George R. Sims (1847 - 1922)
Die junge Frau Kaudel
George R. Sims (1847 - 1922)

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Die junge Frau Kaudel hat die Influenza.

Kaudel hatte die Influenza seit ihrer Einführung als Modeepidemie etwa zum zwanzigsten Mal durchgemacht, und da er dabei in jenen Zustand von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit verfallen war, der zu den Kennzeichen dieser besten Freundin der Ärzte gehört, war er sogar in der Arbeit lässig geworden.

Sobald er sich einigermaßen erholt hatte und einen ernstlichen Anlauf nehmen konnte, ohne daß sich das Zimmer um ihn drehte oder der Fußboden Miene machte, sich wie eine Versenkung zu öffnen, um seine schwankende Gestalt zu verschlingen, ging er daran, die Rückstande aufzuarbeiten.

Die junge Frau Kaudel hatte sich in dieser Zeit der Anfechtung als ideale Gattin und Hausfrau bewährt. Sie hatte Kaudels mangelnde Eßlust durch Sulzen nach einem kostspieligen Kochbuch, dessen Verfasser die Magen von Millionären im Aug’ gehabt haben mußte, zu reizen versucht, und zwar hatte sie diese Sulzen in einer Form bereitet, die selbst im Haushalt eines Riesen auffallend groß gewesen wäre. Bereitet hatte sie die Kunstwerke gerade nicht, aber bei der Köchin bestellt und dieser, die bis vor kurzem in einem Haushalt mit vierzehn Kindern gedient hatte, die Wahl der Form überlassen. Sie hatte dem Gatten auch Kraftbrühe, Hummermayonnaise und andere Leckerbissen vorgesetzt, wie sie sich für einen Kranken eignen.

Die junge Frau Kaudel hatte ihrem Mann auch die Zeitungen vorgelesen, weil seine Augen von der Influenza angegriffen waren und die Buchstaben, sobald er länger hinsah, prismatisch zu leuchten und zu tanzen anfingen. Als das aufopfernde Frauchen, das sie im Grund ihres Herzens wirklich war, hatte sie für ihn allen Gesellschaftsklatsch und sämtliche Modeberichte ausgewählt. Sie hatte ihm sogar lange Auszüge aus der »Kunst der Toilette« und das Beste, was die englischen Frauenzeitungen überhaupt boten, zu genießen gegeben.

Kaudel war dankbar gerührt über diese zarten Aufmerksamkeiten. Er fühlte, daß er seine besorgte kleine Pflegerin nicht durch mürrisches Wesen verletzen durfte, und so nahm er einen Löffel von der schönen Sulz, einer Weinsulz, die durch Schlagsahne gemildert war; er gab vor, von der Hummermayonnaise zu essen, und reichte sie, sobald Frau Kaudel den Rücken kehrte, dem Hund, der infolge davon drei Nächte lang das Opfer eines Hundealps wurde und erbärmlich heulte. Und er — Kaudel, nicht der Hund — lauschte den Modeberichten mit der gespannten Aufmerksamkeit, womit ein neuer Bischof der Predigt bei seiner Investitur zu folgen pflegt.

Als die Krankheit zu weichen begann und er wieder Kraft in sich fühlte, war sein Frauchen glückselig und fragte ihn ganz beiläufig, ob die Alexandramedaille auch Privatpflegerinnen verliehen werde. Kaudel erwiderte, soviel er wisse, gebe es eine Medaille — ob sie Alexandramedaille heiße, wisse er nicht genau — für Frauen, die ihre Männer durch die Influenza gelotst hatten, nur werde sie gegenwärtig nicht außerhalb des Buckinghampalastes verliehen. Sollten die Majestäten aber je auf den Gedanken kommen, diese vielbegehrte Auszeichnung für Ehefrauen wieder öffentlich zu verleihen, so sei er überzeugt, daß Frau Kaudels Name ganz oben auf der Liste stehen werde.

Zwei Tage lang kam Kaudel recht wohl vorwärts. Er fand es zwar etwas schwierig, wieder glühendes Interesse für Parlamentsverhandlungen und europäische Politik zu empfinden, nachdem er so lang in Modeangelegenheiten und gesellschaftlichen Ereignissen geschult worden war; nach und nach aber fand er den Übergang vom letzten Ball zu Balfour, von Moden zu Makedonien, von irischer Spitze zu irischem Landrecht, von »Soireen« zum Somaliland; als er aber soweit war, begann Frau Kaudels Aussehen ihn zu beunruhigen.

Sie klagte beim Mittagessen über heftige Kopfschmerzen und stand vom Tische auf, um sich niederzulegen, dann bekam sie Rückenschmerzen und konnte das Licht nicht ertragen. Als ihr im Verlauf des Abends nicht besser wurde, ging sie zu Bett und am andern Morgen waren alle Anzeichen der Influenza deutlich festzustellen.

»Kümmere dich nicht um mich, Liebster,« sagte sie, nachdem der Arzt gegangen war, mit schwacher Stimme. »Morgen oder übermorgen werde ich wieder pudelwohl sein. Geh du nur an deine Arbeit.«

Kaudel ging hinunter in sein Arbeitszimmer und suchte sich in die irische Landbill zu vertiefen, aber Irlands Leiden wollten ihm nicht recht zu Herzen gehen, während er sich um seine kleine Frau sorgte.

Nachmittags ging er wieder hinauf und fand sie in jenem Zustand seelischen Drucks, der zu den bezeichnendsten Merkmalen dieser Krankheit gehört. Er setzte sich an ihr Bett und fragte im aufmunterndsten Ton, den er zu stande bringen konnte, wie ihr zu Mut sei.

»Es geht mir sehr schlecht, Liebster,« sagte sie kläglich. »In meinem ganzen Leben habe ich mich nie so krank gefühlt, Wilfrid, und ich glaube, daß ich sterben muß.«

Die Rollvorhänge waren herabgelassen, weil ihr das Licht so weh tat. Und das traurige Stimmchen klang in dem düstern Raum so trostlos, daß es Kaudel kalt überlief.

»Rede keinen Unsinn, Mabel!« sagte er. »So ist’s einem immer zu Mut bei der Influenza; das gehört einmal dazu. Morgen oder übermorgen wirst du wieder viel munterer sein.«

»Ich weiß nicht recht, ob ich überhaupt gesund zu werden wünsche,« flüsterte die Kranke mit hohler Stimme. »Mir ist’s, als ob ich durch mein Bett hinabsänke, tiefer und immer tiefer bis ins Grab, und es kommt mir vor, als ob es ganz nett wäre, dort zu ruhen, aller Mühe und Not ledig.«

»Ja ja, das Gefühl hat man. Heute vor acht Tagen lag mir auch gar nichts mehr am Leben. Die Mikroben greifen eben das Gehirn an, wie du weißt.«

»Habe ich Mikroben?« rief die junge Frau Kaudel schaudernd.

»Mikroben ist wohl nicht der richtige Name,« erwiderte Kaudel beruhigend. »Die kleine Bestie, die uns die Influenza bringt, wird, soviel ich weiß, Bazillus genannt.«

»Wie sehen sie aus, Wilfrid, diese Bazillusse?«

»Bazilli wird’s in der Mehrzahl heißen, aber zerbrich dir den Kopf nicht über das Geschmeiß, Liebchen. Sie sind wohl schon seit Paradieseszeiten vorhanden, die Wissenschaft hat sie nur jetzt erst entdeckt.«

»Und was für Geschöpfe sind diese Bazilli, die mein armes Gehirn benagen? Sag nur nicht, es seien solche geschwänzte Scheusäler, wie man sie bei mikroskopischen Vorführungen in einem Tropfen Wasser sieht. Ach, jetzt sehe ich sie ganz deutlich vor mir …«

»Ruhe, Ruhe, Kind — zerbrich dir den Kopf nicht über die Dinger. Die haben gar nichts auf sich.«

»Aber sie zerbrechen mir den Kopf — du hast’s ja gesagt, sie hätten mein Gehirn angegriffen. Jetzt bringt mich das Grauen um, mir wird übel vor Ekel. Die Vorstellung, daß diese gräßlichen kleinen Kaulquappen mein Hirn benagen, ist zu gräßlich! Es war sehr, sehr unfreundlich von dir, Wilfrid, mir’s zu sagen.«

»Meine liebe Mabel, ich konnte doch nicht denken, daß …«

»Grausam war’s von dir, Wilfrid. Ich mache mir ja nichts daraus, an der Influenza zu sterben, aber aufgefressen zu werden von kleinen Kaulquappen, die in meinen Schädel gekrochen sind, das ist furchtbar. Wie kommen sie nur hinein? Im Trinkwasser?«

»Nein, es sind auch nicht gerade Kaulquappen, eher Würmer, sollte ich denken. Ich glaube, sie kommen von selbst.«

»Unsinn! Wie wäre das möglich?«

»Nun, dann werden sie wohl aus Eiern ausschlüpfen …«

»Aus Eiern! O Wilfrid, sag nicht, daß ich Eier im Gehirn habe — ich werde wahnsinnig! Eier — entsetzlich! Und die alten Kaulquappen sitzen wohl darauf und brüten sie aus! Kein Wunder, daß ich unzurechnungsfähig bin, wenn Kaulquappen in meinem Gehirn Eier ausbrüten.«

»Aber, Mabel …«

»O, ich weiß, weiß alles. Nun, da du das Unheil angerichtet hast, möchtest du’s wieder gutmachen und mir die Sache ausreden. Aber das kannst du nicht, denn ich spür’s zu deutlich, daß du mir die Wahrheit gesagt hast.

Die Kaulquappen sind in meinem Kopf und brüten Eier aus, und mit einem Mal werden Millionen und Millionen von Kaulquappen da sein. Derartige Geschöpfe haben ja immer so zahlreiche Familien — ich habe einmal darüber gelesen in einem Buch aus Vaters Bibliothek. Darin hieß es, daß manche von diesen greulichen Geschöpfen an ein und demselben Tag zur Welt kommen, sich verheiraten, Kinder kriegen, Groß- und Urgroßeltern werden und sterben.«

»Aber, liebes Kind, Bazilli sind keine Insekten!«

»Doch!« rief die junge Frau Kaudel, jählings im Bett auffahrend. »Sie haben Flügel, fliegen und summen. Ich wußte anfangs nicht, woher das Gesumse in meinen Ohren kommt. Jetzt weiß ich’s! O Wilfrid!«

»Ja, Liebling?«

»Meinst du, es würde sie töten, wenn ich Tabak schnupfte?«

»Großer Gott, nein! Komm mein Kind, du bist aufgeregt, fieberisch. Du mußt jetzt eine verständige kleine Frau sein, dich ruhig hinlegen und schlafen. Nachher wirst du dich bedeutend wohler fühlen.«

Die Kranke versank richtig in Schweigen und allmählich in Schlaf, und Kaudel stahl sich leise zum Zimmer hinaus, um sich unten wieder an die irische Landbill zu machen, was aber ein fruchtloses Bemühen war. Er wußte ja, daß die Influenza ihren Verlauf haben mußte, und er war voll Sorge, wie seine Frau die Zeit tiefster Mutlosigkeit ertragen würde, die jedesmal eintritt, wenn der heftigste Anfall überstanden ist. Am Abend darauf ging er nach seiner einsamen Mahlzeit wieder zu ihr. Sie war wach und saß fast aufrecht im Bett. Das Mädchen hatte ihr ihren Nähkasten bringen müssen, ein altmodisches Möbelchen, das ihr besonders lieb war, weil sie es in ihrer Kinderzeit bekommen hatte. Als Kaudel eintrat, blickte sie auf, und er sah, daß ihre Augen feucht waren.

»Was ist denn, Mabel?« sagte er. »Du mußt dir nicht so nachgeben.«

»Ich kann’s nicht ändern, Liebster,« murmelte sie. »Ich weiß gewiß, daß es nicht mehr besser wird bei mir, und ich nehme ein paar Sachen aus meinem Nähkasten, den Gertie haben soll, wenn ich tot bin.«

»Tot!« rief Kaudel. »Sei doch nicht so närrisch, Kind. Du bist nicht kränker als andre Leute auch, wenn sie diese schändliche Influenza haben.«

»O, denen ist’s nicht zu Mut wie mir, das kann gar nicht sein! Ich möchte nur weinen, nichts als weinen, und wer immerzu weint, kann nicht lange leben.«

»Das gehört zu dieser Krankheit. Komm, leg dich hin und laß dir etwas Unterhaltendes vorlesen. Kennst du Douglas Jerrolds Gardinenpredigten? Die will ich dir vorlesen!«

»Nein, danke Wilfrid, ich könnte keiner Predigt folgen. Auch als ich noch gesund und kräftig war, konnte ich keine Vorträge hören. Mein Vater hat mich einmal mitgenommen zu einem Vortrag im Stadthaus. Es handelte sich um Astronomie oder etwas Derartiges und ich habe Monate nachher nicht schlafen können, aus lauter Angst, die Sonne könnte die Erde in ihrer Bahn, oder wie das Ding heißt, kreuzen, oder ein Komet könnte auf die Erde fallen und alles verbrennen. Ich weiß noch, wie Gertie und ich am Abend nach der Vorlesung zum Fenster hinaussahen und schrieen, als wir einen Feuerfunken in der Luft bemerken. ›Der Komet!‹ riefen wir aus einem Mund und waren halb bewußtlos, es war aber nur ein Funke aus der Lokomotive — die Eisenbahn fährt ja dicht am Haus vorüber. Du siehst also, Lieber, daß ich jetzt nicht imstande bin, Vorlesungen oder Predigten zu hören. Ich möchte lieber mein Testament machen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Dein Testament machen! Solch ein Unsinn!«

»Ach, aber es würde mir das Herz so erleichtern, wenn ich’s gemacht hätte, denn ich weiß ja nicht, ob ich morgen noch die Kraft dazu haben werde. Freilich sollte man bei klarer Besinnung sein dazu, und das bin ich nicht, aber man wird das der Influenza zugut halten, nicht? Laß doch solch ein Formular für sechs Pence holen, Liebster — schicke Arthur danach. Ich habe diese Formulare bei Cooper in der Upper Bakerstraße gesehen.«

»Ich werde dir keine Formulare geben zu diesem Zweck, und du mußt nicht so viel sprechen, das steigert das Fieber.«

»O, ich muß sprechen, Wilfrid! Wenn ich stillliege und meine Gedanken nicht ausspreche, kommen sie alle durcheinander. Sprechen ist mir nur eine Erleichterung — ich habe mir so den Kopf zerbrochen über meinen Schmuck und meine Schwestern. Ich möchte gern bestimmen, was jede haben soll, weil es viel hübscher sein wird, wenn sie sich nicht darüber zu zanken brauchen, und ich möchte auch meinem Vater etwas hinterlassen — nur weiß ich nicht, was er mit einer Diamantbroche machen sollte? Er liebt Bücher. Darf ich ihm nicht von deinen Büchern etwas hinterlassen?«

»Gewiß, Herzchen, wenn dich’s beruhigt, kannst du ihm mein arabisches Wörterbuch verschreiben!«

»Und, Liebster, wenn du wieder heiratest — ich glaube es zwar kaum, denn du behauptest ja, ich hätte deine Schriftstellerlaufbahn vernichtet, aber schließlich könnte es trotzdem geschehen — so überzeuge dich vorher, ob sie Hunde lieb hat. Ich möchte nicht, daß mein kleiner Pin-Pin eine harte Stiefmutter bekäme. Und — und jetzt will ich mich wieder niederlegen, wenn du mir das Kissen zurechtrücken willst. Mein Kopf ist in einem gräßlichen Zustand, ich weiß kaum mehr, was ich sage.«

Die junge Frau Kaudel lag ein Weilchen schweigend da, dann begann sie von neuem zu flüstern, und Kaudel mußte sich über sie beugen, um sie zu verstehen.

»Wilfrid?«

»Ja, mein Herz?«

»Wenn du doch wieder heiratest, so achte darauf, daß sie meine Blumen pflegt und meinen Kanarienvogel! Und sag ihr, es sei nicht böse Absicht gewesen, wenn ich dich in der Arbeit gestört habe. Es sei eben sehr schwer gewesen, den ganzen langen Tag dazusitzen und mit keiner Seele plaudern zu können, höchstens durchs Telephon mit einem Vater, der hundert Meilen weit weg ist. Gute Nacht, Liebster — geh du jetzt nur an deine Arbeit. Mir ist ganz wohl, ganz wohl. Das Wetter ist wunderschön, und wo ich hinsehe, sind Primeln. Nur sitzen so viele Kaulquappen im Gras und einige davon sind so groß — so groß wie Krokodile …«

Die Stimme war schwächer und immer schwächer geworden, und mit einem Mal war die Kranke eingeschlafen.


»Am andern Tag,« schreibt Kaudel, »war meine Frau bedeutend wohler und die Erholung ging rasch von statten. Allein sie fühlte sich noch einige Zeit schwach und war ziemlich wunderlich, bekanntlich eine Wirkung der Influenza. Ihre besondere Form von Nervosität war, daß sie nicht allein sein wollte, so schrieb ich meinen Aufsatz über die irische Landbill in den Pausen unsrer Gespräche, die sich durchaus um andre Gegenstände drehten. Unter diesen Umständen ist, wie ich gestehen muß, kein sehr wertvoller Beitrag zur ›Geschichte Irlands unter Eduard VII.‹ entstanden, andrerseits gelang es mir vollständig, mich in die Stimmung eines unterdrückten Volks einzuleben.«


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