, die Sozialdemokraten aber den Redakteur ihres Parteiblättchens, diesen verdorbenen Theologen; sein Name ist mir im Augenblick entfallen …«

»Kochanski, Herr Präsident.«

»Ganz recht! Wir jedoch hätten im günstigsten Falle nur den Rittergutsbesitzer Böhmer zu versenden, der als extremer Agrarier sich keiner sonderlichen Beliebtheit erfreut. Das Resultat aber: Stichwahl zunächst und, da die gesamte Opposition bei der Entscheidung natürlich für das sogenannte kleinere Übel eintritt, Verlust des Wahlkreises an die Liberalen!«

Herr von Gorski hob die breiten Schultern.

»Bedaure sehr, Herr Geheimrat, ich kann und will nicht mehr. Aus persönlichen und sachlichen Gründen. Die Formen, die das politische Leben in der letzten Zeit angenommen hat … also da komme ich nicht mehr mit. Ich stimme auch zu meiner eigenen Partei nicht mehr und bin wohl schon zu alt, um noch mal umzulernen.«

Der Herr Geheimrat zog nervös seine weißen Frackhandschuhe durch die Linke.

»Aber, mein verehrter Herr von Gorski, wenn nun alle wahren Patrioten so dächten wie Sie?«

»Wär' es ein Segen! Empfehle mich ergebenst, Herr Geheimrat! Wenn Sie die Freundlichkeit haben wollten, mich morgen in Kalinzinnen zu besuchen, könnten wir uns besser darüber unterhalten als hier, mitten im Festtrubel!«

Herr von Gorski wandte sich mit leichter Verneigung ab, um seinen Vetter, den Oberst Wegener, zu begrüßen, dem er vorhin nur über den Platz hinweg hatte zuwinken können. Der Herr Geheimrat aber biß sich ärgerlich auf den englisch gestutzten Schnurrbart.

»Eine verdammt kurz angebundene Gesellschaft, diese ostpreußischen Herren Junker«, sagte er zu dem neben ihm stehenden Landrat. »Sitzen auf ein paar tausend Morgen Acker und benehmen sich wie Fürsten, die Audienz erteilen.«

Herr von Döhlau, ein noch jugendlicher Mann mit energischem, von zahlreichen Schmissen durchfurchtem Gesicht, verneigte sich zustimmend.

»Sehr wohl, Herr Geheimrat. Aber wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf: es dürfte sich kaum empfehlen, Herrn von Gorski noch weiter zu bedrängen. Sein Entschluß, sich vom politischen Leben zurückzuziehen, ist unwiderruflich. Er erklärt sich nicht zum geringsten Teile aus seinen betrübenden Familienverhältnissen.«

»Nanu,« sagte der Geheimrat verwundert, »ich denke doch, seine einzige Tochter wäre recht glücklich verheiratet? Mit einem Rittmeister des hiesigen Regiments?«

»Baron Foucar von Kerdesac …«

»Ganz recht, jetzt entsinne ich mich. Der Abkömmling einer Refugiéfamilie. Ich hörte erst neulich, er wäre ein so hervorragender Soldat, daß ihm eine besonders rasche Karriere bevorstände. Also verstehe ich nicht recht, wie man da von unglücklichen Familienverhältnissen sprechen kann!«

Herr von Döhlau trat etwas näher und dämpfte seine Stimme: »Es liegt an etwas anderem. Als Frau von Foucar kaum ein Jahr alt war, hat sich in ihrem Elternhause eine Tragödie abgespielt, unter deren Folgen Herr von Gorski mehr und mehr leidet. Frau von Foucar hat keine Ahnung davon und glaubt, daß ihre Mutter gestorben ist.«

»Dann freilich! Aber könnten wir's mit der Kandidatur Böhmer im ersten Wahlgang schaffen?«

Herr von Döhlau antwortete vorsichtig: »Ich stehe wohl zu kurze Zeit an der Spitze dieses Kreises, um darüber ein zuverlässiges Urteil zu haben. Möglich, daß die drohende Kriegsgefahr die Stimmung der Wählerschaft in einem für uns günstigen Sinne beeinflußt.«

»Entschuldigen Sie,« sagte der Herr von der Regierung, »ich glaube nicht recht verstanden zu haben! Was soll uns drohen?«

»Krieg, Herr Geheimrat! Leute, an deren besonderem Urteil mir kaum ein Zweifel erlaubt scheint, versichern aufs bestimmteste, in vier Wochen längstens hätten wir den Einbruch der russischen Armee zu erwarten.«

»Was Sie sagen!«

»Ich berichte nur, was Herr Geheimrat sich von jedem der heutigen Festteilnehmer bestätigen lassen können. Nach den ersten vierzehn Tagen meiner Amtstätigkeit schon machte ich dem Kreisausschusse Vorschläge über einige meiner Ansicht nach notwendige Maßregeln, Ausbau von Vizinalwegen, Vergrößerung des hiesigen Krankenhauses und so weiter. Wissen Herr Geheimrat, was für eine Antwort ich bekam?«

»Na?«

»Nach dem Krieg, Herr Landrat! Die Russen trampeln ja doch alles kurz und klein.«

»Unglaublich! Dabei hat es in Wirklichkeit in West und Ost seit langer Zeit nicht so friedlich ausgesehen wie gerade in diesem Sommer!«

»Und die ungeheuerlichen Truppenansammlungen jenseits der russischen Grenze, von denen ich mich durch eigenen Augenschein überzeugt habe, als ich vor kurzem dienstlich nach Suwalki fahren mußte?«

Der Herr Geheimrat lächelte.

»Lieber Döhlau, daran sollten die Herrschaften hier im Osten doch nachgerade gewöhnt sein! Diese Ansammlungen tragen einen rein defensiven Charakter. Unsere – im Vertrauen gesagt – etwas unklare äußere Politik hat es verschuldet, daß man in Rußland glaubt, sich vor einem deutschen Einfall schützen zu müssen. Unser Botschafter ist eifrig bemüht, diesen Glauben zu zerstreuen. Und das wird ihm nicht schwer fallen, denn die leitenden Kreise Petersburgs erinnern sich noch heute mit tiefer Dankbarkeit an unser wahrhaft freundschaftliches Verhalten im japanischen Feldzuge. Das weiß ich genau, denn ich habe einen Vetter bei der Botschaft am Zarenhofe, mit dem ich in regem Gedankenaustausch stehe.«

Der junge Landrat hatte eine Erwiderung auf den Lippen, aber er dachte sich sein Teil … Da hatte vor kurzem erst der russische Kriegsminister über das friedliche Deutschland hinweg eine Mahnung nach Westen geschickt: »Hallo, wo bleibt ihr? Wir auf unserer Seite sind fertig!« … Kein Mensch aber hatte gehört, daß dieser Säbelrassler »höheren Ortes« zurechtgewiesen worden wäre …


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