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5

Zu der Taufe im Kalinzinner Schlosse waren nur wenige Gäste geladen worden. Der ernsten Zeiten wegen, und weil der alte Herr von Gorski schon seit einigen Monaten schwer leidend war. Die hohe Gestalt zwar trug er noch immer straff aufrecht, in seinem hageren Gesichte aber zeigten sich die deutlichen Spuren einer Krankheit, die an seinem innersten Lebensnerv zehrte. Um die tief eingesunkenen Augen lag ihm ein gelber Schein, und der sonst so rüstige und tätige Mann saß zuweilen stundenlang müßig am Schreibtische, den matten Blick nach innen gerichtet. Wenn aber die Tochter ihn in banger Sorge anflehte, irgendeinen der berühmten Ärzte der Königsberger Universität zu befragen oder zur Untersuchung kommen zu lassen, wehrte er unwirsch ab. Ihm fehlte nichts, und man sollte ihn gefälligst in Frieden lassen … Und so sehr schloß er sich gegen alle teilnehmende Fürsorge ab, daß er manchmal, wenn Annemarie in ihrem leichten Korbwägelchen an der großen Freitreppe vorfuhr, das Schloß zum Parktor hinaus verließ und nicht eher wieder heimkehrte, bis sie nach stundenlangem Warten sich auf den Rückweg zur Stadt begeben hatte. Schließlich stellte sie ihre Besuche bekümmerten Herzens ein, denn der Diener Feyerabend hatte ihr berichtet, der alte Herr sei jedesmal hinterher in einen beängstigenden Zustand geraten. Fortwährend habe er mit dem Bild der seligen gnädigen Frau gesprochen, bis er endlich vor Erschöpfung im Lehnstuhl eingeschlafen sei …

Der feierlichen Handlung der Taufe hatte er nicht bis zu Ende beiwohnen können. Ein Schwächeanfall war plötzlich über ihn gekommen, gerade als der greise Superintendent Stury von der großen Freude sprach, die der Schloßherr von Kalinzinnen über die Geburt eines Enkels empfunden habe, der das alte Geschlecht der edlen Herren von Gorski zwar nicht im Namen, dafür aber im Blute fortsetze. Da gab es eine peinliche Unterbrechung. Der alte Herr griff sich mit einem kurzen Laut nach dem Halse, sackte zusammen, und nur dem raschen Zugreifen des Obersten Wegener war es zu danken, daß er nicht hilflos zu Boden sank. Ein paar Augenblicke bloß dauerte die Schwäche, er richtete sich wieder auf, und nachdem ihn Annemarie mit einem Glase Wein gelabt hatte, gelang es ihrem Zureden, ihn auf sein Zimmer zu bringen.

Da kürzte der Superintendent seine Rede ab, denn auch der im Steckkissen liegende zukünftige Herr von Kalinzinnen war plötzlich ungebärdig geworden. Während der erste seiner Paten, der Leutnant Karl von Gorski, ihn auf den Arm nahm, fing er plötzlich an zu brüllen, als wenn er am Spieße steckte, und war nicht einmal durch gütiges Zureden der eigenen Mutter zu beruhigen. Der greise Pfarrherr nahm ihn daher im abgekürzten Verfahren in die Gemeinschaft der Christenheit auf. Alle die schönen und herzbewegenden Worte, die er ihm auf den Lebensweg mitzugeben gedachte, blieben ungesprochen. Die Taufgesellschaft aber, die zu einem fröhlichen Feste gekommen war, stand in gedrückter Stimmung in der weiten, mit Tannen und Blumen geschmückten Halle.

Und jeden überfielen seine eigenen Sorgen … Der kleine alte Herr von Gorski auf Groß-Heinrichsdorf sann darüber, wie sein Vetter Wegener sich wohl zu dem Sanierungs-Projekte des Majorates stellen würde. Sein Sohn Karl plagte sich mit Vorwürfen, daß er noch immer nicht, trotz wiederholten Anlaufes, den Weg zu einer Aussprache mit dem älteren Bruder gefunden hatte, und der Oberst Wegener trug schon seit dem frühen Morgen eine Depesche seines Adjutanten in der Tasche, die ihn mitten aus dem Urlaub wieder an die Arbeitsstätte rief. Weshalb, konnte er sich wohl denken … Und er zerbrach sich den Kopf über eine Ausrede, die für seine verfrühte Abreise eine plausible Erklärung gab, ohne die zurückbleibenden Lieben über Gebühr zu beunruhigen … In so aufgeregten Zeiten genügte zuweilen eine Kleinigkeit, sonst besonnen und nüchtern denkende Menschen in panischen Schrecken zu versetzen. Er wußte, was seiner über alles geliebten Heimat bevorstand, wenn es nicht gelang, die hinter der Grenze sich stauende Flut noch einmal durch friedliche Mittel aufzuhalten. Und trotz allem kriegerischen Sinn war er jetzt der Meinung jener, die jeden Tag des Friedens als einen Gewinn verbuchten. Immer in der Hoffnung, im letzten Augenblick könnte noch ein Wunder geschehen, das die drohenden Gewitterwolken verscheuchte … An seinem Arbeitstische im Berliner Generalstabe war er ein kühler Rechner, der kaltblütig für sein Teil an den Vorbereitungen für den unausbleiblichen letzten Entscheidungskampf arbeitete. Hier zu Hause aber ein treuer Sohn seiner Heimat, der sich um die Muttererde bangte, die seine Jugend gesehen hatte … Schwer standen die reifenden Saaten im Korn, auf den Wiesen wuchs üppig das Grummet zum zweiten Schnitt, und unabsehbar dehnten sich die dunkelgrünen Kartoffelschläge. Im Städtchen aber überall die erfreulichen Spuren regsamen Bürgerfleißes. Eine Zementfabrik hatte sich aufgetan, die für ihre Erzeugnisse lohnenden Absatz fand, und der mit starkem Gefälle durch das hügelige Gelände eilende Fluß war zu nutzbringender Arbeit eingefangen worden. Eine Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen betrieb er und zwei Sägemühlen, in denen die gewaltigen Kiefern und Eichen der Ordensburger Heide zu Brettern und Bauholz geschnitten wurden. Und ähnliches war auch aus anderen Teilen der früher so stillen Provinz zu berichten … Das alles wurde vernichtet, verbrannt und zertrampelt, wenn die Kosakenhorden über die Grenze brachen, denn die Linie, auf der eine Verteidigung möglich war, lag erst hinter den Masurischen Seen. Alles Land im Osten mußte preisgegeben werden wie das Vorgelände einer Festung. Wenn man auf diesem Stückchen Erde die schönen Tage einer unbekümmerten Jugend gelebt hatte, tat das weh, selbst wenn man bei kühler Überlegung die bittere Notwendigkeit einsah …

Der einzige Stillvergnügte in der ganzen Gesellschaft war der dicke Freiherr von Lindemann-Borzymmen. Zwar litt er unter erheblichem Haarweh, denn er hatte das Regimentsjubiläum mit der ihm in solchen Dingen eigenen Gründlichkeit bis zum hellen Morgen gefeiert, aber er gedachte sich an den edlen Weinen, die der Kalinzinner Schloßkeller barg, beim Taufdiner zu erholen. Außerdem aber schüttelte er sich noch jetzt vor Vergnügen, wenn er an die geschickte Kriegslist dachte, mit der er am Sonntagabend seiner gestrengen Nachbarin bei der Heimfahrt entwischt war. An dem Bahnübergang dicht hinter der Stadt hatte der Wagen halten müssen, weil ein Güterzug in langsamer Fahrt die Strecke passierte. Fräulein von Streit war gerade im Begriff, ihm den Text zu lesen, weshalb noch ein Teil des Heus auf seinen Flußwiesen stände, als ihm ein rettender Gedanke durch den Kopf fuhr. Mit drei raschen Schritten war er aus dem Wagen, über die Bahnsperre gestiegen und auf das Trittbrett des einzigen Personenwagens im Zuge gesprungen. Von dort schwenkte er den Hut: »Gute Nacht, meine Gnädigste, wünsche angenehme Heimfahrt! Und entschuldigen Sie mich gütigst, aber eben ist mir eingefallen, ich habe im Schützengarten meinen Regenschirm vergessen!« Ob sie ihn verstanden hatte, wußte er nicht, er sah nur, daß sie entsetzt die Hände rang. Er aber fuhr mit dem Güterzuge in vergnügter Stimmung nach Ordensburg zurück; das war seine Revanche für den heimtückischen Überfall mit der abgesprungenen Radnabe! Hoffentlich ließ seine Nachbarin ihn jetzt mit unangebrachten Bekehrungsversuchen zufrieden.

Auf dem Bahnhofe zahlte er eine Mark Strafe wegen mangelndes Besitzes einer Fahrkarte und begab sich geradeswegs in die kleine Kneipe seines alten Feindes Zapietznik, der die eine versöhnlich stimmende Eigenschaft besaß, daß er weit und breit den besten Burgunder schenkte. Da trank er andächtig eine ganze Weile lang allein, als aber draußen die Spatzen lärmten und der helle Morgen durch die Ritzen der Fensterladen schien, gab es mit den sonstigen Stammgästen der Polenkneipe eine Art von Verbrüderungsfest. Der junge Graf Bielolaski hatte um die Erlaubnis gebeten, an seinem Tische Platz nehmen zu dürfen. Allmählich fanden sich auch die anderen Jünglinge ein mit den beiden hübschen Kellnerinnen, er hielt ihnen einen eindringlichen Vortrag über die »Segnungen«, die sie etwa von einer – im übrigen höchst unwahrscheinlichen – Russenherrschaft zu erwarten hätten, und gab ihnen den energischen Rat, sich bald mit der preußischen Regierung restlos auszusöhnen. Das leuchtete den Polenjünglingen ein, man sang zunächst »Deutschland, Deutschland über alles«, dann » Jescze Polska nie zginiela«, »Noch ist Polen nicht verloren«, zum Schluß aber hatte er hundertfünfzig Mark für französischen Sekt zu zahlen, weil die neubekehrten Brüder sich unauffällig und nach und nach verkrümelt hatten, ohne ihren Anteil an der Zeche zu berichtigen. Das dämpfte ein wenig seinen Enthusiasmus, denn er fand es unbillig, daß der Lehrer auch das Schulgeld zu zahlen hätte …

Immerhin hatte er bei diesem Gelage eine Nachricht erfahren, die ihm den Verlust der anderthalb blauen Scheine weniger schmerzlich erscheinen ließ: Orlowen, das Nachbargut von Kalinzinnen, wurde in polnischen Blättern zum Verkauf ausgeboten wie sauer Bier! Ein Besitztum, das seit mehr als vierhundert Jahren in den Händen ein und derselben deutschen Familie gewesen war, wurde polnischen Käufern angeboten! Der älteste dieser Familie, der Hermann von Brinkenwurff, trieb sich irgendwo in der Welt herum, weil er von den engeren Volksgenossen wegen unwürdigen Benehmens in eine Art von stiller Acht getan worden war; aber das war doch kein hinreichender Grund, sich auch des letzten Restes seiner besseren Vergangenheit zu entschlagen.

Der Oberst Wegener, der mit dem Taufvater, Rittmeister von Foucar, in lebhaftem Gespräche gestanden hatte, horchte hoch auf bei der Nachricht. Und sie schien ihm wichtig genug, sich mit dem Überbringer in eine der Ecken der weiten Halle zurückzuziehen.

»Mein lieber Herr von Lindemann,« sagte er, »der Verkauf muß unter allen Umständen verhindert werden. Mindestens, bis die politische Situation sich wieder geklärt hat. Wir haben allgemach schon genug Spionennester im Lande!«

Der Dicke reckte sich heraus, so gut es seine untersetzte Figur gestattete.

»Na also, Herr Oberst! Gestern aber fuhren Sie uns über den Schnabel!«

»Ganz recht, aber von gestern zu heute hat sich einiges geändert. Und sollte ich Ihnen vielleicht mitten in einer Gesellschaft von jungen Damen erwidern: Herr von Lindemann, ich teile Ihre Beklemmungen und Ängste? Da hätten die kleinen Fräuleins doch einen Mordsschreck gekriegt, sich womöglich des Ruhmes jener erinnert, die einstmals das Kapitol erretteten, und es hätte eine höchst unnütze und schädliche Aufregung gegeben!«

»Natürlich! Aber, was meinen Sie, daß gegen den Verkauf von Orlowen nun getan werden könnte?«

Der Oberst winkte auch die anderen Herren herbei, seinen Groß-Heinrichsdorfer Vetter Gorski mit den beiden Söhnen und den Rittmeister von Foucar. Man kam überein, zunächst einmal den Landrat von Döhlau zu einem Bericht an die Regierung aufzufordern, vielleicht daß diese aus Mitteln der Ansiedlungskommission das Gut erwarb. Wenn nicht aus politischen, so aus strategischen Rücksichten.

Der Groß-Heinrichsdorfer Majoratsherr hatte ohne rechte Teilnahme zugehört. Ihn drückten andere Sorgen, und dieses ewige Kriegsgeschrei vernichtete vielleicht seine letzten Hoffnungen. Er zuckte mit den Achseln.

»Ich glaube, bei all diesen Geschichten wird aus Angst maßlos übertrieben! Gesetzt den Fall, wir bekämen wirklich den Krieg, was läge schon daran, wenn Orlowen in den Händen eines Russen wäre?«

Der Oberst Wegener legte ihm mit einem trüben Lächeln die Hand auf die Schulter:

»Kleines Vetterchen, das wäre im Ernstfalle schlimmer, als du dir vorstellen kannst! Seit du bei den Ordensburger Dragonern dein Jahr abdientest – ich denke noch heute mit stiller Wehmut an deine Leistungen –, hat sich in unserer Kriegsführung manches geändert. Ich will dir hier keine langen Vorträge halten, aber in dem kommenden Kriege wird das Schicksal mancher Schlacht von dem sicheren Funktionieren eines Telephondrahtes abhängen. Oder ich will dir ein Beispiel geben, das mehr zu unserem Thema paßt … Drei, vier Kilometer hinter Orlowen, nach der Grenze zu, tobt die große Entscheidungsschlacht, von der es vielleicht abhängt, ob die Russen ungehindert bis zur Weichsellinie vordringen können, oder ob wir sie wieder nach Polen zurückwerfen. Hinter dem Gutswalde hält eine Kavalleriebrigade zur Verfügung des Korpskommandeurs, der sie für einen ganz besonderen Augenblick aufspart, meinetwegen, um den abziehenden Feind in regellose Flucht zu jagen. Die Brigade steht vollkommen sicher, feindliche Flieger, die ihren Platz hätten erkunden können, sind schon in der vorderen Linie abgeschossen worden. Plötzlich schmettern die russischen Granaten mit Volltreffern dazwischen, die Schrapnells platzen über den Schwadronen. In zwei, drei Minuten ist von den stolzen beiden Regimentern nur ein Trümmerhaufe übrig, reiterlose Gäule jagen über das Feld, zerschossene Klumpen von Menschen und Pferden decken die Erde. Einer der überlebenden Offiziere sammelt die Reste tausend Meter zurück. Der Hagel von Granaten und Schrapnells faßt sie von neuem, ohne warnendes Einschießen … Weshalb? Oben auf dem Orlower Bergfried, den vor jenen Hunderten von Jahren ein edles deutsches Geschlecht als Wahrzeichen seiner Herrschaft errichtet hat, steht ein verkaufter Schweinehund als Beobachter und meldet seine Wahrnehmungen nach dem Keller. Im Keller aber sitzt ein anderer Schweinehund an einem heimlich eingerichteten Telephon, dessen sorgfältig versteckte Drähte zu den russischen Stellungen führen. Die erste Meldung lautet: ›Auf Sektor 21‹ – ich sage die Zahl natürlich nur so aufs Geratewohl hin –, ›also auf Sektor 21 der Karte steht eine Kavalleriebrigade.‹ Ein paar Minuten vergehen, bis der feindliche Kommandeur die Meldung an seine Artillerie weitergegeben hat, dann sind hundert Feuerschlünde genau eingerichtet, spucken Tod und Verderben. Mit welchem Erfolg, habe ich eben auseinandergesetzt …«

Der kleine Herr von Gorski versuchte zu lächeln.

»Du schilderst das so anschaulich, lieber Vetter, als wärst du schon mal wirklich dabei gewesen?!«

»War ich auch, mein Verehrtester! Auf unserem großen Schießplatz in Jüterbog. Da habe ich zu verschiedenen Malen gesehen, wie unsere Artillerie nach verdeckten Zielen schoß, deren Ort sie nur nach der Karte ausrechnete. Der Erfolg war fürchterlich. Wenn wir Zuschauer zu den unter Feuer genommenen Aufbauten eilten, die als Scheiben dienten, kroch uns manchmal ein Grausen über den Rücken. Ich wenigstens mußte dabei immer denken, wenn diese Unterstände nun von deutschen Jungen besetzt gewesen wären … Und nichts berechtigt uns leider zu der Annahme, daß unsere Gegner in dem zukünftigen Kriege die fürchterlichen Errungenschaften der modernen Technik weniger ausgenutzt haben sollten als wir …«

Herr von Gorski benetzte sich die trockenen Lippen mit der Zungenspitze. Das Barometer seiner heimlichen Hoffnungen sank mehr und mehr …

»Krieg, Krieg! Ihr sprecht so selbstverständlich vom Krieg, als wenn er schon morgen vor der Tür stände!«

Der Oberst Wegener atmete tief auf und dämpfte unwillkürlich seine Stimme, obwohl die Damen mit dem Herrn Superintendenten auf der anderen Seite der Halle in lebhafter Unterhaltung die Wiege des kleinen Täuflings umgaben:

»Ich stehe hier unter nahen Verwandten, darf also wohl ohne vorhergehende Bitte um absolute Verschwiegenheit freier sprechen, als es mir sonst erlaubt wäre …«

»Aber selbstverständlich!«

»Na denn, es sieht nicht gut aus, ringsum. Schlimmer als je zuvor … Ich betone ausdrücklich, ich habe gar keine besonderen Nachrichten, schließe nur aus einer Stichprobe, die mich freilich persönlich angeht. Acht Tage hatte ich Urlaub, sagte meinem Chef beim Abschied: ›Exzellenz, diesmal muß schon eine Welt einstürzen, ehe ich früher zurückkomme, ich will die eine Woche mich bei meinen ostpreußischen Verwandten so recht auslümmeln. Nichts tun, als Rehböcke schießen, Krebse essen, Erdbeerbowle trinken …‹ Heute früh kriege ich von meinem Adjutanten die Depesche: ›Exzellenz bittet um sofortige Rückreise!‹ Also, das heißt ja nicht gerade, daß es übermorgen schon losgeht, aber es bedeutet: Alle Mann an Deck! Klar zum Gefecht!«

»Na, na, na,« sagte der kleine Herr von Gorski, »man immer ruhig mit die jungen Remonten! Ich glaub' nicht eher an den Krieg, als bis die Russen mir das Dach auf dem Kopf anstecken! Das Gequatsche geht nu schon zwei Jahre lang: ›Diese Ernte bringen wir nicht mehr im Frieden 'rein.‹ Es ist immer noch anders gekommen! Und Leute wie ich leiden fürchterlich darunter. Ich trage mich mit einem großzügigen Projekt, die natürlichen Hilfsquellen von Groß-Heinrichsdorf mehr auszunutzen als bisher … Lumpige viermalhunderttausend Mark gehören dazu …«

Der Oberst Wegener zuckte mit den Achseln.

»Lieber Vetter Hans, vertag' dein Projekt! Das Geld wäre weggeschmissen …«

Und Herr von Lindemann bemerkte ergänzend:

»Ganz abgesehen davon, daß es dir niemand pumpt, lieber Gorski! Aber mein verehrter Freund und Oberst, wo wir schon bei den Vertraulichkeiten sind, die über diesen Kreis hier natürlich nicht 'rauskommen: was raten Sie uns zu tun?«

»Mein bester Herr von Lindemann – aber sagen Sie es nur in absolut vertrauenswürdigem Kreise weiter: packt unauffällig eure wertvollsten Sachen und haltet in der Scheune einen vierspännigen Leiterwagen bereit, um am Tage der Kriegserklärung ausreißen zu können, so weit die Gäule laufen!«

»Na, dann wissen wir ja genug«, sagte der dicke Freiherr von Lindemann, und der kleine Majoratsherr von Groß-Heinrichsdorf tauschte mit dem ältesten Sohne einen trostlosen Blick. Die letzte Hoffnung war gescheitert, und da erschien es für die Zukunft der Familie ziemlich gleichgültig, ob in dem alten Herrenhause die Russen ihren Einzug hielten oder der Sequester, der dem sogenannten Besitzer jeden Bissen im Munde nachrechnete und das seiner Ansicht nach Überflüssige für die Gläubiger einheimste …

Annemarie trat zu der Gruppe der Herren, bat zu Tisch und entschuldigte den Vater, der sich von seinem Unwohlsein leider noch immer nicht ganz erholt hätte. Es gab ein schweigsames Mahl, und nach dem Kaffee rüsteten die Gäste sich schon zum Aufbruche. Das Foucarsche Ehepaar mit dem zukünftigen Erben von Kalinzinnen fuhr zuletzt ab. Der Oberst Wegener blieb allein zurück. Er hatte noch drei Stunden Zeit und mochte die Heimat nicht verlassen, ohne den Weg zum Herzen des alten Jugendfreundes gefunden zu haben, der ihm an der Seele mehr krank zu sein schien als am Körper.

Er steckte sich eine Zigarre an und schritt durch die verschwiegenen Wege des großen Parkes … Die Bäume ringsum waren in den letzten zwanzig Jahren gewaltig gewachsen. Was damals ein niedriges Fasanengehege gewesen war, stand jetzt als ein mächtiger Tannenhorst. Unter der Allee von Linden, die zu jener Zeit kaum notdürftigen Schatten gegeben hatte, ging man heute wie in dem Kreuzgange eines hochgewölbten Domes. Nur am letzten Ende die kleine Lichtung mitten unter uralten Kiefernstämmen, die längst überständig waren, hatte sich nicht geändert. Kärgliche Grashalme wuchsen zwischen grünen Moosplacken. Dort neben dem runden Findlingsstein hatte damals der Baron von Totberg gestanden, hier neben dem Wacholderstrauch der Premierleutnant Adalbert von Gorski. Im Schloß aber riß sich eine die Haare, ungewiß, für wen sie beten sollte … Wo waren die Zeiten, und wo mochte die sein, die damals so hart gezüchtigt wurde? Daß sie den Widerhall des Schusses hören mußte, der ihren buhlerischen Liebsten aus dem Leben riß …

Er wandte sich zum Rückwege, um den Diener Feyerabend zu suchen, der ihm Bescheid bringen sollte, ob der Herr für ihn vor der Abreise noch zu sprechen wäre. Und er schrak heftig zusammen, denn der, an den er gedacht hatte, stand leibhaftig vor ihm, die mächtige Gestalt schwer auf einen starken Eichenstock gestützt. Über das eingefallene Gesicht ging ein müdes Lächeln.

»Ich hatte mir ungefähr gedacht, wo ich dich finden würde, wie der Feyerabend mir sagte, du wärest noch hier geblieben und in den Park gegangen. Der Platz da ist sehr lehrreich … ich besuche ihn fast jeden Tag, wenn das kaputte Herz mir das Gehen nicht zu einer saueren Arbeit macht. Da stehe ich denn eine ganze Weile lang, schärfe und putze meinen alten Haß, bis er wieder spiegelblank ist, und das hilft mir besser als alle Mixturen und Tropfen, die mir irgendein gelehrter Doktor verschreiben könnte!«

Der Oberst Wegener faßte ihn unter den Arm und führte ihn mit mildem Zwang die Lindenallee zurück.

»Adalbert, ich stand damals als dein Sekundant auf zehn Schritte rechts von deinem Gegner. Ich weiß mich noch genau zu entsinnen, wie ich vor ingrimmiger Freude fast aufschrie, als er endlich deine Kugel hatte. Der Bube, der, wegen eines flüchtigen Nervenkitzels vielleicht, dein Glück zerbrochen hatte. Und da ich auch als dein Trauzeuge neben dir gestanden hatte, wußte ich, wie groß das Glück gewesen war …«

Herr von Gorski machte eine ungeduldige Bewegung.

»Wozu die Einleitung, Franz? Hast du mir was zu sagen?«

»Leider nur sehr was Banales! Daß keine Wunde sich schließen kann, wenn man immerfort in ihr herumbohrt, und – wenn du mich schon herausforderst – daß Männer keine hysterischen Frauenzimmer sein dürfen! Für alles gibt es eine zeitliche Grenze, auch für den tiefsten Schmerz. Und ich muß sagen, ich verstehe dich nicht! Du hattest dich mit deinem Schicksal doch schon ganz leidlich abgefunden?«

»Ganz recht, und was folgt daraus?«

Der Oberst Wegener wurde ärgerlich.

»Schwerenot, daß du dich auch jetzt wieder zusammenreißen mußt! Einundzwanzig Jahre ist die leidige Geschichte jetzt her …«

»Zweiundzwanzig!«

»Na schön, und bei mir vierzehn, seit man mir meine ertrunkenen beiden Buben vom Ordensburger See nach Hause brachte. Der Älteste wollte ein im Eis eingebrochenes Tagelöhnerkind retten, ging sofort unter, der Kleine, ein Knirps von acht Jahren, sprang ihm ohne Besinnen nach. Er konnte den Bruder nicht mehr fassen, und als er sich zurückarbeiten wollte, brach das von der Flußströmung zerfressene Eis vor ihm weg … Als es ihn wieder getragen hätte, hatte er keine Kraft mehr, sich hinaufzuschwingen. Da holte der kleine Held sein Notizbuch aus der Brusttasche, stützte sich mit beiden Armen auf das Eis und kritzelte mit blutender Hand: ›Schrei immer Hilfe, Pappi, aber kein Mensch hört, ich tret' Wasser, aber lang' halt' ich's nicht mehr aus, so kalt, ade Mutti, der Franz schon tot.‹. Da hab' ich gebrüllt wie ein Vieh und ein paar Monate lang geglaubt, ich könnt's nie in meinem Leben verwinden. Na, und jetzt? Wenn mir meine gute Malwine an dem schweren Gedenktage wieder mal Vorwürfe macht, ich hätte damals gegen ihren Widerspruch den Jungen das Schlittschuhlaufen erlaubt – sie kann's trotz allen Bitten nicht lassen –, ja, dann geh' ich still aus dem Zimmer und bin stolz, daß die beiden Burschen wie Helden gestorben sind! Denk' nur mit stiller Wehmut: Lieber Gott, hätt'st du sie mir am Leben gelassen, was wären das für ein paar preußische Offiziere geworden, und setz' mich an die Arbeit.«

Herr von Gorski drückte seinem Vetter die Hand.

»Hast recht, Franz, ich muß mich mehr zusammennehmen! Aber, wenn man so mutterseelenallein in dem alten Steinkasten sitzt …« Er brach ab, denn er fühlte selbst, wie wenig überzeugend sein Entschuldigung klang. Und der Oberst Wegener hob argwöhnisch den Kopf. Er spürte deutlich, daß der andere sich vor ihm zuschloß.

»Das ist doch nur eine lahme Ausrede, Adalbert! Du hast eine Familie, in der für dich zu jeder Zeit ein molliger Großvaterstuhl bereitsteht! Statt es dir in dem so recht bequem zu machen, sperrst du dich hier ein! Und was willst du alter Krümper eigentlich noch vom Leben? Vielleicht irgendein überschwengliches Glück? Ist es nicht Glück genug, so einen herrlichen Menschen wie deine Annemieze zur Tochter zu haben? Ein Frauenzimmer, nach dem ich – wär' ich der liebe Gott – alle Mädels in deutschen Landen zuschneiden würde! Na, und dein Schwiegersohn Foucar? Noch heute tu' ich mir was drauf zugute, ihn hierher geschickt zu haben! Ich gestehe es offen, schon damals mit der gleisnerischen Hoffnung, mir vielleicht einen Kuppelpelz zu verdienen. Gleich in den ersten Wochen, wie er in meine Abteilung kommandiert war, fiel er mir auf … ich mußte immer denken: ›So wären vielleicht mal deine Jungens geworden, wenn der liebe Gott sie dir am Leben‹ – na ist gut! Also ich habe ihn sehr sorgfältig beobachtet, ehe ich ihn mir einheimste, diesen prachtvollen, gerade gewachsenen Menschen …«

»Der mit einer verheirateten Frau ein Verhältnis hatte«, warf Herr von Gorski bitter ein. Der Oberst Wegener aber lachte schallend auf und stemmte die Arme in die Seiten.

»Adalbert, bist du auf deine alten Tage denn ganz verdreht geworden? Junge, Junge, muß ich dich dran erinnern, wie du als Fähnrich mich immer besuchen kamst, wenn ich nicht zu Hause war? Dafür aber meine dralle Wirtin, Frau Klempnermeister Sobotka? Soviel ich mich erinnern kann, auch verheiratet …«

»Na ja, als Fähnrich …«

Der Oberst Wegener zuckte mit den Achseln.

»Mein Lieber, da gibt's keinen Unterschied, wenn man sich auf das hohe Moralroß schwingt! Dein Schwiegersohn aber, als er mich mit Annemarie in Berlin besuchte, hat mir die Geschichte erklärt. Zu dieser Frau Rheinsteiner, -thaler oder -bacher – genau hab' ich den Namen nicht behalten – ist er gekommen wie der Gaul zur Bremse. Er hat sienicht gesucht, sondern sie ihn!Und daraus willst du ihm einen Strick drehen?«

Herr von Gorski seufzte auf.

»Lassen wir die Erörterungen, lieber Franz, es hat ja doch keinen Sinn, all das wieder aufzubuddeln. Geschehenes läßt sich nicht mehr ändern.«

»Na schön, wenn du in deinem ganz persönlichen Kram nur ebenso denken wolltest …«

Sie waren an einen freien Platz im Parke gekommen, der von niedrigen Tannen umrahmt wurde. Eine Bank unter einem alten Nußbaum lud zum Ausruhen ein, zwischen Buchweizen und Haferstauden scharrten Fasanen und Perlhühner. Auf einem saftigen Wiesenstück ästen zwei Rehe, Bock und Ricke. Als Herr von Gorski sich auf der Bank niederließ, kamen sie näher, die Ricke vertraut, der Gehörnträger mit vorsichtigem Stechtritt und den Kopf hoch aufgeworfen, weil ihn die Witterung des Fremden störte.

Der alte Herr holte aus der rechten Jackettasche ein paar Stücke Zucker, aus der linken streute er Weizenkörner. Da kam auch das Böcklein gelaufen, die Fasanen und Perlhühner rannten herbei, es gab ein plusterndes Gedränge, Scharren und emsiges Picken, die beiden Rehe nahmen den Zucker aus der flachen Hand. Als Herr von Gorski mit den Achseln zuckte und wie zu kleinen Kindern sprach, schob die Ricke den feinen Kopf in seine Rocktasche, holte das letzte Stück Zucker heraus und hielt es mit dem schmalen Äser einen Augenblick lang in die Höhe, als wenn sie sagen wollte: »Siehst du, ich hab' doch was gefunden.« Der alte Herr stäubte sich die Weizenspelzen von den Händen und schrie laut: »Nu aber macht fort, Gesindel!« Doch es half nicht viel. Die Fasanen duckten nur den Kopf ins Genick, das Böcklein aber senkte das Gehörn, als sollte jetzt ein lustiges Kampfspiel anheben.

Herr von Gorski wandte sich zu seinem Gaste.

»Nämlich manchmal, wenn ich gut aufgelegt bin, spiel' ich Hutzebock mit ihm, laß ihn gegen meinen Arm rennen. Und das kleine Volk da ist meine einzige Freude, es heuchelt nicht. Wenn es merkt, daß mein Futter wirklich zu Ende ist, rennt es wieder fort. Die Ricke da aber ist ein ganzer Racker. Fünf Jahre kenne ich sie jetzt schon, aber keine Spur von moralischem Empfinden! Jedes Frühjahr rückt sie mit einem neuen Spießböcklein an, ist zärtlich zu ihm – bis der Hochsommer kommt! Da tändelt sie mit irgendeinem anderen, der stärker ist und ihr besser gefällt … na schön … wie sagt Fritz Reuter? Dat is all, as dat Ledder is …«

Der Oberst Wegener hob unwillig die Hand, so daß die in der Nähe sitzenden Fasanen ein Ende weit fortrannten.

»Weißt du, Adalbert, ich glaubte, es wäre bei dir mit leichtem Zureden zu schaffen, aber jetzt … also ich pflichte jetzt dem braven Lindemann bei, der mir im Vertrauen mitteilte, seiner Ansicht nach hättest du oben einen Knacks weggekriegt! Das ist ja ganz nett, daß du dich hier mit all dem Viehzeug als Fasanenvater frisierst, aber meiner Ansicht nach hättest du ein besseres Spielzeug! Mensch, Adalbert, wenn mir Gottes Gnade einen solchen Enkel beschert hätte – elf Pfund wiegt er schon, sagte mir heute die Annemarie –, ich würde mich von der Wiege nicht fortrühren und immerzu Killekille machen! Wie er heute bei der heiligen Taufhandlung losbrüllte, schossen mir die Tränen in die Augen vor gerührtem Lachen. Genau so hast du vor jenen fünfzig Jahren das Maul zu einem runden Loch aufgerissen, wenn ich dich verhaute, weil ich stärker war. Du warst drei und ich fünf, aber ich besinne mich noch so deutlich … in solchen Augenblicken fallen wohl etliche Schleier, die vor der Erinnerung liegen … Ich konnte dem alten Pastor Stury gar nicht mehr andächtig zuhören, weil ich dich immer in dem Steckkissen liegen sah.«

In den erloschenen Augen des alten Herrn blitzte es für eine Sekunde freudig auf. Gleich danach ließ er die Lider wieder sinken und fragte argwöhnisch: »Diese Ähnlichkeit hast du ganz von selbst rausgefunden? Niemand hat dich darauf aufmerksam gemacht, in der stillen Hoffnung, du könntest mir's wiedersagen?«

Der Oberst Wegener schrie fast auf. Die Erkenntnis, woran sein alter Freund und Vetter litt, schlug ihm wie ein Blitz in die Seele.

»Adalbert! … Aber das ist ja ganz verrückt … Ich war doch selbst dabei, wie … na also, wie die beiden sich hier auf 'nem Kasinoball zum erstenmal sahen und kennenlernten, der Baron Totberg und deine Frau! Da war – also es ist scheußlich, überhaupt so etwas zu erörtern –, aber da war doch die Annemarie schon mindestens ein Vierteljahr auf der Welt!«

Herr von Gorski zog seine Brieftasche und nestelte ein Papier heraus. Es fühlte sich fettig an, war die Photographie eines Briefes.

»Da lies!« sagte er heiser. »Aber, bitte, acht' genau auf das Datum!«

»Na ja, ist gut«, erwiderte der Oberst. Er hielt das Blatt in der Entfernung eines Flintenlaufes von den weitsichtigen Augen. Außerdem fing das Licht an auszugehen, hinter den niedrigen Tannen der Fasanerie lag nur noch ein schwacher rötlicher Schimmer. Der Brief aber lautete:

»Berlin, 14. November 91..

Geliebter, ich sterbe! Gestern bist Du von mir gegangen, heute muß ich die Umarmungen eines anderen dulden. Weil ich ein armes Hascherl bin und er ein reicher Plebejer – trotz seines adeligen Namens. In zwei Stunden ist die Trauung, meine Mutter sitzt neben mir. Den Brief hat sie mir erlaubt, aber sie hält mich am Rock, daß ich mich nicht aus dem Fenster stürze. Die Reise geht über Nizza in die Verbannung. O Sascha, wie soll ich dort leben ohne Dich? Gibt es keinen Weg, der Dich zu mir führt? Ich küsse Deine lieben Augen und Dein Herz.

Alexandra.«

Der Oberst Wegener gab das Blatt zurück und fuhr sich über die Stirn.

»Aber das ist ja ganz verrückt! Das würde doch heißen, daß deine Frau mit dem Baron Totberg schon vor eurer Hochzeit …«

Herr von Gorski barg das Papier sorgfältig wieder in der Brieftasche. Um seine bärtigen Lippen irrte ein wehes Lächeln.

»Such' nach keinem Ausdruck, lieber Franz, in der Sache selbst sind wir uns wohl einig! Du, vor jenen vierzehn Jahren, hast gewußt, daß du zwei von deinem eigenen Fleisch und Blut begrubst. Aber ich? Da ist ein Kind zur Welt gekommen, von dem der alte Pfarrer sagte, ich müßte mich freuen als Großvater, und du behauptest, es sehe mir ähnlich. Ich aber trage den Brief da in der Tasche, die Zweifel krallen sich mir ins Herz, und da bin ich vorhin eben zusammengesackt, ließ mich geduldig fortführen. Oder hätte ich vielleicht schreien sollen: ›Hören Sie auf, Herr Pfarrer, sonst muß ich auch meine Stimme aufheben. Hier in dem sauberen alten Haus ist für einen Bastard kein Platz'?‹«

Der Oberst Wegener hatte den Kopf zwischen die Schultern sinken lassen.

»Wann und von wem hast du denn den Brief bekommen?«

»Vor etwa zwei Monaten, hier aus der Stadt, anonym und ohne jedes Begleitschreiben. Das zeitigte auch meinen Entschluß, mich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen!«

Der Oberst legte seinem alten Freund den Arm um die Schulter und zog ihn näher an sich.

»Komm mal her, Bertchen … Den Brief jetzt beiseite! Oder vielmehr angenommen, er enthielte die Wahrheit! Zweiundzwanzig Jahre hast du ein Kind besessen als dein eigenes, es war dein Trost und Sonnenschein, dein Labsal in trüben Stunden. Seine Liebe zu dir war so echt, wie nur je die Liebe eines Kindes sein kann, und du hast teil an ihm nicht nur, sondern bist sein echtester Vater. Denn du hast dieses Kind erzogen, all die edlen Triebe, die in ihm waren, zu schönster Entfaltung gebracht. Und da willst du dir dieses Besitztum rauben lassen durch ein dreckiges Stück Papier? Zerreiß es in tausend Stücke und schmeiß es in den Schmutz, aus dem es geboren ist …«

Herr von Gorski schüttelte den Arm ab, der sich um seine Schulter gelegt hatte, und stand auf.

»Sehr schön, lieber Franz, aber so viel Seelengröße bring' ich nicht auf. Ich kann einfach nicht! All das, was ich hier drinnen mir in den letzten Jahren wieder aufgebaut habe, ist kaputt. Und wie ich den Kleinen zum erstenmal in seiner Wiege liegen sah, würgte es mich am Halse. Den Kerl selbst hab' ich damals ausgelöscht, seine Brut blieb zurück. Und da soll ich mit sehenden Augen es zulassen, daß sich hier mal sein Enkel 'reinsetzt?«

Oberst Wegener faßte sich an die Stirn.

»Aber das ist ja verrückt! Zwei alte Menschen wie wir lassen uns von so einem Wisch ins Bockshorn jagen? Wer sagt uns denn, daß das Papier da echt ist?«

»Wie denn? Von einem nicht existierenden Brief kann man doch keine Photographie abnehmen?«

»Mein lieber alter Junge, hast du eine Ahnung, was heutzutage alles möglich ist? Mit dem lieben Sonnenlicht, von dem es sonst ja heißt, daß es alle Wahrheit an den Tag bringt, werden die raffiniertesten Fälschungen verübt!«

»Aber das hier ist unverkennbar die Handschrift meiner Frau!«

»Ganz recht, aber solange man mir nicht das unzweifelhaft von ihr geschriebene Original vorlegt, beweist mir die Photographie gar nichts. Gib mir ein halb Dutzend harmlose Briefe von dir, und ich will dir nach ein paar Tagen den Abzug eines Schriftstückes bringen, in dem du dich selbst der ärgsten Verbrechen bezichtigst!«

Herr von Gorski schüttelte den Kopf.

»Du willst mir's ausreden! Aber wer in aller Welt sollte ein Interesse daran haben, einen solchen Abzug mühselig anfertigen zu lassen?«

»Wer? Na sicherlich derselbe Kerl, der ein Interesse daran hatte, ihn dir in die Hände zu spielen. Oder vielleicht ein Frauenzimmer … Und jetzt entschuldige! Ich hab' es bisher immer vermieden, dich zu fragen, was nach der Scheidung damals aus deiner Frau geworden ist – Leute, die so schon schwer genug zu tragen haben, soll man nicht durch unnütze Neugier quälen. Aber jetzt möchte ich's wirklich wissen …«

»Sie lebt noch immer! Kümmerlich bei Verwandten von mir in Riga, bei den Sickenbergs. Ich hab' sie dort untergebracht, unterstütze sie natürlich, damit sie nicht gerade Not leidet, und von Zeit zu Zeit kriege ich einen Jammerbrief von ihr, ich möchte ihr doch verzeihen. Der letzte kam vor einem Vierteljahr. Ich habe – wie üblich – nicht darauf geantwortet, sondern mich darauf beschränkt, ihr wieder einmal Geld zu schicken.«

Der Oberst Wegener sprang lebhaft auf.

»Mensch, Adalbert, und da bist du mit dem Wisch nicht sofort in den nächsten Zug gestiegen und hast sie gestellt: ›Hier lies, und jetzt gesteh', hast du das mal geschrieben?‹«

Herr von Gorski hob müde die breiten Schultern.

»Wozu? Sie hätte selbstverständlich geleugnet! Ich aber wäre genau so klug gewesen wie jetzt. Und nun wollen wir's lassen, lieber Franz! Du meinst es gut, ich weiß es, aber ich kann im Augenblick nicht mehr. Die Aufregungen haben aus mir einen Waschlappen gemacht. Das kleine Maschinchen hier drinnen hat 'nen Knacks gekriegt. Und die Nächte, in denen man schlaflos liegt, geben einem ganz den Rest. Weißt du, da lernt man manches verstehen, wobei man sich früher nichts gedacht hat … Besinnst du dich zum Beispiel noch darauf, wie wir mit dem alten Professor Wilutzki auf Prima die Edda lasen?«

»Natürlich! Er hatte eine geradezu glänzende Methode, uns mit der sogenannten Syntax die Dichtung genau so zu verekeln wie die Ilias …«

»Ganz recht, aber was wollte ich doch eben sagen? Ja richtig, da gibt es in der Edda den Sang von der Strafe Lokis. Die Götter hatten ihn gefangen und schmiedeten ihn im Reich der blassen Hel an einen Felsblock. Zu seinen Häupten aber legten sie einen giftigen Wurm, und dessen brennender Geifer tropfte ihm auf das bloße Herz. So einen Wurm hab' ich in den schlaflosen Nächten auch über meinem Lager, und ich kann mich herumwälzen, soviel ich will, sein Geifer trifft immer dieselbe Stelle. Na schön, vielleicht hat's bald ein Ende …«

Der Oberst Wegener nickte schmerzlich, mit gutem Zureden war da wenig auszurichten. Und seine Zeit war gemessen, morgen vormittag mußte er wieder im Dienst sein.

Er sah nach der Uhr. Wenn er jetzt gleich anspannen ließ, blieb ihm vor Abgang des Nachtzuges noch eine halbe Stunde, die er besser ausnützen konnte.

Herr von Gorski hatte die Bewegung gemerkt.

»Es eilt nicht so, Franz! Ich hab' mir vor 'nem Jahr in einem Anfall von Verschwendungssucht einen Viererzug Hannoveraner zugelegt. Die laufen, wenn es nötig ist, die anderthalb Meilen bis zum Ordensburger Bahnhof in dreißig Minuten, ohne ein nasses Haar zu kriegen. Wir können also noch in aller Ruhe eine gute Flasche trinken. Zum Abschied, und man kann nie wissen, ob es nicht die letzte ist.«

»Tut mir leid, lieber Adalbert, ich muß unbedingt noch den braven Harbrecht sprechen, ehe ich abfahre. Und die Flasche trinken wir ein andermal, wenn du über die Hirngespinste, mit denen du dir jetzt das Leben verbitterst, wieder lachen kannst.«

»Na denn – – also ist gut! Ich möchte dich nur bitten, wenn du wieder in Berlin bist … also du schreibst meiner Toch … du schreibst Annemarie kein Wort von dem, was wir hier gesprochen haben?«

»Selbstverständlich nicht!«

»Na ja, sie soll nicht darunter leiden, daß ihre Mutter … na schön! Mit dem Rittmeister Foucar spreche ich mich in nächster Zeit mal aus, sobald ich mich ein wenig besser fühle. Seine Frau soll mein ganzes bewegliches Vermögen erben, aber daß sein Sohn hier auf dieser Erde nicht Herr sein darf, das wird er hoffentlich verstehen.«

»Oder, wie ich ihn zu kennen glaube, nimmt er Frau und Sohn unter den Arm und schmeißt dir den ganzen Krempel vor die Füße! Und verlaß dich drauf, ich helf' ihm! Wenn's nicht Krieg gibt, was Gott verhüten möge, sorg' ich dafür, daß er nach dem Manöver in ein anderes Regiment kommt. Du aber sitzt hier allein mit deinem Wurm, läßt dir wehleidig von ihm die Leber bespucken, statt ihn um den Schlunk zu kriegen und mit dem Absatz auf den Kopf zu treten.«

Herr von Gorski hob beide Arme in die Luft und schüttelte sie mit einem verzweifelten Stöhnen.

»Franz, Mensch, Freund und Bruder, wie soll ich denn das? Der verfluchte Brief ist doch da, und wie kann ich den aus der Welt schaffen?«

Der Oberst zuckte mit den Achseln.

»Es gibt ein sehr einfaches Mittel, aber du wirst es natürlich nicht anwenden: verbrennen und nicht mehr daran denken! … Leute mit Selbstdisziplin kriegen das ganz glatt fertig.« – – –

*

Der alte Kutscher Heurich, der auf dem Kalinzinner Hofe schon mehr als vierzig Jahre diente, fuhr die vier Hannoveraner ohne Peitsche. Der neben ihm sitzende Oberst Wegener – hinten im Wagen war das reichliche Gepäck verstaut – tippte ihm auf die Schulter:

»Heurich, jetzt ist's ein Viertel vor neun, um zehn Uhr geht mein Zug, aber ich muß vorher noch zwei Besuche machen. Bei unserer Frau Rittmeister und beim Herrn Oberstleutnant. Werden wir das schaffen?«

In dem von Wind und Sonne braun gegerbten Gesicht des Alten arbeitete es, er schien angestrengt zu rechnen. Dann nickte er und schnalzte mit der Zunge. Die vier Dunkelbraunen legten sich ins Geschirr, daß er Mühe hatte, sie mit seinen eisernen Fäusten zu bändigen. Der leichte Wagen schleuderte in den Gleisen, der Luftzug der raschen Fahrt benahm den Insassen fast den Atem. Auf dem blauen Livreerocke des alten Kutschers tanzte ein Kreuz an verblichenem schwarzweißen Bande; die feine Silbereinfassung war im Lauf der Jahre dunkel geworden.

»Donnerwetter, Heurich,« sagte der Oberst erstaunt, »du hast das Eiserne Kreuz?«

Der Alte nickte wieder.

»Hatt' ich beinah' schon gar nicht mehr daran gedacht! Weil alle Leite aber reden, jetz' soll wieder Krieg werden, hab' ich wieder vorgeholt.«

»Weswegen hast du's denn damals gekriegt?«

»Wegen Patroullje mit verstorbene Leitnant Freiherr von Stauenhofen.«

»Und wo?«

»Hab' ich fergässen!«

Es ging steil bergan, der Alte zog die Zügel an, ließ die Gäule ein wenig verschnaufen. Und schwerfällig arbeitete seine Erinnerung …

»War nach eine Schlacht, wir hatten zurück gemußt, wir und Hulanen. Also es war ein großes Durcheinander, viele Offiziere tot, Leutnant Uhlenburg, Vater von jetzige Härr Rittergutsbesitzer, rangiert unsere Schwadron, an achtzig Mann haben gefehlt. Und fielen immer nach wälche, denn franzes'sche Atollrie schoß übern Bärch. Da kommt Leitnant Freiherr von Stauenhofen von Königsbärger Kirassiere, braucht sächs Freiwill'ge auf Tod und Leben. Der ganze Räst von Schwadron hat sich gemäldet, er hat ausgesucht. ›Kärls, bet' ein Vaterunser‹, sagt der Härr Leitnant, und dann sind wir losgeritten. Der Härr Leitnant hat gesagt, weil wir fästställen sollen, wieviel daß die Franzosen noch in Resärve haben. Ach du mein liebes Göttchen, Härr Oberst, haben wir da Feier gekricht! Regimänterweis haben se auf uns geschossen, franzes'sche Offiziere sind auf uns losgeritten, einen hab' ich aus'm Sattel gestochen. Zulätzt war nur ich iebrig und der Härr Leitnant; wir jagen iebers Fäld zurück, nebeneinander. ›Kärl,‹ schreit er mir ins Ohr, ›weißt du nu ungefähr, wieviel franzes'sche Regimänter wir fästgeställt habend?‹ … ›Nei,‹ schrei' ich zurick, ›keine Ahnung, Härr Leitnant!'‹ … ›Rindvieh,‹ schreit er wieder, ›wänn ich fall', is die ganze Patroullje im …‹, na, Härr Oberst können sich schon dänken, wo. Also schreit er weiter: ›Jetzt paß auf, ich werd's dir erklären …‹ Auf einmal aber sagte er so, ›blubb‹, sein ganzer Rücken wird rot, hat ihn doch so eine ferfluchte Schassepohkugel in' Puckel getroffen, und er fängt an, im Sattel zu torkeln. Na, was sollt' ich da machen? Ich hab' ihn vor mich in' Sattel genommen, heidi, wieder los, und ich hab' immer gebarmt: ›Trautstes Härr Leitnantche, bloß nich stärben! Was soll sonst aus unserer Mälldung werden?‹ Na da hat's dänn gereicht, bis wir wieder bei Unseren gewesen sind, und immer mit Blutspucken hat der Harr Leitnant gemälldet. Ein Härr Major hat alles aufgeschrieben, der Härr General hat gesagt, das wär' eine entscheidende Wichtigkeit, und der Härr Leitnant hat vor Freide ganz helle Augen gekriegt. Auf mich hat er mit der Hand gezeigt: ›Hervorragend dumm, aber sehr tapfer, Eiserne Kreiz‹ – und er ist gestorben … Alle Härrn Offiziere haben geweint, auch ich, und hernach sind die Mälldereiter bloß so gepräscht nach allen Seiten …«

Der steile Berg war überwunden, es gab wieder flache Bahn, und der Alte brauchte gar nicht erst mit der Zunge zu schnalzen. Die vier Hannoveraner fielen ganz von selbst in den langen Trab, der so mühelos aussah, aber mehr Boden schaffte, als bei anderen Gäulen ein Galopp …

Der Oberst Wegener mußte bei dem scharfen Luftzuge die Hand vor den Mund halten. Auch in die Augen war ihm anscheinend etwas geflogen, denn er hatte sich mit dem Taschentuch über die Wangen fahren müssen …

»Heurich,« sagte er laut, »sind die Gäule schon mal unterm Sattel gegangen?«

»Befehl, Härr Oberst, und ich hab' sie zugeritten! Tiptopf, hat unser gnä'ges Fräulein, vielmehr wollt' ich sagen, unsere Frau Rittmeister, gesagt. Der alte gnäd'ge Härr kimmert sich ja um garnuscht mehr …«

»Na, denn – wenn's wirklich losgehen sollte – reservier' mir den rechts hinten. Das scheint ja ganz was Hervorragendes zu sein!«

Der Alte versammelte die Zügel in der Linken, kratzte sich mit der Rechten hinterm Ohr.

»Härr Oberst, wann das man noch gehen wird! Die sind nehmlich schon angemustert, fier die fünfte Schwadron. Der, wo Härrn Oberst aufgefallen is, fier unsern Härr Rittmeister als Resärvepferd, die beiden vorne für meine beiden Jungens, und der Schwerste links für mich. Weil ich doch nu jetzt ein paar Fundche mehr wieg' wie im Jahr Siebzig!«

»Was, Alter, du würdest auch noch mitgehen?«

»Aber sälbstverständlich, Herr Oberst! Is auch schon alles ausgemacht mit unserm Härr Rittmeister, und weil die Frau Rittmeister zu mir gesagt hat: ›Heurich, du paßt mir auf, daß meinem Mann nuscht passiert!‹ Und meine beiden Jungs, wo doch eben erst ausgedient sind, also wenn Patroullje gibt und so, da sollen sie sich doch verlassen können, was sie unterm Sattel haben.«

Da mußte der Oberst Wegener auflachen. Solange in deutschen Landen noch solche Gesinnung wuchs, gab es keine Gefahr – – –

In dem kleinen Häuschen vor dem Deutschen Tore, das der Rittmeister von Foucar auch nach seiner Verheiratung bewohnte, brannte Licht. Friedlich schien es aus den niedrigen Fenstern auf den grünen Rasen und die fruchtbehangenen Obstbäume, die in diesem Jahre noch reichlicher angesetzt hatten als sonst.

Als auf der Chaussee der Wagen vorfuhr, trat das Ehepaar Foucar in die Haustür. »Nanu,« sagte Frau Annemarie verwundert, »das sind doch unsere Hannoveraner?« … Gleich danach lief sie mit einem Jubelruf dem aussteigenden Gaste auf dem kiesbestreuten Gartenwege entgegen.

»Aber nein, Onkel Franz! Und daß du dir die Zeit nimmst, bei uns noch vorzusprechen?«

Der Oberst Wegener lachte, trotzdem ihm beklommen genug ums Herz war.

»Hattest du denn geglaubt, dein alter, unglücklicher Verehrer könnte fortfahren, ohne dir noch mal in die blauen Äugelchen geguckt zu haben?« Er begrüßte den Rittmeister von Foucar und gab ihm unauffällig einen leichten Schubs in den Rücken, zum Zeichen, daß er ihn allein sprechen müßte. Und der hatte natürlich schnell begriffen.

Als sie in der kleinen Wohnstube standen, die Annemaries sicherer Geschmack zu einem behaglichen Nest gestaltet hatte, fragte er: »Verehrter Onkel Wegener, haben Sie Durst?«

»Aber mächtig! Ich hab' auf der Fahrt so viel Staub geschluckt … also eine leichte Röte möchte ich bitten. Und – wenn ich dir, Annemarie, keine Umstände mach' – ein paar Brötchen auf die Reise! Die Nacht ist lang, und so reichlich das Diner in Kalinzinnen war, ich hab' jetzt schon Hunger.«

Frau Annemarie lachte, daß ihre weißen Zähne blitzten.

»Onkel Franz, wenn eure Pläne im Generalstab nicht besser sind als dein strategischer Vorstoß eben, mich aus dem Zimmer zu schustern …«

»Aber was fällt dir denn ein, Kleinchen?« …

»Gott, ich durchschau' dich doch! Du willst meinen kommandierenden Herrn Gemahl schonend darauf vorbereiten, daß es in ein paar Wochen unweigerlich Krieg gibt. Das wissen wir auch ohne dich. Weil die Russen fertig sind und zum Winter mit unseren Damen vom Kurfürstendamm in Berlin Kosak tanzen möchten. Vorher werden wir ihnen aber hier an der Grenze ein bißchen Musik dazu machen.«

Sie schloß hinter sich die Tür. Der Oberst Wegener wischte sich die Stirn.

»Gott sei Dank, sie hat keinen Schimmer, weshalb ich eigentlich hier bin … na also, die Zeit drängt, ich kann keine langen Einleitungen machen. Foucar, haben Sie eine Ahnung, daß Annemaries Mutter noch lebt?«

Der Rittmeister hob ein wenig überrascht den Kopf.

»Sehr wohl, Herr Oberst. Ich kenne auch die ganze unglückselige Scheidungsgeschichte.«

»Und Sie haben sich vor Ihrer Frau niemals was merken lassen?«

»Das wäre doch ein Frevel gewesen! Kann sie was dafür, daß ihre Mutter sich in einer Leidenschaft verlor, über die wir kein Urteil haben? Weil wir die beiden Menschen, die es allein anging, nicht kennen?«

Der Oberst schüttelte ihm die Hand.

»Bravo, mein Junge, hatte ich nicht anders erwartet! Aber jetzt … es ist da eine Schweinerei passiert, deren letzten Grund ich mir nicht erklären kann. Ihr Schwiegervater hat 'nen Brief gekriegt, oder vielmehr 'nen photographischen Abzug, und aus dem geht für ihn hervor, daß der Baron Totberg Annemaries Mutter nicht erst hier in Ordensburg kennengelernt hat, sondern schon früher. Daraus zieht er Schlußfolgerungen, die – na, die ebenso bedauerlich als verrückt sind. Ich kann Ihnen in der Eile nicht erklären, weshalb ich den Brief oder vielmehr die Photographie für eine Fälschung halte. Und da möchte ich Sie fragen, ob nicht vielleicht das Frauenzimmer wieder am Werk ist, das schon vor 'nem Jahr …«

Der Oberst Wegener lachte plötzlich schallend auf. Denn er hörte hinter seinem Rücken eine Tür gehen.

»Das sieht ihm ähnlich, dem guten Harbrecht! Na, und mein Neffe Karlchen machte natürlich ein möglichst unschuldiges Gesicht?«

Der Rittmeister von Foucar lachte ebenfalls, trotzdem er ein Gefühl in der Brust verspürte, als wenn ihm eine eisige Faust das Herz zusammenquetschte. Und er log mit …

»Ja, aber in diesem Falle half es ihm nichts. Er flog unweigerlich auf drei Tage … ach so, du bist schon wieder da, Annemarie?«

Frau von Foucar stellte eine geöffnete Flasche Rotwein mit zwei Gläsern auf den Tisch und blickte mißtrauisch von einem zum andern.

»Dazu habt ihr mich rausgeschickt, um euch über dumme Streiche von Karlchen Gorski zu unterhalten?«

Der Oberst faßte sie um die Schulter.

»Nee, mein Herzchen, mit der Hauptsache warteten wir auf deine Rückkehr. Dein Mann ist einverstanden, und es wird nur auf dich ankommen. Aber ich meine, wenn du an deinen Jungen denkst, wirst du's auch am vernünftigsten finden …«

»Na was denn schon?« drängte Annemarie.

»Also, daß du mit dem Kleinen zu uns nach Berlin kommst! Platz ist genug da, und wenn's wirklich losgehen sollte, dürfte es hier in Ordensburg doch recht ungemütlich werden …«

Frau Annemarie trat neben ihren Gatten.

»Onkel Franz, das meinst du doch nicht im Ernst, daß ich von meinem Manne fortgehen könnte, wo ich nicht weiß, wie lange ich ihn noch haben werde. Und wenn Gaston ins Feld rückt, ist mein Platz doch neben meinem Vater. Wo er durch seine Krankheit so teilnahmslos ist, muß eins wenigstens da sein, das in Kalinzinnen nach dem Rechten sieht und die Leute in Ordnung hält!«

Der Oberst Wegener fuhr sich unauffällig über die Augenlider.

»Also schön, ich hab' meine Schuldigkeit getan.« Er schenkte ein und hob sein Glas: »Na, Foucar, verstehen Sie jetzt, daß ich Ihnen damals sagte, ich wäre in das Mädel da verliebt gewesen, wie, na wie ein alter Esel, der zwanzig Jahre zu früh auf die Welt gekommen ist? Du, mein Junge, bist der einzige, dem ich sie gönne, und jetzt komm her, stoß an! Ich hoffe, es wird nicht das letzte Glas sein, das ich mit dir leere …«

»Hoffe ich auch, Onkel Franz …«

»So ist's recht! Und jetzt lebe wohl, Annemiezel!« Er sah der jungen Frau lange und forschend ins Gesicht, als wollte er sich jeden ihrer Züge einzeln einprägen, und küßte sie herzhaft auf den Mund.

»Unsinn … das heißt,« verbesserte er sich, »ich wollte sagen, um Himmels willen nur nicht weich werden! In ein paar Wochen scheint vielleicht wieder ringsum die liebe Friedenssonne …«

Er wandte sich zum Gehen, Annemarie hielt ihn zurück.

»Onkel Franz, und die Brötchen?«

Der Oberst stopfte sich die Taschen voll.

»Richtig, hätte ich vor lauter Trennungsschmerz beinahe vergessen. Du, lieber Gaston, begleitest mich wohl noch zur Bahn, der Heurich kann dich ja zurückbringen.«

»Aber selbstverständlich, Onkel Franz …«

Die vier Hannoveraner zogen an, Frau Annemarie ging allein zwischen den fruchtbehangenen Obstbäumen zum Hause zurück. Der Argwohn kehrte wieder, daß der unerwartete Besuch mehr zu bedeuten habe als ein letztes Abschiednehmen. Aber sie hatte keine Muße, sorgenvollen Gedanken nachzuhängen. Ihr kleiner Sohn meldete sich, verlangte mit kräftigem Schrei sein Recht. Sie tränkte und bettete ihn zur Nacht, sang ihn leise in Schlaf. Und während sie die vertraute Weise des alten Wiegenliedchens summte, hob sich ihre Seele im heißen Gebet: »Herr, laß ihn mir groß werden und stark und in allem ähnlich seinem geliebten Vater!«


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