George R. Sims (1847 - 1922)
Die junge Frau Kaudel
George R. Sims (1847 - 1922)

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Die junge Frau Kaudel hat keinen Platz für ihre Kleider.

Herr und Frau Kaudel waren drei Wochen in einem Seebad gewesen, und zwar weil der Arzt zu vollständiger Erholung von einem bösen Katarrh eine solche Ausspannung für Kaudel angeordnet hatte. Von dem winterlichen Sonnenschein der südlichen Küste verführt, hatte Kaudel wirklich die Arbeit etwas an den Nagel gehängt, dann aber war er unter dem Vorwand dringender Geschäfte drei Tage vor Ablauf der drei Wochen nach London zurückgekehrt, während seine Frau mit ihrer Schwester noch geblieben war.

In der ungestörten Stille der leeren Wohnung kam er, vor jeder Unterbrechung gesichert, am ersten Tage rasch voran mit der Arbeit und schwelgte in dem Bewußtsein, noch zweimal vierundzwanzig Stunden klaren Kurs halten zu können. Allein am zweiten Morgen sollte seine Zeiteinteilung wesentlich umgestürzt werden, denn seine Frau telegraphierte: »Es regnet furchtbar. Kommen heute nachmittag. Hole uns 4.48 Charing Croß ab.«

Kaudel, der Gatte, hatte sich natürlich zu freuen, seine Frau einen Tag früher wieder zu besitzen, als er hatte erwarten dürfen, Kaudel, der Schriftsteller, dagegen dachte mit einiger Wehmut an die Rückstände, die er hatte aufarbeiten wollen.

Immerhin war es denkbar, daß er mit Aufwand einer kleinen Kriegslist den Abend noch für sich retten würde, und so betrat er um drei Viertel auf fünf Uhr mit dem liebenswürdigsten Willkommlächeln, dessen seine Züge fähig waren, den Bahnsteig von Charing Croß.

Es regnete auch in London sehr heftig und ein eisiger Wind machte den Spaziergang in der Bahnhofhalle nicht gerade pläsierlich, aber Kaudel schlug den Kragen des Überrocks auf, stampfte sich die Füße warm und hielt den triefenden Regenschirm so weit als möglich von sich ab. Der Zug hatte eine Verspätung von einer halben Stunde, und als er endlich hereinpustete, hatte Kaudels Lächeln bereits etwas von der ersten Frische eingebüßt.

Immerhin zeigte er den Ankommenden eine heitere Miene und stürzte sich mannhaft auf den Berg von Koffern, die auf den Bahnsteig geschleudert wurden, damit die Reisenden sich ihr Eigentum aussuchen könnten. In seinem heiligen Eifer, die drei Koffer seiner Frau, die zwei seiner Schwägerin und Frau Kaudels drei Hutkisten in Sicherheit zu bringen, behauptete er seinen Platz gegen den Andrang von einem Dutzend Gepäckträger und einer Schar von Reisenden, die auch die schwersten Gepäckstücke in tollem Wirbel umherstießen. Da er aber den nassen Regenschirm in der einen, Frau Kaudels Reisetasche in der andern Hand hielt und die Reisedecken am Arm hängen hatte, konnte er sich nur durch eine Reihe von kleinen Sprüngen vor dem Schicksal bewahren, daß seine Füße von einem umstürzenden Koffer zermalmt und seine Zehen von den Karren der Träger abgequetscht würden.

»Steh doch ruhig, Liebster!« raunte ihm Frau Kaudel zu, die, anmutig gegen die Schranken gelehnt, dastand. »Es sieht ja aus, als wolltest du einen Hopser tanzen.«

»Ist mir ganz einerlei, wie es aussieht,« gab Kaudel mit einem Anflug von Gereiztheit zurück. »Hab lieber die Güte, mir zu sagen, welche von den Dingern dir gehören!«

Endlich, nachdem Frau Kaudel zweimal ein fremdes Hutkistchen für das ihrige erklärt, den Irrtum aber erkannt hatte, während es vom Träger aufgeladen wurde, konnte sämtliches Gepäck heil und sicher auf eine Gepäckdroschke verladen werden, worauf Kaudel mit Frau und Schwägerin, einem Pack Reisedecken, den Handtaschen und einem Korb mit Fischen, »frisch aus dem Meer«, in ein für zwei Personen gebautes Coupé kroch.

»Ich begreife nicht, wie du einen so lächerlich engen Wagen nehmen kannst,« bemerkte die junge Frau Kaudel, den Fischkorb auf des Gatten Kniee stellend. »Man erstickt ja zu dreien — bitte — laß das Fenster herunter.«

Kaudel willfahrte ihr und bekam nun den Regen ins Gesicht, daß er sich vorkam wie eine Fensterscheibe, die mit der Gartenbrause abgespült wird. Dann machte Frau Kaudel die Entdeckung, daß ein nasser Regenschirm an ihr Kleid gelehnt war.

»Du liebe Zeit!« rief sie. »Dein Schirm trieft ja! Wie hast du ihn nur so naß bekommen können? Bist du denn nicht nach dem Bahnhof gefahren?«

»Nein, ich kam zu Fuß her vom Klub aus.«

»Ach, du warst im Klub! Ich dachte, du habest mich des Arbeitens halber verlassen.«

»Dem war auch so, Kind, aber den ganzen Tag konnte ich doch nicht zu Hause sitzen, so hab’ ich im Klub gefrühstückt.«

»Wahrhaftig? Und ich habe mich gegrämt, dich so einsam und hart arbeitend zu wissen! Indes hast du dir ja mit Frühstücken im Klub und andern Vergnügungen die Zeit aufs angenehmste vertrieben!«

»Quatsch!« murmelte Kaudel, während er sich abmühte, sein Gesicht mit dem Rockärmel zu trocknen, da er viel zu eng eingeklemmt war, um sein Taschentuch herausziehen zu können.

»Natürlich! So oft ich den Mund aufmache, ist’s Quatsch. Seit deiner Abreise hatte ich außer der Wirtin keine Menschenseele, mit der ich hätte sprechen können, und nun muß ich reden!«

»Und Gertie? Du konntest dich doch mit Gertie unterhalten!«

»Eine Schwester, das ist wieder ganz etwas andres. Aber die Hauswirtin war Gott sei Dank nicht auf den Mund gefallen. Das war mir wirklich eine Erholung — nach dir! Sie hat mir so viel Interessantes erzählt — Gladstone hat einmal mit seiner Frau und einem Sohn bei ihr gewohnt.«

»So?« machte Kaudel, die Ohren spitzend. »Das kann ja wirklich interessant gewesen sein … was wußte sie denn zu erzählen?«

»O vielerlei! Sie mußte manchmal im Zimmer sein während der Mahlzeiten, und sie sagt, es sei geradezu wunderbar gewesen, wie Frau Gladstone für ihren Mann gesorgt habe. Manchmal habe der junge Herr etwas entgegnen wollen auf eine Bemerkung Gladstones, da habe sie ihm immer sofort das Wort abgeschnitten und gesagt: ›Widersprich deinem Vater nicht!‹ Kein Mensch habe ihm widersprechen dürfen, wenn’s die Frau habe hindern können, sagte die Wirtin.«

»Mit Recht,« bemerkte Kaudel. »Immer auf Widerspruch zu stoßen, ist aufreibend.«

»Falls das ein Hieb für mich sein soll,« rief die junge Frau Kaudel, »so muß ich bemerken, daß ich dir nie widerspreche. Unter tausend Frauen würde keine einzige dir so in allen Stücken nachgeben wie ich.«

Kaudel lehnte sich schweigend in die Wagenecke, denn das Sprechen war ihm zu anstrengend. Er saß so überzwerch da, daß er brüllen mußte, sollte der Ton nicht vollständig durchs offene Fenster verhallen. Sein linkes Bein war eingeschlafen und in seinem rechten Arm spürte er nichts als Nadelstiche. Glücklicherweise war diese Fahrt bald überstanden, und sobald Kaudel seiner Glieder wieder Herr geworden war, ging er ins Ankleidezimmer hinaus und rieb sich Gesicht und Haare mit dem Badetuch trocken.

Während der Mahlzeit unterhielt sich Kaudel aufs liebenswürdigste mit den Damen und ließ sich mit diplomatischer Arglist nicht im geringsten anmerken, daß er darauf brannte, allein gelassen zu werden, um mit seiner Arbeit vorwärts zu kommen. Als seine Frau den Kaffee nicht wie sonst ins Wohnzimmer, sondern ins Eßzimmer bringen ließ, stöhnte er innerlich, sagte aber nichts. Wer warten kann, erreicht sein Ziel, und als die junge Frau Kaudel gegen neun Uhr zu ihrer Schwester sagte: »Gertie, was meinst du? Wollen wir nicht hinaufgehen und auspacken?« fühlte er, daß Land in Sicht war, und begab sich spornstreichs in sein Arbeitszimmer.

Eine gesegnete Stunde lang beschrieb er Blatt um Blatt des Pandektenpapiers mit jenen Hieroglyphen, die sein Schreibfräulein bald ins Irrenhaus bringen mußten — wenigstens behauptete sie das —, und er wähnte, mindestens bis elf Uhr ein freier Mann zu sein, denn er wußte aus Erfahrung, was »Auspacken« bei der jungen Frau Kaudel bedeutete. Allein diese Hoffnung war trügerisch. Plötzlich ging die Türe auf, die Gnädige marschierte herein und ein Blick in ihr ausdrucksvolles Gesichtchen belehrte den bekümmerten Mann der Feder, daß irgend etwas aus dem Lot sein müsse.

»Du bist wohl an der Arbeit?« fragte sie mit einem Hochziehen der Augbrauen, das Kaudel längst als Vorboten von Gewitter kannte.

»Nein … nichts besonders Wichtiges …«

»Dann hast du vielleicht die Güte, mit mir hinaufzukommen und mir zu zeigen, wo ich meine Sachen unterbringen soll.«

»Was? Ich verstehe dich nicht …was soll ich dir zeigen?«

»Natürlich, verstehst du mich nicht, denn wenn das der Fall wäre, wüßtest du, daß ich Platz haben muß. Ich kann meine Sachen doch nicht auf dem Fußboden herumliegen lassen.«

»Aber, meine liebe Mabel, du hast ja doch Schubladen, Schränke …«

»Schubladen und Schränke! Wie viele? Alles ist vollgepropft mit deinen Kleidern. Im einen Schrank hängen etliche zwanzig Anzüge, die du nie mehr trägst, und alle Schubladen sind angefüllt mit deinen Hemden, Kragen und Krawatten. Du mußt von der Knabenzeit her jedes Kleidungsstück aufgehoben haben.«

»Aber, Kind, du hattest doch vor unsrer Reise Platz genug. Hast du dir denn ein Dutzend, neuer Kleider mitgebracht?«

»Kein einziges. Aber es war nie Platz da für meine Sachen. Und nun Gertie mitgekommen ist, will sie doch ihre Kleider auch unterbringen. — Es ist geradezu lächerlich: an jedem Kleiderhaken im ganzen Haus hängt etwas von dir!«

»Unsinn!«

»Durchaus nicht! All meine Hüte muß ich in alten Schachteln verwahren, die auf dem Schrank aufgetürmt sind. Kannst du einer Frau zumuten, daß sie jedesmal auf die Leiter steigt, so oft sie einen Hut braucht? Es ist einfach gräßlich! Ich kann überhaupt nicht auspacken, sondern muß alles in den Koffern lassen, denn sonst kann ich’s nirgends hintun. — Wenn du vielleicht einen Platz dafür weißt, so hab die Güte, ihn mir zu zeigen.«

»Aber liebes Kind, ich habe wahrhaftig andres zu tun! Sprich doch mit den Mädchen!«

»Was können die Mädchen dabei helfen? Schränke machen können sie doch nicht, und deine Sachen hinauszuschmeißen, getraut sich keine! Du solltest einen ganzen Pack alter Anzüge verkaufen, um Luft zu schaffen. Du hast sie jahrelang da hängen und bist viel zu stark geworden, um sie noch zu tragen.«

»Ich habe keinen einzigen Anzug im Hause, der mir nicht tadellos säße!« erklärte Kaudel mit Entrüstung.

»Ja, warum trägst du sie dann nicht? Ich habe mir einige angesehen; sie sind von Motten zerfressen! Aber natürlich ist dir’s lieber, den alten Trödel zu behalten, als deiner Frau einen einzigen Kleiderhaken zu überlassen. Ich weiß mir aber schon zu helfen, ich werde meine ganze Garderobe einfach nach der Depositenkassengesellschaft schicken, nur muß ich eben dann hingehen und mich dort ankleiden. Du hast mich aus einer Häuslichkeit gerissen, wo es Schränke genug gab — meinem Vater ist es nicht eingefallen, sie alle mit seinen Kleidern vollzustopfen.«

»Aber, Herzchen, wir haben doch auch Schränke …«

»O ja, Herrenschränke, aber wie viel Damenschränke sind denn im Haus? Ich werde morgen an meinen Vater telegraphieren, daß er mir einen Schrank von daheim schickt. Ach, wäre ich doch daheim! Da könnte ich wenigstens auspacken und meine Sachen unterbringen!«


»Des lieben Friedens willen,« setzt Kaudel hinzu, »habe ich einen umfangreichen Damenschrank bestellt. Wo aber er hinkommen soll, weiß der Himmel, denn vom Erdgeschoß bis zum Speicher ist alles gepfropft voll mit Schränken.«


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