George R. Sims (1847 - 1922)
Die junge Frau Kaudel
George R. Sims (1847 - 1922)

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Die junge Frau Kaudel pflückt Primeln.

Die junge Frau Kaudel sah zum Fenster hinaus und seufzte. Kaudel war infolge der teuflischen Erfindung, die man Frühjahrsreinemachen nennt, obdachlos und mußte am unteren Ende des Eßtisches einen Stoß Korrekturen durcharbeiten. Es war gegen elf Uhr vormittags und heller Frühlingssonnenschein durchflutete das Zimmer.

Der Kanarienvogel hüpfte in gehobener Stimmung im Käfig herum und schmetterte Triller hinaus, die dem Ohr des Schriftstellers wohlgefällig gewesen wären, hätte ihm die junge Frau Kaudel nicht bei jeder neuen Jubelarie zugerufen: »Höre doch!« Er ertrug auch dies, bis er zum siebenten Mal innerhalb einer Viertelstunde aufgefordert wurde, auf den Vogel zu hören, dann erst blickte er mit einem Laut des Unmuts auf.

»Wie in aller Welt soll ich Korrekturen lesen, wenn du meine Aufmerksamkeit fortwährend ablenkst durch die Ermahnung, dem Vogel zuzuhören?«

»Bedaure sehr,« sagte die junge Frau Kaudel, die Achseln zuckend, »aber ich konnte nicht annehmen, daß ein bißchen Vogelgezwitscher deine Aufmerksamkeit ablenken würde, besonders da du ja nicht arbeitest, sondern liest.«

»Ich arbeite. Jedes Wort muß mit der gesammeltsten Aufmerksamkeit geprüft werden.«

»Und davon lenkt dich das arme Vögelchen ab! Unglaublich! Man denke sich einen Menschen, der nicht lesen kann, weil ein Vogel singt! Wie viele Leute setzen sich im Sommer mit ihren Büchern in Gärten, wo Hunderte von Vögeln singen! Mein Vater pflegte immer die Morgenzeitung in unserm Garten zu lesen und hat sich nie über die Vögel geärgert. Freilich hab’ ich einmal von einem Mann gehört, der nachts das Fenster aufgerissen und seine Stiefel nach einer Nachtigall geworfen habe. Bisher hielt ich die Geschichte für erfunden, jetzt aber kann ich mir die Sache lebhaft vorstellen — jedenfalls war es ein Schriftsteller. Vielleicht täte ich wohl daran, den Kanarienvogel hinauszunehmen, eh’ du deine Stiefel nach ihm wirfst. Solch ein Einfall würde dir ähnlich sehen und würde sich bei einem Mitglied des Vereins zum Schutz der Singvögel besonders nett machen.«

»Meine liebe Mabel!« rief Kaudel, den Stoß Korrekturen ärgerlich zurückschiebend. »Ich habe dir schon gesagt, daß es nicht der Vogel ist, was mich stört.«

»Ach, dann bin ich das Ärgernis? Falls du etwas nach mir werfen willst, nimm nur nicht gerade die Stiefel — ich will dir deine Pantoffel holen.«

»Du bist heute vormittag in gereizter Stimmung. Ist dir nicht wohl?«

»O doch, mir ist so wohl, als es einem Menschen sein kann, der den ganzen Morgen in einem Londoner Haus eingesperrt ist und den Mund nicht auftun darf, weil sein Nebenmensch Korrekturen liest. Du liest ja immer Korrekturen und dieses Haus ist ein Gefängnis.«

»Weshalb nicht lieber ein Zuchthaus, wenn du schon daran bist?« gab Kaudel lächelnd zurück.

»Ja, du kannst natürlich Witze machen darüber, Du kommst ohne Licht und Sonnenschein aus, weil du in London geboren bist. Ich aber bin auf dem Land geboren und aufgewachsen, ich entbehre Wiesen, grünende Hecken und Blumen. Hinter unserm Haus sind prächtige Wälder, und sobald der Frühling kam, pflückten wir Veilchen und Primeln drin. Du hast keine Ahnung, wie mir zu Mut ist, wenn ich die elenden, welken, armen Dinger von Veilchen und Primeln sehe, die man hier in den schmutzigen Straßen feilhält. Sie erzählen mir von grünen Wiesen und sonnigen Wäldern, und dann faßt mich eine namenlose Sehnsucht — ach, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sie schmerzt! — einmal wieder unter den Primeln zu sein, und wär’s auch nur für einen einzigen Tag!«

Kaudel sah den hungrigen, schmerzlichen Blick seines jungen Weibes und war besiegt.

»Das ist ein Stück Poesie in dir, mein liebes Kind, und ich kann dir alles wohl nachfühlen. Mich selbst überkommt manchmal im Sommer solch brennende Sehnsucht — nur fort von London! Nur einen Kieselstein ins Meer werfen können!«

»Das ist ganz etwas anderes! Ich möchte nicht Steine nach den Blumen werfen, ich möchte sie pflücken!«

»Gewiß, gewiß, obwohl der Kieselstein, den ich in die See werfe, diese weit weniger schädigt, als das Pflücken die Blume! Ich liebe die See.«

»Merkwürdige Art, seine Liebe zu zeigen — indem man ›Steine‹ wirft! Vielleicht warf jener wunderliche Kauz die Stiefel auch aus Liebe nach der Nachtigall!«

»Möglich. Und wenn du mich liebst, so wirst du jetzt ein gutes Kind sein und nicht mehr sprechen, bis ich mit diesen Korrekturen fertig bin. Könntest du nicht etwas lesen?«

»Nein, ich habe zu nichts Ruhe. Das macht der Sonnenschein, der Frühling. Wilfrid, ich möchte fort, hinaus und Blumen pflücken. Können wir nicht aufs Land gehen, und wenn’s nur für einen einzigen Tag wäre. Liebster?«

Kaudel sah die Möglichkeit eines Vergleichs dämmern und griff darnach.

»Ja, das wird sich vielleicht machen lassen. Wenn du mich heute gänzlich ungestört hier sitzen läßt bis zum zweiten Frühstück, so wollen wir morgen früh aufstehen und mit der Bahn nach einem Örtchen fahren, wo es herrliche Wälder gibt. Das Nest heißt Lederbach, was gerade nicht sehr poetisch klingt, die Wälder aber sind’s trotzdem. Da fahren wir morgen hin und pflücken den lieben langen Tag Veilchen und Primeln.«

»O, wie entzückend!« rief die junge Frau Kaudel, in die Hände klatschend. »Nun du mir das versprochen hast, sollst du mich bis zur Frühstückszeit weder sehen noch hören, du sollst gar nicht merken, daß ich im Haus bin!«

Und eine Tanzmelodie vor sich hinsummend, trippelte sie zum Zimmer hinaus. Da sie aber unfehlbar jede Türe offen stehen ließ, hörte Kaudel sie auf der Treppe singen:

»Den Strauß hab’ ich gepflücket

Und ihn ans Herz gedrücket …«

Einen Augenblick lauschte er lächelnd der frischen jungen Stimme, dann stand er mit einem Seufzer auf, machte die Türe zu und gab sich einen Ruck, um wieder in Arbeitsstimmung zu kommen.

Kaudel würde sich den Tag, der darnach anbrach, nicht gerade zum Blumenpflücken ausgesucht haben. Der Wind war ein wenig frisch, in der Nacht hatte es stark geregnet und in seinem rechten Fußknöchel spürte er ein rheumatisches Zucken. Seine Frau hatte aber ihr ganzes Herz an den versprochenen Ausflug gehängt, und so machte man sich denn richtig auf. Das einzige, worauf Kaudel bestand, war, daß sie ihren Regenmantel und Schirm mitnahm, und darin lag sicherlich keinerlei Selbstsucht, denn er wußte, daß er diese Ausrüstung den ganzen Tag zur seinigen hin würde schleppen müssen.

In Lederbach waren die Wege etwas schmutzig, und Kaudel erklärte mit einem forschenden Blick auf den Himmel, daß es praktischer sein werde, jetzt, um halb zwölf Uhr, erst zu frühstücken und nachher in den Wald zu gehen.

Sie entdeckten einen vielversprechenden Gasthof, aber der Braten war noch nicht fertig, und so bestellte Kaudel Koteletten. Die junge Frau Kaudel erklärte zwar, es sei barbarisch, die Zeit mit Warten auf Koteletten zu vergeuden, aber Kaudel hatte eine etwas schwierige Verdauung und scheute kaltes Fleisch.

»Nehmen wir Butterbrot und Käse,« schlug die junge Frau Kaudel vor.

»Liebes Kind, Käse ist mein Tod. Ich habe seit Jahren keinen angerührt. Du willst doch nicht haben, daß ich nachher im Wald zusammenbreche und mich in Schmerzen winde, oder?«

»Großer Gott, nein! Wie greulich, sich so etwas auszumalen! Ich hatte mir’s so himmlisch vorgestellt, einen glückseligen, idyllischen Tag unter Primeln zu verleben!«

»Das wird auch kommen,« sagte Kaudel, stieß aber dabei einen unfreiwilligen Schmerzenslaut aus, denn in dem unglücklichen Knöchel begann ein heftiges Zerren.

»Was ist dir, Lieber?« rief die junge Frau Kaudel, über seinen Gesichtsausdruck erschreckend.

»Nichts, nichts!« versetzte Kaudel. »Ich habe mich nur auf die Zunge gebissen.«

Die Koteletten kamen lange nicht, wenigstens erschien die Zeit der jungen Frau, die sich ungeduldig nach dem Wald sehnte, endlos.

»Jetzt könnten sie aber fertig sein,« erklärte sie. »Ich hab’ doch nicht eine Reise gemacht, um hier mit dem Fahrplan vom vorigen Jahr und dem ›Surreyboten‹ in der Stube zu sitzen.«

Sie begann etwas gereizt im Zimmer auf und ab zu gehen, und der dadurch beunruhigte Gatte klingelte und befahl dem Kellner, die Koteletten »tot oder lebendig« zu bringen.

Der Jüngling starrte ihn an und verschwand.

»Wie abgeschmackt, derart mit einem landfremden Kellner zu reden,« bemerkte die junge Frau Kandel zänkisch. »Der versteht doch deinen sogenannten Humor nicht und hält uns für Tollhäusler.«

»Meine Liebe, Humor lag mir im Augenblick sehr fern. Es ist mir nur so entfahren. Ich wollte eigentlich sagen: durchgebraten oder nicht.«

Die Koteletten waren nicht durchgebraten, was einzig und allein Kaudels Schuld war. Da weder er noch seine Frau Liebhaber von blutigem Fleisch waren, beschwerten sie ihre Magen durchaus nicht. Kaudel verbiß seinen Hunger und klingelte schon nach der Rechnung, während er sein Fleisch mit Worcestersauce übergoß, um die Röte nicht zu sehen. Dann wurde sofort aufgebrochen nach dem Wald.

Er war eine gute halbe Meile vom Gasthof entfernt, aber die junge Frau Kaudel freute sich des Spaziergangs, spähte durch die grünenden Hecken und lauschte den Vögeln, die sie am Gesang erkannte, obwohl Kaudel darin keine große Verschiedenheit entdecken konnte. Ihr warmes Interesse für Singvögel kam ihm aber sehr zu statten, denn so oft sie ihm einen Namen genannt hatte, konnte er sagen: »Warte ein wenig; ich will sehen, ob du recht hast,« und die Gelegenheit, stillzustehen, war eine Wohltat für sein Bein. Die Schmerzen waren recht heftig geworden; besonders wenn er den Fuß auf einen losen Stein setzte, war er genötigt, ein paar Ellen weit auf dem andern zu hüpfen.

»Warum machst du denn so seltsame Sprünge?« fragte die junge Frau Kaudel, über des Gatten turnerische Leistungen erstaunt.

»Auf dem Land gehe ich immer so,« behauptete er. »Ich bin so glücklich, daß ich mir einbilde, ein junges Lämmchen zu sein, das über ›Stock und Stein‹ hüpft.«

Endlich war der Wald erreicht, und zwar zu Kaudels großer Erleichterung, denn da er zwei Regenmäntel und zwei Schirme zu tragen hatte, war er etwas müde geworden und hatte sich erhitzt.

Mit einem Jubelruf stürzte sich die junge Frau Kaudel ins Dickicht. Ihr mochte zu Mut sein wie einem Schiffbrüchigen, der wieder festen Grund unter sich fühlt. Kaudel folgte ihr behutsam, denn das Gras war naß und Primeln sah er keine. Er spähte ängstlich um sich. Wenn doch am Saum des Waldes ein netter Felsbrocken gewesen wäre, wo er, gegen einen Stamm lehnend, hätte ausruhen können, aber er sah nur welkes Laub, Gestrüpp und Unterholz, alles noch durchnäßt vom nächtlichen Regen.

»Nur vorwärts!« sagte die junge Frau Kaudel. »Im Herzen des Waldes finden wir Primeln genug; sie suchen sich immer nette schattige Plätzchen aus.«

Leichtfüßig stieg sie über das Gestrüpp. Kaudel folgte, vorsichtig einen Pfad suchend, und endlich gelangten sie zu den Primeln. Jauchzend flog Frau Kaudel in die feuchte sumpfige Niederung, wo die blaßgelben Blümchen standen, kauerte nieder und pflückte sie in das Körbchen, das sie zu dem Zweck mitgebracht hatte.

»O!« rief sie plötzlich. »Sieh nur die wunderschönen da drüben!«

Sie drang tiefer und tiefer in den Wald hinein, und da Kaudel den Blumenkorb zu tragen hatte, mußte er wohl oder übel Schritt mit ihr halten, so gut es ging. Sich zu rheumatischen Schmerzen zu bekennen, brachte er aus Eitelkeit nicht über sich, ja er gab sich gewaltsam den Anschein, seelenvergnügt zu sein. Gelegentlich bückte er sich sogar, um selbst eine Blume zu pflücken, obwohl die beiden jetzt einen Waldwinkel erreicht hatten, wo das Gras so naß war, daß die Handschuhe, die Kaudel angezogen hatte, um das Gestrüpp beiseite zu schieben, vollständig durchnäßt wurden.

»Komm nur,« sagte Frau Kaudel. »Ich bin überzeugt, daß wir weiter drinnen immer noch schönere finden.«

Kaudel war willig, aber der Rheumatismus nicht. Er versuchte, weiterzugehen, konnte aber nur noch humpeln, und so mußte er sein Leiden eingestehen.

»Ich kann nicht weiter,« sagte er. »Ein plötzlicher Anfall von Rheumatismus …«

»O Wilfrid!« rief die junge Frau Kaudel. »Klage doch nicht über Rheumatismus. Das ist so furchtbar ältlich.«

»Keineswegs!« entgegnete er entrüstet. — »Das Übel ist seit Jahrhunderten in meiner Familie; meine Schwester hat schon daran gelitten, als sie erst sieben Jahre alt war.«

»Armer Kerl!« sagte die junge Frau Kaudel mitfühlend. »Stütze dich auf mich, ich will dich aus dem Wald hinausbringen.«

Sie streckte ihren Arm aus, daß er sich darauf stütze, und dabei fiel ihr Blick auf ihr Handgelenk.

»O Wilfrid! Ich habe mein Armband verloren!«

»Das Armband von mir aus der Brautzeit?«

»Ja, und deshalb darf’s nicht verloren sein! Ich weiß gewiß, daß ich’s noch hatte, als wir in den Wald kamen. Ich muß es suchen.«

Und spornstreichs lief sie in der Richtung zurück, aus der sie herkamen. Kaudel wollte ihr folgen, blieb aber stöhnend stehen.

»Bleib, wo du bist!« rief ihm seine Frau zu. »Ich komme zu dir, sobald ich das Armband habe.«


Kaudels Schlußbemerkungen zu diesem Abschnitt sind ergreifend:

»Den Fuß in die Luft streckend, lehnte ich gegen einen Baum und empfand eine Weile lang nichts als die Wohltat der Ruhe. Mit einem Male aber befiel mich eine Angst, denn ich sah und hörte nichts mehr von meiner Frau. Ich rief — keine Antwort. Sie zu suchen, wagte ich nicht, denn wir hätten beide den ganzen Wald durchstreifen können, ohne uns zu begegnen. Sie hatte mir befohlen, zu bleiben, wo ich war, ich blieb also; mit einem Male aber begann es heftig zu regnen. Frau Kaudel hatte beide Regenmäntel und beide Schirme bei mir zurückgelassen. Ich fluchte der Stunde, da ich auf Primelnsuchen im nassen Wald eingegangen war, und überlegte mir, ob ich nicht in den Gasthof zurückgehen und von dort Leute ausbieten solle, die den Wald nach ihr durchstreiften, aber so lahm, wie ich war, würde ich eine Stunde gebraucht haben, um hinzuhumpeln.

»Während ich mir noch überlegte, ob ich nicht auf den Baum klettern und von da aus nach Hilfe rufen solle, kam meine Frau. Sie war durchnäßt, die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, aber sie hielt mir triumphierend das Armband vor die Nase.

»Die Freude, sie heil und ganz wiederzuhaben, ließ mich für den Augenblick meine Schmerzen vergessen. Auf ihren Arm gelehnt, arbeitete ich mich auf die Straße hinaus, wo wir zum Glück einen leeren Fiaker trafen, der uns zum Bahnhof beförderte.

»Als wir den Mann abgelohnt hatten und uns im Wartesaal niederließen, rief meine Frau plötzlich: ›Wo sind denn die Blumen?‹

»Ich hatte das Körbchen im Wald neben mich gestellt und dort gelassen.«


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