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3

Im Schützengarten, dicht vor dem sogenannten Deutschen Tore der Stadt, ging es hoch her. Dort feierte die fünfte Schwadron den Jubeltag des Regiments unter ganz besonderer Teilnahme der Zivilbevölkerung. Erst hatte es einen herrlichen Prolog gegeben, verfaßt von Herrn Leutnant Karl von Gorski und gesprochen von Frau Sergeant Wilkuweit in der Verkleidung als Germania. Den blitzenden Schuppenpanzer hatte der Klempnermeister Napiecha gratis geliefert, als ehemaliger Angehöriger der Schwadron, und er blickte mit gerechtem Stolze um sich, wenn die stattliche Germania mit der gepanzerten Faust bei den zahlreichen Kraftstellen des Gedichtes gegen die klirrenden Schuppen schlug. Vier Quadratmeter bestes Zinkblech hatte er verarbeiten müssen, denn Frau Wilkuweit hatte eine walkürenhafte Figur, in der Höhe sowohl als im Umfange. Namentlich aber in diesem.

Nach dem Prologe, der begeisterten Beifall gefunden hatte, gab es ein Theaterstück. »Minna von Barnhelm« hieß es und wurde auf besonderen Wunsch des Herrn Brigadegenerals bei sämtlichen Schwadronen gleichzeitig aufgeführt, damit die Feier ein einheitliches Gepräge bekomme. Aber ein großer Teil der Zuschauer fand es zum Auswachsen langweilig und begriff nicht recht, welchen Zusammenhang es mit dem Regimentsjubiläum haben sollte. Man lachte eigentlich nur, wenn man einen der Mitwirkenden als Angehörigen der Schwadron erkannt hatte. Erst als der allgemein geachtete Redakteur des »Ordensburger Anzeigers« laut erklärte, durch die Auswahl dieses ehrwürdigen Meisterwerkes unter den deutschen Lustspielen habe die Feier der fünften Schwadron einen im besten Sinne nationalen Charakter erhalten, wurde man sich bewußt, einen wirklichen Kunstgenuß erlebt zu haben.

Nach dem Theaterstück trat endlich »der Tanz in seine Rechte«, wie sich der Berichterstatter des »Ordensburger Anzeigers« auszudrücken pflegte, wenn er zur Winterszeit die Ballfestlichkeiten der zahlreichen Vereine im Städtchen beschrieb. Den Beginn machte eine feierliche Polonäse, angeführt vom Herrn Rittmeister von Foucar mit der hübschen Frau Wachtmeister Kegler, während der Herr Wachtmeister mit der Gattin seines Schwadronchefs das zweite Paar bildete. Es folgten die Offiziere und Unteroffiziere, jeder mit der Dame am Arm, die seinem Range entsprach, denn die Polonäse stellte eine Feierlichkeit dar, die nicht eines gewissen dienstlichen Anstriches entbehrte. Auch die Reihe der Dragoner mit ihren in weißen Fähnchen prangenden Bräuten war wie in der Schwadron nach den einzelnen Zügen rangiert, denn Ordnung mußte sein, selbst beim Vergnügen. Nur der jüngere Leutnant Gorski hatte sich natürlich wieder einmal eine Ausnahme erlaubt. Er führte die Braut seines Burschen Matthias Heurich, ein dralles masurisches Mädchen, das wegen der hohen Ehre kaum zu atmen wagte. Dieser aber wiederum, ein Schlagtot von mehr als sechs Fuß Größe, hatte das älteste Fräulein Schwester seines Herrn Leutnants am Arm. Und das gehörte sich so, denn die vier waren zusammen aufgewachsen in Groß-Heinrichsdorf, dem Majorat der Familie von Gorski. Die einen im Schloß, die andern im Kätnerhause, aber es war ganz selbstverständlich, daß sie an einem solchen Festtage einer Pflicht genügten, die ihnen mehr war als bloße Form. In den gut ostpreußischen Familien war ja die Überlieferung nicht erloschen, wie treu in jenen schweren Zeiten, da das heute feiernde Regiment noch nicht gestiftet worden war, Herr und Knecht zusammengestanden hatten …

Die Polonäse endigte in einem Walzer, der ordnungsgemäß, immer zu sechs Paaren, vom rechten Flügel beginnend, abgetanzt wurde. Und dann kam das eigentliche Vergnügen. Freibier hatte der Herr Rittmeister gespendet, daneben türmte sich ein wahrer Berg von belegten Butterbroten aus der Kalinzinner Schloßküche, und die Musik spielte unermüdlich, Walzer, Polka, Rheinländer, Steirisch. Der Boden des Tanzsaales dröhnte ordentlich unter den Hunderten von Soldatenfüßen, und von den Wänden rieselte zuweilen der weiße Kalkanstrich. Um den Kronleuchter aber entstand allmählich jenes Gemisch von Staub, verdorbener Luft und billigem Parfüm, das zu jedem rechten Soldatenball gehörte.

Unter den alten Linden des Gartens war eine lange Tafel gedeckt für die Ehrengäste der fünften Schwadron. Auf einem Nebentische stand eine Erdbeerbowle von schier unwahrscheinlichen Abmessungen, bedient von zwei Kasinoordonnanzen, die eifrig aufpaßten, daß keins der Gläser allzulange leer blieb. Und aus der Besetzung der Tafel konnte man ersehen, welcher Wertschätzung der Rittmeister von Foucar mit seiner jungen Gattin sich in der Bürgerschaft erfreute. Das ganze Landgericht war vertreten, mit dem Herrn Präsidenten an der Spitze, ein großer Teil der Stadtverordneten mit ihren Damen und viele Gutsbesitzerfamilien aus der Umgebung, die in altgewohnter Weise die gesamte Nachkommenschaft zu dem Feste mitgebracht hatten. Sogar der ehrwürdige Seelsorger der Stadt, der greise Superintendent Stury, war erschienen. Aber er beschränkte seinen Besuch auf ein kurzes Viertelstündchen, um berechtigter Fröhlichkeit nicht im Wege zu stehen. Die Mehrzahl der Festteilnehmer hatte er getauft, eingesegnet und getraut. Da ergab es sich ganz von selbst, daß man in seiner Gegenwart sich eines gesetzten Benehmens befleißigte.

Als er sich verabschiedete, gab ihm das Ehepaar Foucar bis zu der mit bunten Lampen erleuchteten Gartenpforte das Geleit. Er strich der jungen Frau, die sich über seine Rechte beugen wollte, mit einer väterlichen Bewegung über den blonden Scheitel.

»Laß gut sein, Annemarie. Morgen in Kalinzinnen werden wir mehr voneinander haben. Aber da ich heute noch ein wenig über meine Taufpredigt nachdenken möchte: wie soll denn der kleine Heide heißen, den ich morgen in die Gemeinschaft der Christen aufnehmen werde?«

»Karl Franz Adalbert Gaston.«

Der greise Seelsorger, der mit der Vorgeschichte der Foucarschen Ehe vertraut war, nickte befriedigt.

»Das ist eine gute Auswahl! Und wünsche ihm, daß er von seinen Namenspaten mitbekommt, was sie im einzelnen auszeichnet. Von unserem lieben Karl von Gorski den draufgängerischen Mut, vom Herrn Oberst Wegener den klar wägenden Feldherrnblick, von seinem Großvater den geraden und aufrechten Sinn, der ihn zu einem nacheifernswerten Vorbilde für unsere Volksgenossen macht. Den Namen seines Vaters aber soll er führen zum Andenken, daß die Wiege seines Geschlechtes inmitten eines Volkes stand, dessen bester Teil einmal mit uns von gleichem Blute war. Noch viele Fäden spinnen sich hin und her. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß es gelingen könnte, sie wieder zu einem starken Bande zu verweben, wenn dereinst die Irrtümer überwunden sein werden, die uns heute noch trennen. Daß euer Junge zu diesem Werke einmal berufen sein möge, sei morgen mein bester Wunsch!«

Der alte Herr entfernte sich mit langsamen Schritten, Gaston von Foucar versteckte seine Bewegung unter einem Scherz.

»Na, wenn der Bengel jetzt kein Genie wird? … Aber ich fürchte, sein Papa wird erst einmal helfen müssen, die Franzosen so gründlich zu verhauen, daß ihnen die Liebe zu uns vom anderen Ende eingeht. In den Köpfen sieht's wieder mal verdammt wüst aus …«

Annemarie sah, daß seine blauen Augen in feuchtem Glanze schimmerten. Sie schlang ihre Arme um ihn und drängte ihn aus dem hellen Lichte in den Schatten.

»O du! … Sag: Kannst du es dir eigentlich vorstellen, daß wir einen Jungen haben?«

Er lachte: »Ich merke es seit vier Wochen! Nicht nur, weil der unverschämte kleine Lümmel mich aus deiner Nähe verbannt hat … auch sonst macht er sich unliebsam bemerkbar. Immer weckt er mich durch sein Gebrüll eine Stunde zu früh aus dem Schlaf. Und ich muß hungrig dabeisitzen, während er sich mit einer Selbstverständlichkeit satt trinkt, als wenn sein Herr Papa überhaupt nicht auf der Welt wäre!«

Sie hob sich auf den Zehenspitzen und raunte an seinem Ohr ein zärtliches Wort. Er aber zog sie fester an sich und suchte in heißer Liebe ihren Mund. Und beider Gedanken flogen zu dem kleinen Hause vor dem Tor, das friedlich hinter fruchtbeladenen Obstbäumen versteckt lag …

Ein Auto mit mächtigen Scheinwerfern hielt vor dem Garteneingange. Sie hatten gar nicht gemerkt, daß es gefahren kam, und traten ein wenig verlegen ins Helle zurück, unsicher, ob man sie von der Straße aus gesehen hatte …

Der Landrat von Döhlau half seiner Gattin aus dem Wagen und schüttelte dem Rittmeister die Hand.

»Verzeihen Sie, wenn wir stören sollten, aber Herr Leutnant von Gorski war so liebenswürdig, uns einzuladen. Ich hoffe, Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin werden die Gastfreundschaft, die ich kürzlich in Ihrem Hause genießen durfte, auch auf meine Frau übertragen …«

»Aber von Herzen gern …«

Annemarie streckte der kleinen Frau die Hand entgegen. Nur die leichte Überraschung, daß diese sich auch für den Abend so unpassend wie möglich angezogen hatte, spiegelte sich in ihrem beweglichen Gesicht.

»Willkommen bei unserem bescheidenen Festchen«, sagte sie, aber konnte sich nicht enthalten, dem Gatten einen raschen Blick zuzuwerfen. In einem tief ausgeschnittenen weißen Chiffonkleid war Frau von Döhlau erschienen. Um ihre schmalen Schultern hing ein mit Hermelin besetzter Seidenüberwurf, und in dem sorgfältig frisierten Haar prangte ein ausgesucht kostbarer Paradiesvogel an blitzender Brillantagraffe. Bei der leichten Verneigung schmiegte sich das spinnwebdünne Kleid an ihren schlanken Körper. Wie ein hübscher, in Frauenröcke gesteckter Junge nahm sie sich aus. Sie hatte den kritisierenden Blick verstanden und netzte sich mit der Zunge die rotgetönten Lippen.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau, erst an Ihrer Toilette sehe ich zu meinem Entsetzen, daß ich wieder einmal ein Verbrechen gegen die strenge Ordensburger Etikette begangen habe! Wenn Sie Wert darauf legen, fahre ich schnell nach Hause und ziehe mir mein allereinfachstes Straßenkleidchen an.«

Annemarie fühlte die wohlberechnete Spitze, aber sie besaß viel zuviel Gerechtigkeitssinn, um nicht sofort einzulenken.

»Das Unglück ist nicht zu groß, gnädige Frau. Mit der Zeit werden Sie ja selbst einsehen, daß es bequemer ist, in einfacher Umgebung nicht allzu auffallend zu wirken.«

Herr von Döhlau bot Frau von Foucar den Arm, um weitere Auseinandersetzungen abzuschneiden. Und während sie durch die lange Lindenallee zum Festplatze schritten, sagte er in ehrlicher Betrübnis: »Es ist trostlos, gnädige Frau! Die ganze Zeit über hatte ich gehofft, zwischen Ihnen und meiner Gattin könnte sich ein freundschaftliches Verhältnis entspinnen. Gerade von Ihnen hätte sie soviel lernen können, und jetzt natürlich ist die Sache gleich im ersten Zuschnitt verdorben.«

Annemarie lachte herzlich.

»Weil wir uns ein paar kleine Spitzfindigkeiten gesagt haben? Das muß man nicht tragisch nehmen, wir werden uns schon wieder vertragen! Und Ihre liebe Frau hat sich doch nicht in böser Absicht so ›schön gemacht‹, sondern nur für Sie.«

Er nahm ihre auf seinem Arm ruhende Hand, führte sie an die Lippen.

»Sie sind ein herzensguter Mensch! Und wenn es Ihnen gelingen sollte, meiner Frau auch nur einen Hauch Ihres Wesens beizubringen …«

Sie wurde unwillkürlich rot, denn in dem Handkusse hatte mehr gelegen als eine Bitte …

Gaston von Foucar führte die kleine Landratsfrau am Arm. Er mußte langsamer gehen als das voranschreitende Paar, denn sie konnte mit den hohen Absätzen ihrer ausgeschnittenen weißen Seidenschuhe auf dem holprigen Steinpflaster nur vorsichtig trippeln. Aus ihrer duftigen Toilette wehte ihn ein eigenartig aufreizendes Parfüm an, das unklare Erinnerungen in ihm weckte … Irgendwann einmal mußte er doch denselben aufdringlichen Wohlgeruch schon verspürt haben …

Sie blickte mit kokettem Augenaufschlag zu ihm empor.

»Sind Sie über meine Toilette auch so entsetzt, Herr Rittmeister, wie Ihre Frau Gemahlin?«

Er lachte gutmütig auf.

»Der Leutnant Gorski hätte Ihnen sagen müssen, daß wir heute … na, daß wir gerade keinen Hofball feiern! Aber wenn Sie von jemand, der Ihren Herrn Gemahl schon nach wenigen Begegnungen recht schätzen gelernt hat … ja also, wenn Sie einen wohlgemeinten Rat annehmen wollen, ziehen Sie sich nicht den Unwillen der hiesigen Damen zu! Es sind einige darunter, deren Einfluß reicht sehr hoch hinauf. Und da Sie doch sicherlich sehr betrübt sein würden, wenn Ihr Gatte nicht die glänzende Karriere machen sollte, auf die er Anspruch hat …«

»Selbstverständlich!«

»Na, sehen Sie, gnädige Frau, dann werden wir uns recht rasch einigen! Auch unter unseren Damen hier sind einzelne, die sich eine ebenso kostbare Toilette leisten können wie Sie. Sie tun es nicht, um ihre Mitschwestern, die in gleichem Range stehen, aber mit kärglichen Mitteln haushalten müssen, nicht zu kränken.«

»Aber um Himmels willen,« sagte sie entsetzt, »dann wäre es besser, der preußische Staat würde den Frauen seiner Offiziere und Beamten gleich eine Uniform vorschreiben!«

Er mußte lächeln.

»Wenn diese Uniform nett wäre, warum nicht? Aber der preußische Staat ist gar kein so unmenschliches Ungetüm. Er verlangt nur, daß seine Offiziere und Beamten unter all dem verweichlichenden Luxus ringsum fest und tüchtig bleiben. Und um diesen Zweck zu erreichen, appelliert er eben an die Intelligenz der Damen, die mit einem Offizier oder Beamten verheiratet sind.«

Frau von Döhlau reckte das schmächtige Figürchen ein wenig heraus:

»Mein Mann ist nicht darauf angewiesen, ängstlich zu sparen. Wissen Sie, Herr Rittmeister, was ich für eine Geborene bin? Mein Vater heißt François Eberle und ist einer der reichsten Männer von ganz Lothringen!«

»Sehr angenehm für Sie, gnädige Frau!« Und schärfer, als es seine Absicht war, fügte er hinzu: »Wenn Sie aber aus meiner Predigt keine Lehre ziehen wollen, dann … na, dann wird Ihr Herr Gemahl eben kurzerhand abgesägt werden. Weil er eine Frau geheiratet hat, die es nicht verstand, sich in den ihr gezogenen bescheidenen Rahmen zu fügen!«

In einem geschickt gespielten Erschrecken schmiegte sie sich näher an ihn, so daß er für einen Augenblick ihre ganze Gestalt an seiner Seite fühlte.

»O Gott,« sagte sie mit einem leichten Seufzer, »Sie sind ein rauher Lehrer, Herr von Foucar! Aber jetzt begreife ich, daß man sich nach der ersten Viertelstunde rettungslos in Sie verlieben kann!«

Er hob den Kopf. »Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich verstehe nicht, worauf Sie anspielen. Ich habe meine Gattin auf die nüchternste Weise der Welt kennengelernt, in der Eisenbahn. Wir fanden Gefallen aneinander und haben uns nach Überwindung verschiedener Schwierigkeiten geheiratet.«

»Ich spreche im Augenblick nicht von Ihrer Frau Gemahlin. Denken Sie mal ein wenig nach! … Kennen Sie sonst keine weibliche Persönlichkeit, auf die meine Worte eben zutreffen könnten?«

»Keine Ahnung.«

Die kleine Frau seufzte elegisch auf.

»Die Männer sind undankbar, verdienen es gar nicht, daß man sich um sie grämt! So grämt, wie die entzückendste aller Frauen, die ich vor einigen Monaten kennenlernte. Und die mich schon nach kurzer Zeit so sehr ihrer Freundschaft würdigte, daß sie mich zur Vertrauten ihres Kummers machte.«

Der Rittmeister von Foucar wußte plötzlich, weshalb ihm das Parfüm so bekannt vorgekommen war, das die kleine Landratsgattin in ihren Kleidern trug. Er blickte auf das vorangehende Paar, ob seine junge Frau von der Unterhaltung eben etwas vernommen hätte. Seine Stimme klang ein wenig heiser.

»Hat diese Dame, von der Sie eben sprachen, Ihnen irgendeinen Auftrag mitgegeben?«

»Nicht den geringsten. Als wir uns in Paris kennenlernten, war noch keine Rede davon, daß ich jemals in eine Gegend kommen könnte, in der die Gedanken meiner Freundin öfter weilten, als es ihrer Ruhe gut ist.«

»Aber Sie stehen wohl noch immer im Briefwechsel mit ihr?«

»Natürlich! Wir sind einander aufs innigste zugetan. Ich habe ihr geschrieben, daß mein Mann hierher versetzt worden ist. Da wird wohl schon in den nächsten Tagen ein Brief kommen mit tausend Bitten und Fragen …«

»Dann, gnädige Frau,« – er atmete tief auf – »schreiben Sie ihr, ich sei sehr froh, daß ich fast ein Jahr lang von ihr nichts gehört habe. Ich gebe zu, ich habe Hoffnungen in ihr geweckt, die ich später nicht erfüllen konnte. Weshalb, wird sie am besten wissen. Und sie hat nachher dafür gesorgt, daß wir reichlich quitt wurden. Es war ein Wunder Gottes, daß ich die Niederträchtigkeit, die sie zu meiner Vernichtung in Szene gesetzt hatte, noch im letzten Augenblick zuschanden machen konnte.«

Frau von Döhlau preßte seinen Arm.

»Aber das ist ein Mißverständnis, ich schwöre es Ihnen! Ich weiß aus ihrem eigenen Munde, wie sehr sie darunter gelitten hat!«

Er zuckte mit den Achseln.

»Sprechen wir von etwas anderem, gnädige Frau! Man soll Begrabenes begraben sein lassen!«

»Und wenn nun Josephine« – sie sprach den Namen französisch aus – »den Wunsch haben sollte, Sie noch einmal wiederzusehen?«

»Um Gottes willen!«

»Fürchten Sie sich davor?«

Da blieb er stehen, gerade unter einer der Laternen, die den Weg erhellten.

»Gnädige Frau, Sie nötigen mich zu ein paar deutlichen Worten. Ich kann mir nicht denken, daß Ihre Freundin den Wunsch haben sollte, sich einer Demütigung auszusetzen und sich durch eigenen Augenschein davon zu überzeugen, wie glücklich ich ohne sie geworden bin …«

Frau von Döhlau unterbrach ihn mit einem sentimentalen Seufzer.

»Wie wenig kennen Sie das Herz einer Frau, die wahrhaft liebt! Können Sie sich nicht vorstellen, daß einem solchen Herzen eine Demütigung genau dieselbe Sensation vermitteln kann wie das höchste Glück?!«

Da mußte er auflachen.

»Nein, gnädige Frau! Aber, um die Sache zu kurzem Schluß zu bringen – die Herrschaften an der langen Tafel sehen schon neugierig herüber –, Sie denken doch nicht etwa daran, Frau Rheintaler hierher einzuladen?«

»Und wenn ich's tatsächlich beabsichtigen würde?«

»Täte es mir leid! Sie würden mich dadurch nötigen, gegen diese Störung meines Familienfriedens einige Maßregeln zu ergreifen. Zunächst Ihren Herrn Gemahl zu bitten, daß er Ihnen bei dem unvorsichtigen Umgang mit Tinte, Feder und Papier ein wenig auf die zarten Fingerchen sieht …«

»Mein Mann hat mir darin nicht das geringste zu befehlen!«

»Vielleicht tut er's diesmal doch, wenn er sieht, daß es nicht angängig ist, launenhafte kleine Frauen mit den Schicksalen ernsthafter Männer spielen zu lassen …«

Sie sprühte ihn aus zornigen Augen an.

»Herr von Foucar, als ich der Einladung Ihres Herrn Leutnants folgte, konnte ich unmöglich voraussehen, daß ich mich hier Beleidigungen aussetzen würde …«

»Das ist eine vollkommen mißverständliche Auffassung der Situation, gnädige Frau! Aber auch darüber werde ich mich besser mit Ihrem Herrn Gemahl unterhalten. Darf ich bitten?« Und er bot ihr den Arm, führte sie an die lange, Tafel unter den alten Linden: »Heda, Karlchen Gorski!«

Der Leutnant von Gorski, der gerade im Begriffe stand, der Frau Bürgermeister Wessollek ein Kompliment zu sagen, hob den Kopf.

»Herr Rittmeister befehlen?«

»Daß du dich deiner Gäste annimmst! Und wie bist du eigentlich dazu gekommen, Frau von Döhlau so anzuflunkern? Wie kannst du ihr erzählen, wir feierten hier eine höchst offizielle Angelegenheit, bei der auch unsere Damen in großer Gala zu erscheinen hätten?«

Karl von Gorski hatte nach einem raschen Blick auf die Toilette der kleinen Landratsfrau begriffen. Er machte ein höchst zerknirschtes Gesicht.

»Na, dann versuch's durch doppelte Liebenswürdigkeit wieder gutzumachen! Empfehle mich gehorsamst, gnädige Frau …!« Als der Rittmeister sich mit chevaleresker Verneigung zurückziehen wollte, fühlte er deutlich, wie er von der kleinen Hand, die er an seine Lippen zog, festgehalten wurde. Ein seltsamer Blick traf ihn aus feuchtschimmernden Augen.

»Herr von Foucar, ich danke Ihnen!« Und leise fügte sie hinzu: »Jetzt verstehe ich meine unglückliche Freundin noch besser als früher …«

Der Rittmeister von Foucar ging nach dem Tanzsaale, um nachzusehen, ob es seinen Dragonern an nichts fehlte. Es dauerte ihn schon, daß er das geputzte Persönchen hart angelassen hatte. Mit solchen Zieräffchen scherzte man wohl, aber man machte sich lächerlich, wenn man ernsthaft mit ihnen unterhandelte. Auf Vorhaltungen oder Ermahnungen antworteten sie mit dummem Zeug oder einer Phrase, die – genau besehen – eine versteckte Liebeserklärung war. Also da war es wohl besser, er legte dem Vorfall eben keine besondere Wichtigkeit bei. Seiner Frau davon zu erzählen, hatte keinen rechten Zweck. Er würde sie nur in überflüssiger Weise beunruhigen … Der angekündigte Besuch kam vielleicht gar nicht! Wenn aber doch, war es noch immer zu einer Aussprache Zeit … Schwer drückte es ihn, daß er vor seinem lieben Kameraden mit einer Heimlichkeit herumgehen sollte, aber in diesem Falle war Schweigen das Gebotene …

Als er in die Tür des großen Saales trat, war die Luft so dick, daß um die Lampen des Kronleuchters eine Art von vielfarbigem Regenbogen schwebte. Der Trompeter auf der Musikestrade blies gerade zur »Damenwahl«. Da bewegte sich eine ganze Phalanx von Dragonerbräuten auf ihn zu, um ihn zu einem Rundtanz aufzufordern. Noch nie hatte die fünfte Schwadron einen Chef besessen, an dem sie mit solcher Begeisterung hing, trotzdem er sie im Dienst zuweilen auspumpte bis auf den letzten Schweißtropfen. Dafür aber war er ihr ein Vorgesetzter von eiserner Gerechtigkeit und – außer Dienst – ein wohlwollender Freund und Berater. Jeder einzelne der Dragoner wußte, daß er bei seinem Rittmeister für eine Sorge oder begründete Beschwerde Gehör und Abhilfe fand. Und diese Verehrung hatte von der Mannschaft natürlich auf die dazu gehörige Weiblichkeit abgefärbt, herrschte dort womöglich in noch höherem Grade …

Der Rittmeister von Foucar stand vor der langen Reihe von erhitzten Mädchengesichtern, die ihn keck oder verschämt anlachten. Er strich sich den braunen Schnurrbart: »Kinderchen, ihr wollt mich wohl tottanzen?« und griff nach der Hand einer schlanken Blonden, die ihm zunächst stand. Da aber drängte sich Frau Sergeant Wilkuweit dazwischen, die noch immer den Panzer der Germania trug.

»Herr Rittmeister, die Damen der Chargierten haben doch wohl den Vorzug?«

Er fügte sich mit einem leichten Seufzer. Der Beruf eines Schwadronschefs war nicht immer angenehm! Aber während er die umfangreiche Frau Sergeant im Walzertakt durch den Saal bugsierte, vergaß er seine Sorgen. Und schmunzelnd mußte er an einen griechischen Vers aus der Tertianerzeit denken, des Inhalts ungefähr, daß die Götter vor den Lohn den Schweiß der Arbeit gesetzt hatten …

Am Ende der langen Tafel unter den alten Linden des Schützengartens, an dem die Herren saßen, wurde natürlich von der leidigen Politik gesprochen, der äußeren und inneren. Einige der Gutsbesitzer, die nur selten ins Städtchen kamen, benutzten die Gelegenheit, Herrn von Gorski auf Kalinzinnen gut zuzureden, er möge sich seinen beklagenswerten Entschluß, das Abgeordnetenmandat niederzulegen, doch noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Doch kein Zureden half. Der alte Herr blieb unerschütterlich. Als ihm die Bedrängnis zu arg wurde, stand er auf und winkte seinem Vetter, dem Obersten Wegener, mit den Augen. Danach schritten die beiden hochgewachsenen Herren in den Gängen des weiten Gartens in vertrautem Zwiegespräch noch lange auf und ab.

Der dicke Herr von Lindemann-Borzymmen, der schon beim Festdiner im Königlichen Hofe ein wenig des Guten zuviel getan hatte, hieb mit der Faust auf den Tisch: »Na, Herrschaft, dann hilft das nichts! Ich schlage vor, wir wählen gleich im ersten Gang den Roten! Da brauchen unsere Leute nicht zweimal die Arbeit zu versäumen, und je mehr von dieser Gesellschaft in die große Redebude in Berlin geschickt wird, desto besser! Da wird der sogenannten Regierung hoffentlich der Seifensieder aufgehen, daß es auf dem jetzigen Wege nicht weitergeht! Es ist doch so ziemlich das Verrückteste vom Verrückten, daß mein letzter Koppelknecht bei der Bestimmung über die Geschicke des Vaterlandes genau dieselben Rechte hat wie ich, sein Herr! Woher soll so einem armseligen Tropf die erforderliche Einsicht kommen in die wirtschaftlichen Zusammenhänge, die selbst unsereinem manchmal ein bißchen schleierhaft sind. Da müßte doch bei einigermaßen gerechter Verteilung ein Gutsherr zum mindesten ebensoviel politische Rechte haben wie seine – sagen wir mal – fünfzig Tagelöhner, Kätner und Knechte …!«

Am untersten Ende der Damentafel erhob sich eine scharfe Stimme, und eine nicht mehr jugendliche Dame von bemerkenswerter Magerkeit reckte sich auf.

»Einen Augenblick, Herr von Lindemann!«

»Fräulein von Streit, Sie wünschen?«

»Wenn's nun Krieg geben sollte, was dann? Werden Sie da in der Lage sein, die gleichen Leistungen zu prästieren wie Ihre fünfzig Tagelöhner? Vereinigen Sie vielleicht in sich die Kräfte einer Maschinengewehrabteilung oder etwa einer Batterie von Feldhaubitzen?«

»Was hat das mit dem allgemeinen Wahlrecht zu tun?«

»So ziemlich alles«, erwiderte Fräulein von Streit trocken. »Solange wir nämlich noch die allgemeine Wehrpflicht haben. Im übrigen halte ich es für nicht gerade politisch, mit solchen Redensarten um sich zu werfen, wo uns nur noch ein paar Wochen von der Nachwahl trennen. Sie können sich doch in den Wählerversammlungen nicht immer entschuldigen, Sie hätten vor dieser Äußerung zwei Flaschen Sekt beim Festdiner und hier – ich habe genau gezählt – achtzehn Glas Erdbeerbowle getrunken!«

Der dicke Herr von Lindemann suchte nach einer Erwiderung, aber ringsum erhob sich schallendes Gelächter. Der Rittergutsbesitzer Uhlenburg schlug ihm kräftig auf die Schulter: »Mensch, erklär' Abfuhr, das war eben ein Durchzieher, quer durch die ganze Visage«, und der Domänenpächter Raabe rief laut über den Tisch:

»Ja, Gottfried, und nimm's nicht tragisch! Was sich liebt, das neckt sich.«

Da erneuerte sich das herzhafte Lachen, denn so ziemlich jedermann im Kreise kannte das schnurrige Verhältnis, in dem die beiden Nachbarn standen, das abstinenzlerische Fräulein von Streit auf Marczinowen und der trunkfrohe Herr von Lindemann auf Borzymmen. Auch äußerlich waren sie ein recht ungleiches Paar. Das Fräulein war eine starkknochige Dame von fast sechs Fuß Größe mit einem männlich geschnittenen Gesicht, das freilich von einem Paar großer, klarer Augen seltsam verschönt wurde, Herr von Lindemann kurz, dick und rund. Auf fleischigem Halse trug er einen kugelförmigen Kopf mit blanker Glatze, mitten im Gesicht aber eine rötlich schimmernde Nase, die ihre Färbung nicht dem reichlichen Genusse von Brunnenwasser verdankte. Der Gegensätze gab es noch mehr zwischen den beiden Nachbarn. Fräulein von Streit, der ihre Eltern in mangelnder Voraussicht ihrer körperlichen Entwicklung den Namen Amanda gegeben hatten, war ein Landwirt nach dem Herzen Gottes. Sie wirtschaftete ohne Inspektor auf ihren fünfzehnhundert Morgen Weizenboden, ihre Insthäuser waren in gutem Stand, die darin hausenden Arbeiter nüchtern und zufrieden. Aber sie wirkte nicht immer mit Milde. Einen russischen Schnitter, der sein Weib im Trunke mißhandelte, hatte sie mit dem eichenen Krückstock so lange verdroschen, bis er winselnd um Gnade bat und Besserung gelobte. Und – so berichtete die boshafte Fama – nach diesem Vorfalle habe Herr von Lindemann sich sechs Wochen lang auf Reisen begeben, weil er sich fürchtete, der energischen Nachbarin an der Grenze zu begegnen; denn es war männiglich bekannt, daß sie sich gelobt hatte, auch ihn zu einem ordentlichen Menschen zu erziehen, nötigenfalls mit Gewalt, durch das Mittel der Heirat. Gütlichem Zureden verschloß er sich nämlich, wirtschaftete gleichgültig und leichtfertig und fuhr viel zu oft nach Königsberg, um sich dort kostspieligen Zerstreuungen hinzugeben. Auf seinem Besitztum aber häuften sich die Hypotheken, und kundige Beurteiler vermochten ziemlich genau den Termin vorauszusagen, an dem er sich vor dem schweren Scheidewege befinden müßte: entweder mit dem Reste seiner Habe als kümmerlicher Rentner nach dem Städtchen zu ziehen oder an der Hand der gestrengen Nachbarin ein neues, ordentliches Leben anzufangen … Wenn er gut beraten war, wählte er das letzte, aber solange es ging, sträubte er sich natürlich …

Und nach diesem heiteren Zwischenfall kam man an der Tafel der Herren auf eine Sorge, die alle näher anging als das bißchen Reichstagswahl … Was lag schon daran, ob die Partei in dem großen Hause am Königsplatze einen Sitz mehr einnahm oder weniger? Die Zeit, wo die Schicksale des Vaterlandes mit Redeschlachten oder Abstimmungen entschieden wurden, war wohl bald vorüber. Schon seit mehr als Jahresfrist hing im Osten die unheildrohende dunkle Wolke und ballte sich dichter und dichter. Jeden Augenblick mußte aus ihr der zündende Strahl brechen. Unter ihr aber wälzte sich eine Woge heran wie ein Berg so hoch, wie langsam wandernde Lavaflut. Und an der Grenze keine Schutzmauer, diese Flut aufzuhalten … In Grajewo standen vorm Jahr zwei Regimenter – heute zehn! Und ebenso sah es oben in Kowno aus, in Wirballen, Wystyten, Augustowo, Lomza und wie die großen Lagerplätze alle heißen, bis hinunter nach Czenstochau! Schlagfertige Armeen, ungezählte Kosakengeschwader, in steter Bereitschaft, von heute zu morgen über die Grenze zu brechen … Kaum zu lachen traute man sich in festlicher Stunde, weil man nicht wußte, ob einem am nächsten Tage nicht schon das Dach überm Kopf brannte!

So tauschten die Männer ingrimmige Rede und Gegenrede, tranken dazu schärfer als sonst, und jeder von ihnen wußte aus seinem Bezirke von neuen Übergriffen der Russen zu erzählen. Ihre Frechheit wuchs von Tag zu Tag. In Dlugossen hatten sie dem deutschen Bauer Lange einen fetten Jungochsen von der Weide gestohlen, in Sawadden die Pferde in einem Haferschlag des Gutsbesitzers Ahrens gehütet. Als der Inspektor ihnen drohte, er werde sich beim Landrat beschweren, lachten sie ihn aus. Ob die Kosakengäule den deutschen Hafer ein paar Wochen früher oder später fräßen, wäre egal, das Gesicht des Inspektors aber würden sie sich besonders merken. Und Ähnliches war aus anderen Grenzdörfern zu berichten. Klagen aber waren nutzlos, man ärgerte sich nur die Galle an den Hals. Der russische Kommandeur empfing den Beschwerdeführer mit vollendeter Liebenswürdigkeit. Er hielt es für ausgeschlossen, daß seine wohldisziplinierten Truppen sich einer Grenzverletzung schuldig gemacht haben sollten, sicherte aber natürlich schärfste Untersuchung zu, schon in Anbetracht des freundschaftlichen Verhältnisses der beiden großen Nachbarreiche, das auch nicht durch den geringsten Zwischenfall getrübt werden dürfte. Aus jedem Wort merkte man die niederträchtige Ironie, und wenn man die Tür hinter sich zumachte, hörte man, wie der Russe mit seinem Adjutanten sich ausschütten wollte vor Lachen.

Da ballte man die Faust und beschloß, sich beim nächsten Male nicht zum Narren machen zu lassen, sondern sich selbst zu helfen wie der Halbhufner Bahlo in Rekowen. Der kam dazu, als zwei Kosaken seine junge Frau bedrängten. Sie häufelte Kartoffeln an der Grenze, die beiden Kerle aber hatten sich im Graben an sie geschlichen, und er hörte vom Hofe ihr Hilfegeschrei. Da rannte er los, nur mit einer eichenen Wagenrunge in der Hand, die er in der Eile ergriffen hatte. Die Russen zogen ihre Säbel, er aber verdrosch sie so unbarmherzig, daß sie heulend und blutend Reißaus nahmen. Von der Stunde an traute sich keiner mehr auf seinen Acker, nur des Nachts hatten sie natürlich versucht, ihm den roten Hahn aufs Dach zu setzen. Weil er aber im Verkehr mit den Herrschaften bewandert war, hatte er sich an seiner Scheune auf die Lauer gelegt. Mit einer Schrotflinte, deren beide Läufe nicht mit Blei, sondern mit grobem Steinsalz geladen waren. Die Wunden, die es verursachte, waren ungefährlich, aber sie brannten wie höllisches Feuer. Und auch noch wochenlang nach der Heilung kratzten die Getroffenen sich, als wenn sie von Tausenden von Wanzen, Läusen und Flöhen zu gleicher Zeit gepeinigt würden … Auf zwanzig Schritt ließ er die beiden Mordbrenner im klaren Mondschein herankommen, dann brüllte er sie an, so daß sie sich zur Flucht wandten. Er aber zielte genau auf ihr Hinterteil und gab Feuer. Wie Ziegenböcke sprangen sie da, schrien immerfort oi oi oi, oi oi oi … Und er rief lachend hinter ihnen her: »Kommt morgen früh wieder, da werd' ich euch mit Seifenlauge baden! Das gibt mit Steinsalz eine gute Mischung …«

Mit schmunzelndem Behagen erzählte man sich die kleine Geschichte, zum Beweis, daß die masurischen Bauern an der Grenze bei den täglichen Übergriffen nicht ihren guten Humor verloren. Wie aber, wenn es Tote und Verwundete gab? Nur die Nachgiebigkeit der deutschen Behörden hatte es bisher dazu gebracht, daß bedrohliche Zusammenstöße im Keim erstickt wurden. In der letztvergangenen Woche zum Beispiel waren etwa dreißig oder vierzig Russen in dem Dorfe Hellmahnen als ungeladene Gäste zum sonntäglichen Tanzvergnügen erschienen. Ohne Waffen natürlich und mit der höhnischen Entschuldigung, in ihrem Lager drüben vermißten sie mit Schmerzen die Gesellschaft der Damen. Und – man schämte sich, es wiederzuerzählen – ein paar von den Scharwerksmargellen zeigten nicht übel Lust, mit den Eindringlingen zu tanzen. Die Jungbauern und Knechte eilten schon nach Hause, um Gewehre, Mistgabeln und Äxte zu holen. Zum Glück aber behielt der Ortsschulze Kopf, Herz und Hand auf dem rechten Fleck. Mit dem Krückstocke jagte er die zuchtlosen Frauenzimmer aus dem Dorfkruge, verbot den Musikanten das Spielen und gab den Russen den Rat, sich schleunigst davon zu machen, wenn sie am Leben bleiben wollten. Gegen die Gewehre könnte er sie mit seinem Stock nicht in Schutz nehmen.

Da zogen die Russen es vor, sich zu entfernen, die Gefahr eines großen Zusammenstoßes war vermieden. Aber war es nicht der Anlaß, dann fand sich ein andrer. Wegen einer leichtfertigen Weiberschürze, um die sich zwei Burschen prügelten, aus irgendeiner lächerlich geringen Ursache, sprang der erste Brandfunke, der, vom Sturm des lange genug zurückgehaltenen Zornes genährt, den Frieden auffraß, wie ein von der Sommersonne gedörrtes Schindeldach …

So schickten die alten Herren den sorgenvollen Blick in die Zukunft, die wehrfähige Jugend aber, die es am meisten anging, freute sich unbekümmert des Augenblicks. Oben im großen Saale tanzten die Dragoner, daß der solide Bau in rhythmischen Erschütterungen bebte, unten, auf einem mit Tannengrün umkränzten Bretterpodium, die Leutnants von der Linie und Reserve, unterstützt von einigen Referendaren und jungen Oberlehrern. Die Teilung der Festgesellschaft war nicht aus unziemlicher Überhebung, sondern aus Raummangel vorgenommen worden. Oben im Saal herrschte drangvolle Enge, so daß die tanzenden Paare sich auf die Füße traten. Und beiden Gesellschaften spielte die gleiche Musik auf, Walzer und Polka, zuweilen auch einen der aus Berlin gekommenen Tänze, die man »Ohnstepp« oder »Tuhstepp« nannte. Die Dragonerbräute oben im Saal sangen zu den neuen Tänzen mit hellen Stimmen lustige Textworte, die jungen Damen unten im Garten hätten wohl auch gern gesungen, aber das schickte sich nicht. So sangen sie innerlich und lachten sich beim Vorbeitanzen mit lustigen Augen an …

Nur eine in der großen Schar junger Damen amüsierte sich nicht. Das Kommandeurstöchterlein Fräulein Ilse Harbrecht.

Sie hatte zwar die Genugtuung erlebt, daß ihr Wiedererscheinen in Ordensburg einen Triumph bedeutete, aber was verschlug es schon, daß die Tänzer sich vor ihrem Platz drängten, wenn der eine fehlte? Der saß wie angeschmiedet neben Frau von Döhlau und machte ihr womöglich noch ungenierter den Hof als mittags auf der Hotelterrasse. Die kokette kleine Person aber schien sich gottvoll zu amüsieren. Sie zeigte ihre blendend weißen Zähne – ob die echt waren, konnte man aus der Entfernung nicht feststellen –, und von Zeit zu Zeit bog sie sich mit ihrem tiefen Ausschnitt nach rückwärts über die Stuhllehne. Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, aber das war jetzt die neueste Mode, daß man aus empfindlichem Mangel einen besonderen Vorzug machte. Und die jungen Männer, die sich »Gents« nannten und den Schnurrbart nach englischer Mode stutzten, fielen bedauerlicherweise darauf herein. Das war sehr verächtlich, aber nicht ohne eine gewisse Beschämung entsann sich Fräulein Ilse, daß auch sie im Königsberger Pensionat eine Zeitlang den Versuch gemacht hatte, sich nach dieser neuen Mode zu richten. Kreide gegessen hatte zur Erzielung des so interessanten blassen Teints und auf jede Mehlspeise und Süßigkeit verzichtet zur Hervorbringung der erwünschten, stilvollen Magerkeit. Es hatte nichts geholfen, sie war ein rundliches deutsches Mädchen geworden …

Der Abend ging herum, Herr Karl von Gorski kam nicht, blickte sogar nicht ein einziges Mal herüber, und all die bitteren Worte, die Ilse sich zurechtgelegt hatte, blieben ungesprochen. Da blies am offenen Fenster des großen Saales der Trompeter wieder einmal zur »Damenwahl«. Fräulein Harbrecht strich sich mit einer energischen Bewegung eine widerspenstige Locke aus der erhitzten Stirn und steuerte quer über die Tanzdiele auf den Ungetreuen los. In der felsenfesten Absicht, mit der »Jugendeselei« – wie sie im Innern ihre törichte Liebe betitelte – endgültig Schluß zu machen. Aber es kam wieder einmal ganz anders.

Karl von Gorski sprang auf und klappte die sporenbewehrten Hacken zusammen: »Welch ein Glanz zu meiner Hütte! Gilt es wirklich mir, Fräulein Ilse?«

»Fräulein Harbrecht«, verbesserte sie feindlich. »Ich habe ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen!«

»So,« sagte er trocken, »ich glaubte, Sie wollten mit mir tanzen! Na, ist mir auch recht …« Und er führte sie von dem Bretterpodium auf den kiesbestreuten Weg, der sich unter matt brennenden Petroleumlaternen zum Seeufer zog. Noch viele Pärchen lustwandelten dort, um nach heißem Tanze Kühlung zu suchen.

Ein ganzes Ende waren sie schweigend nebeneinander hergegangen. Fräulein Ilse suchte vergebens nach einem passenden Anfang. Er schritt mit unschuldigem Gesicht und in gemessenem Abstand neben ihr, als habe er keine Spur eines schlechten Gewissens. Endlich sagte er in übertrieben schwärmerischem Ton:

»Wunderschöner Abend, mein gnädiges Fräulein, heute abend! Nur schade, daß wir keinen Mondschein nicht haben, der heutige Abend würde sicherlich dadurch an poetischer Stimmung und so noch bedeutend gewinnen! Finden Sie nicht auch, mein gnädiges Fräulein?«

Da ging der Zorn mit ihr durch.

»Ich finde nur, daß Sie sich geradezu skandalös benehmen, Herr von Gorski.«

Er blieb lächelnd stehen.

»Ach nee! Inwiefern denn?«

»Das werden Sie wohl selbst am besten wissen!«

»Keinen Schimmer hab' ich! Und wenn Sie mir nicht ein bißchen zu Hilfe kommen?« …

Sie richtete sich auf.

»Bedaure! Führen Sie mich, bitte, auf meinen Platz zurück, Ihre Dame wird gewiß schon ungeduldig geworden sein!«

»Das letzte erscheint mir sehr plausibel, denn sie hat mir ihren kostbaren Pompadour anvertraut und schwebt jetzt wohl in tausend Ängsten, ich könne damit durchbrennen. Das Puderdöschen ist nämlich drin und ein ziemlich großer Spiegel. Ich hoffe, mein gnädiges Fräulein, Sie werden von dieser Indiskretion keinen Gebrauch machen …«

Fräulein Ilse zuckte mit den Achseln, aber sie blieb stehen.

»Wenn das Ihre einzige Sorge ist, dürfen Sie beruhigt sein. Man sieht es ja auf tausend Schritte, daß Frau von Döhlau einen ganz miserablen Teint hat!«

Er streckte ihr die Hand entgegen.

»Großartig, Fräulein Il.., Pardon, Fräulein Harbrecht, wollte ich sagen. Wenn Sie ein junger Mann wären, würde ich Sie sofort als Entfernungsschätzer engagieren, wegen Ihrer guten Augen. Aber, um jetzt endlich von was Geschäftlichem zu reden, wie mein Freund und Zigarettenlieferant Jankel Abramek sagen würde, ja also … darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen, mein gnädiges Fräulein?«

»Wenn sie nicht zu lang ist …«

»Das wird auf das Auditorium ankommen! Nämlich in einer kleinen preußischen Grenzgarnison fern im Osten lebte stillvergnügt ein Leutnant. Unansehnlich von Figur, innerlich aber riesig bedeutend. Da überfiel ihn eines Tages eine glühende Leidenschaft zu einem jungen Mädchen, einem taufrischen, lieben kleinen Kerl …«

»Aber, Herr von Gorski«, protestierte sie errötend, er jedoch fuhr unerschütterlich fort: »Wieso aber? Ich gebe Ihnen die Versicherung, das junge Mädchen war wirklich reizend! Nur einen Fehler hatte sie, sie war viel zu jung. Da kam der grimmige Vater her, hing mit wenig schmeichelhaften Worten dem Leutnant ein Schloß vor den Mund – von diesem Vorgang existiert eine ziemlich naturgetreue Abbildung –, ja, und da mußte der Leutnant gehorchen. Der Vater der jungen Dame war nämlich sein Regimentskommandeur. Diese Angelegenheit hatte sich brieflich abgespielt. Als aber der mehrfach genannte Leutnant nach Ablauf seiner Festungshaft in die heimatliche Garnison zurückkehrte, wurde er auch mündlich belehrt. Das Donnerwetter prasselte nur so über seinem schuldigen Haupte, und zum Schluß hieß es: ›Mit 'nem halben Kind, Herr Leutnant, poussiert man nicht! Ich ersuche Sie ebenso dringend wie höflich, meiner Tochter, wenn sie demnächst heimkehrt, weiter keine Flausen in den Kopf zu setzen, verstanden!‹ Da verstand der Leutnant natürlich, was der Herr Regimentskommandeur meinte … Sie, mein Fräulein, werden aus Ihrer genauen Kenntnis militärischer Rangverhältnisse begreifen, was dem mehrfach erwähnten jungen Offizier passiert wäre, wenn er nicht verstanden hätte! Aber jetzt sitzt er natürlich arg in der Klemme. Seine Gefühle für die junge Dame, die in der Zwischenzeit nicht nur erfreulich älter, sondern auch noch bedeutend schöner geworden ist, sind unverändert geblieben. Aber was nützt ihm das, wenn er diesen Gefühlen keinen Ausdruck geben darf? Wissen Sie vielleicht, Fräulein Harbrecht, wie diesem Leutnant zu helfen wäre?«

Sie standen im Schatten einer riesigen Linde, die mit ihren dichtbelaubten Ästen mildtätig das Licht der nächsten Laterne dämpfte. Da atmete Fräulein Ilse tief auf, gleich danach flog um ihren Mund ein schelmisches Lächeln.

»Das ist freilich eine schlimme Geschichte! Aber wenn man es nun umgekehrt machen würde, so daß der Leutnant vor seinem bösen Regimentskommandeur kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte?«

»Ach so,« sagte er, »nicht dumm! Na denn vorwärts …«

Da wurde sie doch ein bißchen verlegen. »Ich krieg's nicht raus«, sagte sie leise. Und zögernd fügte sie hinzu: »Aber auf eins kann sich der Offizier verlassen, das junge Mädchen ist ihm nach wie vor von Herzen gut!«

In seinem Gesicht zeigte sich ein seltsames Zwinkern, so um die Augen herum, sein Mund aber lachte schon wieder.

»Wenn mich nicht alles täuscht, ist das ein ernster Heiratsantrag!« Und als sie verschämt nickte, fuhr er übermütig fort: »Na denn, mein gnädiges Fräulein, ich fühle mich hochgeehrt, bitte, sprechen Sie morgen mit meiner Mama! Der Herr Regimentskommandeur aber kann mir gewogen bleiben, ich habe sein Verbot nicht übertreten. Also komm her, Mädel …« Er breitete die Arme, sie schmiegte sich hinein, und dann küßten sie sich herzhaft und lange, unbekümmert, was man auf dem Tanzplatz von ihrem Ausbleiben denken mochte. Morgen war auch ein Tag …

Da kam plötzlich von weit her aus der Vorstadt ein eintönig bimmelndes Läuten. Die Sterbeglocke der katholischen Kirche schickte ihren Ruf weit über Land und See, gar seltsam mischte er sich mit den schmeichelnden Walzerklängen, die aus den geöffneten Saalfenstern drangen. Die Musik brach jählings mit einem schrillen Mißton ab, aus den dunklen Gängen des Gartens hasteten die Pärchen zur Mitte zurück, die Massen der Dragoner und ihrer Gäste strömten aus dem Saal. Um das Tanzpodium drängte sich die Menge, ein halblautes Fragen ging von Mund zu Mund.

Irgend etwas war geschehen, aber niemand vermochte Auskunft zu geben. Der Rittmeister von Foucar war mit blassem Gesicht im Tanzsaal erschienen, hatte heiser vor Erregung dem Kapellmeister zugerufen: »Musik aufhören!« Mehr wußte man nicht. Die Offiziere der Schwadron, der Regimentskommandeur und der Landrat standen um Oberst Wegener, die Köpfe vorgeneigt. Der aber hielt eine Depesche in der Hand und sprach halblaut auf sie ein …

Durch die gestaute Menge draußen im Garten lief es wie eine Welle, aus der Stadt wäre ein Radfahrer gekommen, der Herr Redakteur Thieme vom »Ordensburger Anzeiger« möge sich sofort wegen Herausgabe eines Extrablattes in die Druckerei begeben! Da trat der Regimentskommandeur an die Rampe und hob zum Zeichen, daß er sprechen wollte, die Hand. Unter den Linden des Parks wurde es so still, daß man das leise Rauschen der vom Nachtwind bewegten Blätter vernehmen konnte. Die flackernden Lampen rings um das Bretterpodium schienen auf bleiche Gesichter, und der sonst so klaren Stimme des Oberstleutnants Harbrecht merkte man heftige Erregung an …

»Meine lieben Freunde,« begann er, »wir wollten euch zuerst verschweigen, was sich heute fern von uns zugetragen hat, um das Fest, auf das ihr euch alle schon seit Wochen gefreut habt, nicht kurz vor dem Schluß zu stören. Aber der Herr Rittmeister von Foucar hatte recht, als er der Musik Schweigen gebot. Auch unserem deutschen Vaterland ziemt kerne Lustbarkeit an dem Tage, der unsere treuen Bundesgenossen mit tiefstem Leid geschlagen hat. Ein furchtbares Verbrechen ist geschehen, Österreich-Ungarns Thronfolger ist einem Attentat serbischer Verschworener zum Opfer gefallen und mit ihm seine Gemahlin …«

Ein kurzer Aufschrei rang sich aus hundert Kehlen, der Oberstleutnant fuhr mit vor Bewegung schwankender Stimme fort: »Ein Frevel ist es, den man kaum zu fassen vermag, bei dem einem das Blut in den Adern gerinnt … Die Welt verhält den Atem an dem heutigen Tage, niemand weiß, was kommen wird … Vielleicht war, was geschehen ist, ein weithin deutendes Zeichen für alles, was deutsch fühlt und was deutsch ist auf dieser Welt, zu noch engerem Zusammenschluß, zur Wachsamkeit gegen die Feinde ringsum … Sie sollen uns bereit finden. Das sei unser Gelöbnis in dieser ernsten Stunde! Und nun, meine lieben Freunde, wollen wir still nach Hause gehen …«


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