George R. Sims (1847 - 1922)
Die junge Frau Kaudel
George R. Sims (1847 - 1922)

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Die junge Frau Kaudel kauft ein Grammophon.

Kaudel fühlte sich nicht recht wohl. Der Frühling war außerordentlich freigebig gewesen mit Nord- und Ostwinden, dagegen knauserig mit den andern Windrichtungen, und der Ostwind versetzte Kaudel gewöhnlich in schlechte Laune. Er erklärte denn auch seiner Frau, das einzige in seiner Familie vererbte Übel sei ein Hang, schwermütig zu werden, sobald der Wind aus Osten wehe, und die junge Frau Kaudel sagte darauf, daß sie das vollständig begreife, weil viele Familien mit Geisteskrankheit erblich belastet seien. Kaudel gab sich alle Mühe, seiner Frau auseinanderzusetzen, daß Schwermut nicht Geisteskrankheit sei, es gelang ihm aber nicht, sie zu überzeugen, weil sie einmal in einem Irrenhaus herumgeführt worden war und eine Frau gesehen hatte, die ins Leere starrte, mit den Fingern ein nicht vorhandenes Stück Papier in Fetzen reißend, und die vom Arzt als melancholisch bezeichnet wurde.

»Es war eine ländliche Anstalt,« sagte die junge Frau Kaudel, »und die armen Kranken wurden wirklich ganz menschlich behandelt. Sie hatten ein kleines Orchester, worin lauter Kranke mitwirkten; dieses spielte, solange ich dort war, und heiterte die armen verrückten Menschen sehr auf. Ich fand die Idee reizend, nur war mir’s ein wenig unbehaglich, weil der Posaunenbläser seine eigene Frau zu ermorden versucht hatte und der Paukenschläger in dem Wahn lebte, daß er ein König der Kannibalen sei und die Tischglocke läute. Wenn die Musik diesen Irren wohlgetan hat, so bin ich überzeugt, daß sie auch ein Heilmittel gegen deine Schwermut wäre.«

Kaudel schauderte.

»Mabel, ich liebe Musik — wo sie hingehört und zur rechten Zeit, aber ein Orchester mit Blechinstrumenten wäre für mich verhängnisvoll, es würde die angeborene Wildheit meiner Natur aufrühren. Du weißt, daß ich mehrmals von sonst sehr angenehmen Seebädern abreisen mußte, weil zweimal im Tag Blechmusik vor unsern Fenstern spielte. Sobald der Ostwind aufhört, bin ich wieder der Alte.«

»Hoffentlich! Es ist schrecklich, dich so dasitzen zu sehen, wie du die Daumen drehst und stöhnst, nur weil der Wetterhahn eine bestimmte Richtung anzeigt. Ich bin überzeugt, daß dieses Leiden zur Hälfte auf Einbildung beruht und daß du nur eine Ablenkung deiner Gedanken nötig hättest. Du grübelst zu viel über dich selbst, und ich muß dich in Behandlung nehmen.«

Kaudel, der immer noch am Frühstückstisch saß und mit glanzlosen Augen auf den Kanarienvogel starrte, der in der Mauser war und in jämmerlichster Stimmung und Verfassung auf seinem Stängchen hockte, seufzte aus tiefster Brust, raffte die Morgenpost zusammen und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, um eine Abhandlung über Selbstmordepidemieen zu lesen. Nachdem er den Artikel zweimal gelesen hatte, stand er auf, besah sich im Spiegel, streckte die Zunge heraus, schüttelte wehmütig den Kopf und setzte sich an den Schreibtisch, um ein Gedicht mit der Aufschrift: »Tage, die nicht mehr sind« niederzuschreiben. Er ging so völlig auf in der Darstellung der ihm verwandten Stimmung, daß er fühlte, wie ihm Tränen über die Wangen rieselten, und als das Mädchen hereinkam und ihm einen dicken Briefumschlag brachte, dessen Inhalt sich als künstlerisch illustrierter Führer durch einen vornehmen Kirchhof samt einem Preisverzeichnis über Gräber und Denkmäler entpuppte, vertiefte er sich mit wahrem Heißhunger in diesen anziehenden Lesestoff. Nachdem er das Büchlein von A bis Z durchstudiert hatte, ging er aus und schlenderte den Regentenkanal entlang, wobei ihn die Sehnsucht anwandelte, ein Kanalschiffer oder etwas Derartiges zu sein. Ein Leben ohne Hast und Eile, ohne Ehrgeiz und Enttäuschungen dünkte ihm heute höchst begehrenswert.

Bei Tisch erwähnte er seiner Frau gegenüber dieses Ideal eines Daseins.

»Wilfrid,« sagte sie, »du brauchst Anregung. Du gibst diesen Stimmungen viel zu sehr nach. Wie kann ein Mann, dem alles zu Gebot steht wie dir, den Kanalbootsmann — oder wie man die Leute heißt — zu beneiden anfangen, einen armen Schlucker, der in seinem Boot herumlungert und einem armen Gaul mit einem Zinkeimer auf der Nase zusieht, der ihn an einem Seil den Leinpfad entlang zieht! Du kannst’s noch so weit bringen wie ein Vetter von mir, ein angeheirateter aber, bei dem die gedrückten Stimmungen derart waren, daß er sich bei Nacht im Dunkeln in den Garten setzte und heulte wie ein Hund.«

Kaudel beeilte sich, diese Geschichte seiner Frau mit einer andern zu übertrumpfen. Er erzählte ihr von einem seiner Vettern, aber keinem »angeheirateten«, der, an Schlaflosigkeit leidend, sich für gestorben zu halten pflegte, das Leintuch übers Gesicht zog und das Wehklagen seiner Familie zu hören glaubte. Er beweinte sich dann selbst, wohnte seiner Beerdigung bei, hörte die Grabrede und schlief dabei am Ende ein, um andern Tags in besserer Stimmung aufzuwachen.

»Was für ein grauenhafter Wahn!« rief die junge Frau Kaudel. »Wenn das in meiner Familie vorgekommen wäre, würde ich einen Drehorgelmann gemietet haben, der die ganze Nacht vor dem Fenster lustige Melodieen hätte spielen müssen. Musik ist meiner Überzeugung nach die einzige Medizin für solche Geschichten — das steht auch in der Bibel, und Shakespeare sagt es ebenfalls.«

Kaudel begriff nicht recht, weshalb seine Frau plötzlich mit solcher Beharrlichkeit die Musik als Seelenarznei anpries, das Rätsel sollte ihm indes später gelöst werden. Er hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und begann unter dem beschwichtigenden Einfluß einer Zigarre der Entwicklung eines Romanstoffs, die ihm seit Tagen schwer im Magen gelegen hatte, auf die Spur zu kommen, als plötzlich eine Flut von Tönen seine Ohren umschmeichelte. Er ließ die Feder sinken und lauschte in höchster Verwunderung. Eine prachtvolle Männerstimme sang oben im Salon eine Arie aus einer italienischen Oper. Seinen Ohren kaum trauend, trat er in die Halle hinaus, da wurde ein hohes E herausgeschmettert, daß die Spazierstöcke im Schirmständer rasselten.

»Mabel!« rief Kaudel. »Wer ist denn da oben?«

Ein kleines Schelmengesicht wurde über dem Treppengeländer sichtbar.

»Nun, wie gefällt es dir?« fragte die junge Frau Kaudel.

»Es? Was für ein es? Wer ist’s denn? Wo kommt er her?«

»Es ist kein er, Wilfrid, sondern ein Es. Was du hörst, ist Caruso im Grammophon.«

»Mabel!« rief Kaudel entsetzt. »Du wirst doch nicht auf die Idee gekommen sein, ein Grammophon zu kaufen?«

»Doch, und zwar ein herrliches. Und fünfzig Walzen habe ich gekauft. Warte nur einen Augenblick — jetzt sollst du etwas Lustiges hören!«

Kaudel setzte sich auf einen Vorplatzstuhl und starrte entsetzt aufs Barometer. Ein Grammophon! Das Haus, worin er arbeiten und sein Brot verdienen mußte, überflutet von Musik! Er stand auf und öffnete die Haustüre, um Luft zu schöpfen. Draußen hatte sich, von Carusos wunderbarer Stimme angelockt, ein Häuflein Menschen angesammelt, und als Kaudel unter die Türe trat, wurde er mit Beifallklatschen und Bravorufen begrüßt, weil man in ihm den Sänger vermutete. Wütend warf er die Türe ins Schloß und sank wieder auf seinen Sitz von vorhin, wo sofort Van Lenos Stimme an sein Ohr drang. Der beliebte Volksbarde sang »Londons guten alten Tower«, was die Musikfreunde draußen in höchstes Entzücken versetzte. Das Gelächter, womit die Zuhörer des Komikers Geplapper begleiteten, drang deutlich herein, und als das Lied zu Ende war, hörte man das Publikum Stöcke und Schirme aufs Pflaster aufstoßen.

»Mabel,« schrie Kaudel aus Leibeskräften, »bring das Ding zum Schweigen! Wie soll ich arbeiten, wenn mir Caruso das eine und Van Leno das andre Ohr voll schreit? Und draußen steht eine Volksmenge — wir werden von der Nachbarschaft wegen Ruhestörung verklagt werden!«

»Papperlapapp!« rief die junge Frau Kaudel übers Treppengeländer herunter. »Ich gehe nur die Nummern durch, um die hübscheste auszusuchen. Die Musik wird dir gut tun und deine Melancholie vertreiben. Wenn die Leute stehenbleiben, so ist’s ihre Sache, nicht die meinige. Hauskonzerte sind noch niemals verboten gewesen.«

Sie verschwand und im nächsten Augenblick gab eine Militärkapelle das: »Rule Britannia!« zum Besten. Kaudel erhob die Arme in tragischer Anrufung des Himmels zur Zimmerdecke.

»Dieser Höllenspektakel!« stöhnte er. »Ist es dahin gekommen? Soll ich meine zarten Liebesszenen, meine herzzerreißenden Abschiede, das geflüsterte Gebet der Waise am Grab der Mutter mit Begleitung einer Blechmusik schreiben?«

Als die Militärkapelle ihr Stück zu Ende gespielt hatte, kam Frau Kaudel, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herunter.

»Findest du’s nicht wunderbar, Wilfrid?« fragte sie. »Meint man nicht wirklich, die Kapelle sei im Zimmer?«

»Sie sei? — Sie ist!« ächzte Kaudel.

»Ist’s nicht prachtvoll? Ich liebe unser Rule Britannia über alles; es ist so viel Schwung in der Melodie!«

»Mabel!« rief Kaudel, alle Entrüstung, deren eine Menschenseele fähig ist, im Ton zusammenfassend. »Ich will in meinen Arbeitsstunden keinen Höllenspektakel in den Ohren haben, das macht mich so rasend wie Ostwind im März. Dieses Grammophon kommt morgen aus dem Haus — oder ich gehe. Du kannst es deinem Vater schicken.«

»Der Vater würde sich ohne Zweifel darüber freuen, denn er liebt Musik, aber ich werde es ihm nicht schicken. Wenn ich auf acht oder vierzehn Tage nach Hause gehe, nehme ich’s vielleicht mit, vorläufig aber bleibt es hier, und jeden Abend findet ein Konzert statt. Wenn du nicht zuhören magst, kannst du’s ja bleiben lassen.«

»Nicht zuhören! Das Ding hört man ja einen Kilometer weit! Wenn du jeden Abend diese Höllenmaschine aufziehst, so werde ich meinen Schreibtisch in den Kohlenkeller schaffen lassen, obwohl ich auch dort kaum sicher bin vor diesem Getöse!«

In diesem Augenblick machte sich das Konzertpublikum draußen mausig. Die Pause hatte den Musikfreunden lang genug gedauert, sie wurden ungeduldig und riefen: »da capo!« und »Weiter!« zum Sternenhimmel hinauf.

»Hörst du’s?« sagte die junge Frau Kaudel mit fröhlichen Lachen. »Die freuen sich daran und sollen gleich noch mehr zu hören bekommen.«

Sie rannte die Treppe hinauf, man hörte das Geräusch des Aufwindens und im nächsten Augenblick beglückte ein berühmter Gesangskomiker die Hörer mit dem: »Killicrankie«, wozu die Zaungäste den Kehrreim sangen. Kaudel spähte durch den Spalt des Briefkastens hinaus und bemerkte, daß ein paar junge Burschen sogar zu tanzen anfingen. Er war in einer verzweifelten Lage. In sein Arbeitszimmer gehen und weiter schreiben, war ein Ding der Unmöglichkeit, ausgehen und dabei den Beifall des Publikums entgegennehmen, wäre ihm zu anspruchsvoll erschienen. Er setzte sich also ergebungsvoll auf die Treppe und überdachte seine Zukunft. Ob die Anschaffung eines Grammophons als Scheidungsgrund geltend gemacht werden konnte, war ihm zweifelhaft, er beschloß also, seiner Frau Haus und Grammophon zu überlassen und sich ein paar Zimmer in ruhiger Gegend zu suchen, wo die Polizei Schutz vor Drehorgeln gewährte.

Nachdem »Killicrankie« vorgetragen und mit begeistertem Beifall aufgenommen worden war, sang Herr Leo Stormont die »Grenadiere« mit großartigem Imperialismus, wofür ihm dankbare Zurufe von draußen dankten. Dann war das Grammophon so liebenswürdig, die »Letzte Wache« und »Stell auf den Tisch die duftenden Reseden« vorzutragen, während Kaudel immer noch auf der Treppe hockte und die Verbringung seiner Bücherei in die neue Wohnung überdachte.

Diese düstere Vorstellung und ihre Schwierigkeiten hielten ihn noch gefangen, als ein andrer hervorragender Künstler das »Heil unserm König, Heil« anstimmte, das die Zuhörer voll heißer Vaterlandsliebe mitsangen. Dann wurde ein dreimaliges Hoch auf den Herrn dieses musikalischen Hauses ausgebracht, worauf die Menge sich zerstreute, und die junge Frau Kaudel glückstrahlend herunterkam.

»So!« sagte sie. »Jetzt kannst du nicht mehr melancholisch sein! Jetzt geh nur in dein Zimmer und an deine Arbeit; sie wird dir tausendmal besser gelingen als sonst, nachdem dir das Grammophon so viel Freude gemacht hat.«

Kaudel sah auf die Uhr. Es war ein Viertel nach Zehn, und er sollte sich jetzt hinsetzen und zwei Liebende tränenvoll an einem offenen Grab voneinander scheiden lassen! Das brachte er nicht fertig, und so ging er ins Wohnzimmer hinauf, schloß die Fenster, die Frau Kaudel arglistigerweise offen gelassen hatte, und rief: »So, nun laß das Grammophon spielen, was es vermag! Wenn ich nichts habe, um meine Gedanken zu betäuben, so verliere ich vollends den Verstand!«


»Meine Frau,« schreibt Kaudel, »weigert sich rundweg, das Grammophon herzugeben, aber wir haben einen Vergleich abgeschlossen. Sie läßt es durch die Jungfer aufziehen und mit Walzen füttern, solange wir bei Tisch sind, verwöhnt mich aber in meinen nächtlichen Arbeitsstunden mit Caruso, Van Leno und Blechmusik. Stellen sich wieder schwermütige Stimmungen bei mir ein, so werde ich mich hüten, etwas davon merken zu lassen.«


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