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12. Kapitel. Wie es zu Ende geht.

Und Friedrich Leander war wirklich unschuldig.

Das war eine bitterböse Stunde, die Herr Franz Schilling in dem großen Arbeitszimmer des Geheimrats erlebte. Gleich nach seiner Heimkehr hatte dieser nach dem Direktor geschickt, der kam auch gleich, war bleich und verwirrt, er wandte und drehte sich und mußte doch seine Schuld eingestehen. Als Pfand hatte er die wertvolle Sammlung gegeben, und weil er die Schuld, die er in der Sucht, rasch reich zu werden, durch eine falsche Spekulation sich aufgeladen hatte, nicht rechtzeitig einlöste, hatte sein Geldgeber rücksichtslos die wertvollsten Stücke verkauft. Der Rest der Sammlung stand nun in seinem Haus in Hamburg. Und weil er sich schuldig fühlte, war er hart gewesen. Er meinte, Friedrich Leander würde als Kaufmann dann weniger Interesse für die Sammlung haben. Als der aber bei seinem Willen verharrte, hatte er ihn aus Angst vor der Entdeckung dem Geheimrat in einem falschen Licht geschildert. Der Geheimrat hatte Ellen zu sich laden wollen, aber da hatte die Hofrätin, die von der Schuld des Sohnes freilich nichts wußte, Ellen bei sich aufnehmen müssen, der Sohn hatte sie dringend gebeten, jeden Verkehr mit den Verwandten möglichst einzuschränken.

»Arme, verlassene Kinder!« Der Geheimrat sagte nur dies Wort nach dem Geständnis seines Verwandten, tief traurig klang es, und kein heftiger Zornesausbruch, keine lange Rede hätte Franz Schilling mehr erschüttern können als diese schmerzliche Klage. In diesem Augenblick stieg erst riesengroß das Gefühl seiner Schuld vor ihm auf. Verlassene, verwaiste Kinder hatte er betrogen, einen väterlichen Freund getäuscht!

Geheimrat von Thurn machte dem Schuldigen keinen Vorwurf, denn er machte sich selbst den bittersten Vorwurf, eine übernommene Pflicht nicht erfüllt zu haben, er zeigte nur nach der Türe und sagte hart: »Geh!«

Direktor Schilling zögerte ein paar Herzschläge lang, dann murmelte er leise: »Ich will es gut zu machen suchen!«

Er ging mit gesenktem Kopf durch die schöne Halle des stillen Hauses und durchschritt den Garten. Die Tür schloß sich hinter ihm, und langsam ging er den Höhenweg hinab. Zum ersten Male empfand er bei diesem Hinabgehen auf dem Höhenweg, daß er in seinem Leben nicht immer in die Höhe sondern wie jetzt auf diesem Wege abwärts gegangen war.

Ob es ihm wohl gelang, den rechten Weg zu finden?

Vor dem Hause des Forstrats stockte sein Fuß. Da drinnen war Friedrich Leander. Sollte er, der so viel ältere Mann dem, den er fast noch als Knaben ansah, sagen: »Verzeih mir, nimm mir die Last der Schuld von meiner Seele!«

»Unmöglich!« Franz Schilling sagte es ganz laut zu sich selbst, rannte die paar Schritte bis zu seiner Mutter Haus hinab, und als er im Flur die kleine Marie traf, herrschte er sie an: »Ich reise ab, sagen Sie meiner Mutter nichts.« Er ging in sein Zimmer, packte in Hast, schrieb seiner Mutter kurz, beinahe hart alles, was geschehen war, dann rannte er aus dem Hause, sah sich weder rechts noch links um und stieg auf dem Bahnhof in einen Zug, der gerade abging und der ihn erst auf einem Umweg nach Hamburg führte.

Zur gleichen Zeit, als Direktor Schilling Wolkenburgs letzte Häuser entschwinden sah, klinkte der Geheimrat von Thurn die Haustüre bei Andernachs auf. Die alte Minna knixte tief, als er den Hausflur betrat, von ihr erfuhr er, daß noch alle im Garten waren. Den Weg fand er leicht, brauchte er doch nur einer schönen jungen Stimme nachzugehen, die ein altes wehmütiges Lied sang. Ellen Leander brauchte ja jetzt nicht mehr zu schweigen, und in der Unruhe dieser Wartestunden hatte Fräulein Regine gebeten: »Ellen, sing doch etwas!«

Und Ellen sang und sang, bis der Geheimrat von Thurn unerwartet in den Kreis trat. Sie waren alle beisammen, Fräulein Regine Andernach, Frau Bienert und Doktor Berner, auch der Forstrat war dazu gekommen. Aber ehe der Geheimrat sie alle begrüßte, nahm er Friedrich und Ellens Hände in die seinen und bat in herzlicher Weise: »Verzeiht, es ist euch großes Unrecht geschehen.«

Nun gab es an diesem Sommerabend viel zu erzählen. Der Geheimrat bat, alle möchten zu ihm in seine Wohnung kommen, sie wollten heute erst die Ankunft der Geschwister feiern. Da rutschte Frau Bienert mit ihrem Stuhl bescheiden aus dem Kreis, doch der Geheimrat wehrte: »Reißen Sie nicht aus, Sie dürfen auf keinen Fall fehlen.«

Mutter Bienerten wurde noch röter, als sie schon war und sagte strahlend: »Na ja, wir sind doch 'ne alte Bekanntschaft.«

Davon hatte der Geheimrat von Thurn noch nichts gewußt, aber als Frau Bienert von vergangenen Zeiten mit ihm sprach, da wurde er so heiter wie selten.

»Das weiße Kleid müssen Sie aber anziehen, Fräulein Ellen,« sagte Frau Bienert dann, als sich alle zum Feste rüsteten.

O weh, wo war das! Ja richtig es hing noch bei Schillings, was machen wir jetzt? Aber Frau Bienert erbot sich sofort, es zu holen, sogar Doktor Berner wollte es tun, aber Ellen bat leise: »Heute nicht, die arme Tante Schilling.«

»O je, warum bin ich auch so viel kleiner, du könntest sonst mein neues Weißes anziehen,« rief Ursel. Sie schaute betrübt auf Ellen, die noch immer das schlichte dunkelblaue Kittelkleid trug, in dem sie aus dem Haus der Tante geflohen war.

Regine Andernach nahm Ellen unter den Arm. »Komme einmal mit zu mir, wir wollen uns zusammen schmücken,« sagte sie.

Da muß ich auch dabei sein, begehrte Ursel, und Friedrich meinte, auch er müsse sehen, was aus seiner Schwester würde, doch diesmal verwehrte ihnen die Tante das Mitgehen. Nachher staunten sie dafür aber umsomehr, was aus Ellen geworden war. Sie glich einem duftigen Bilde. Fräulein Regine hatte ihr einen alten wundervollen Spitzenkragen, der weit über die Ärmel fiel, umgelegt, hatte ihn vorn mit ein paar roten Rosen geschlossen, sie hatte auch der Nichte selbst das blonde Haar geordnet und ein paar zierliche goldglänzende Schuhe herausgesucht, ebenso passende Seidenstrümpfe dazu. »Die trug ich auf meinem letzten Ball,« hatte sie dazu wehmütig geäußert, »ich denke, sie müssen dir passen.« Und es war damit, wie mit den Aschenbrödel-Schuhen, Ellen schlüpfte hinein, und sie paßten. Und wie Aschenbrödel, so lieblich stand sie dann in ihrer schüchternen, dankbaren Freude vor der Tante, die selbst in einem schlichten, silbergrauen Kleide einfach und doch fast königlich aussah. Sie nickte Ellen liebevoll zu: »Jungvolk will auch einmal ein bißchen Schmuck und Tand tragen,« sagte sie gütig. »Sonst für den Alltag gefällst du mir gerade in deinen einfachen Kleidern sehr gut, am besten freilich in dem weißen Leinenkleidchen, in dem du zum ersten Male zu mir kamst.«

Da erzählte Ellen froh die Geschichte dieses Kleides, und als sie nachher alle zusammen den Höhenweg bis zu des Geheimrats Hause hinaufstiegen, da ging Fräulein Regine Andernach neben Frau Berta Bienert, und sie redeten noch herzlicher und vertrauter miteinander als vorher.

Ursel Andernach aber ging mit klopfendem Herzen zwischen den Geschwistern einher. Vor der Haustüre holte sie tief Atem und sagte bedrückt: »Paßt auf, mir passiert wieder etwas, irgendein Unheil geschieht sicher, ich spüre es.«

Die Geschwister versuchten die kleine Zaghafte zu ermutigen, Friedrich versprach sogar, ihr männlichen Schutz und Hilfe angedeihen zu lassen, und Ursel betrat daraufhin etwas beruhigter das Haus, an das sich für sie eine so beschämende Erinnerung knüpfte. Sie wurde mit besonderer Güte von dem Geheimrat empfangen, und hatte zum ersten Male das Gefühl in einer Gesellschaft wie ein erwachsenes Fräulein behandelt zu werden. Sie gab sich darum auch die allergrößte Mühe, sich würdevoll zu benehmen. Ein paarmal sah sie Onkel Gerhard ganz verwundert an, ja, wo ist denn Urschel-Purschels Übermut geblieben, dachte er?

Die Heiterkeit war überhaupt an diesem Tage etwas gedämpft, da fast nur von Vergangenheit und Zukunft gesprochen und dabei im Stillen an die Schillings gedacht wurde, die doch dazu gehörten und heute ferne stehen mußten.

Der Geheimrat ließ sich von Friedrich und Ellen ihre Zukunftspläne sagen und stimmte gleich zu, als Friedrich bat, der Schwester das Musikstudium zu gestatten. Frau Bienert saß dabei, und ihr Herz schlug vor Freude, nur mußte sie immer denken: Nun verliere ich die zwei, meine Kinder verliere ich!

Da fragte auch wirklich plötzlich der Geheimrat: »Und mit eurem Wohnen, wie wird es da, wäre es nicht besser für Ellen, sie käme in eine gute Damenpension?«

»Wir möchten bei Mutter Bienert bleiben,« wie aus einem Munde klang das Wort, die Geschwister hatten sich nur angesehen, sich zugenickt und schon stand dabei ihr gegenseitiger Wille fest.

»Ih näh!« Frau Bienert lachte halb verlegen. »Bei mir ist's nicht scheene, die beiden sind doch für was Besseres!«

»O, Mutter Bienert!« Ellen legte ihre Arme um den Hals der guten mütterlichen Frau, und in ihrer Stimme klang ein Weh, als sie sagte: »Bei Ihnen ist's doch wie in der Heimat. Wo anders sind wir in der Fremde.«

»Es soll mir auch so recht sein! Wenn ihr erst in Amt und Würden seid, dann kann die Sache ja umgekehrt werden, dann zieht Frau Bienert zu euch, mag es also bleiben, wie es ist!« Der Geheimrat dachte, Entbehrungen äußerlicher Dinge sind nicht schwer in der Jugend zu tragen, sie stählen den Charakter, und er war zufrieden, daß seine Schützlinge die Frau nicht verlassen wollten, die so treu für sie gesorgt hatte.

Und wie das alles so mit den Zukunftsplänen besprochen wurde und sich ohne Hindernis abwickelte, faßte Ursel Mut und platzte plötzlich heraus: »Ich wünsche mir auch etwas.«

»Hallo! Was könnte in aller Welt denn das sein?«

»Vor einem halben Jahre noch hätte ich gedacht, vielleicht eine Puppe, aber da ich heute sehe, daß aus meiner Nichte Urschel-Purschel, eine junge Dame geworden ist, bin ich doch sehr neugierig,« rief der Geheimrat.

»Das bin ich aber auch,« stimmte der Forstrat ein.

»Ursel, willst du vielleicht auch studieren?«

»Ja,« antwortete Ursel ganz kurz und bestimmt, und eine ernste Falte furchte ihre junge Stirn. »Ich will mehr lernen, will Stunden nehmen und will Marie dazu haben.«

Marie! Onkel und Vater wußten nicht gleich, wer diese Marie wohl sein könne, aber Ursel erzählte sehr eifrig von dieser ihrer Jugendfreundin, der einzigen, die sie bisher hatte und auch von deren Sehnsucht, etwas Richtiges zu lernen. Ja, sie beide wollten zusammen lernen. Marie sollte später ihr Lehrerinnen-Examen machen, sie selber aber wollte studieren.

»Jemine, was denn?« rief Doktor Berner höchst erstaunt, denn zu langer ernster Lernarbeit schien ihm die kleine wilde Ursel doch recht wenig geeignet.

»Nichts von den alten Griechen und Römern,« rief Ursel flink, »ich will wissen, wie es im Walde und unter ihm aussieht, wie Bäume werden und die Pflanzen leben. Ich will wissen, welchen Namen jede Blume hat und – wie ihre Seele ist!« Sie hielt sich plötzlich die Hände vor das Gesicht, und die anderen sahen sie ernsthaft an; sie merkten alle, da steckte etwas in der kleinen Ursel, das zum Lichte drängte, das war nicht Laune und Spiel, das war Sehnsucht nach ernster Arbeit. Der Forstrat nickte seinem Kinde gewährend zu. Dies war zu viel für Ursel, das brachte ihren Ernst stark ins Wanken. Mit einem Freudenschrei flog sie empor, sie fühlte die Sehnsucht ihren Vater zu umarmen. Doch leider saß zwischen dieser Sehnsucht und ihrer Erfüllung der gute Doktor Berner auf einem etwas wackeligen Gartenstuhl, sie waren beide nicht auf einen Anprall mit Ursel vorbereitet, und darum sank plötzlich der Gartenstuhl mit hörbarem Krach zu Boden, und der Doktor streckte gegen alle Gesellschaftssitte seine Beine in die Luft.

»Potzwetter,« stöhnte der Doktor, »aber liebes Fräulein Ursel, warum lassen Sie mich denn nicht auf meinem Stuhle sitzen!« Er stand mit des Forstrats Hilfe wieder auf, Friedrich sprang zu, und Fräulein Regine sagte erschrocken: »O Ursel,« aber der Geheimrat lachte. Er lachte so herzlich, wie man ihn seit Jahren nicht hatte lachen hören, er streckte die Arme aus, und plötzlich lag Ursel darin, sie weinte und lachte und sagte zwischendurch ganz, ganz leise: »Onkel Gerhard, ich hab' dich so lieb.«

»Meine kleine liebe Ursel!« Der Geheimrat hatte immer die Liebe dieses Kindes gespürt, hatte sie hingenommen wie etwas Selbstverständliches, und erst als Ursel nie mehr gekommen war, hatte er sie vermißt. Nun durfte Ursel den ganzen Abend über neben ihm sitzen, und es wurde zuletzt ein richtiges heiteres Familienbeieinander. Und Ursel, die erst Ellen zugeflüstert hatte: »Paß auf, es geschieht noch ein Unheil,« vergaß ihre Angst vollständig. Da fiel denn auch kein Glas um, sie riß die Tischdecke nicht herab, purzelte nicht unversehens unter den Tisch, und sagte auch keine Dummheit, friedlich und fröhlich verrannen die Stunden. Zuletzt nur, da gab es noch einen kleinen lustigen Streit um Frau Bienert. Tante Regine wollte sie haben, und die Jugend wollte sie als Wohngast haben, aber die Tante blieb Siegerin, und der Doktor Berner sagte: »Mutter Bienert ist bei uns auch am besten aufgehoben.« Denn er fühlte sich bei der gütigen Tante so zuhause, daß ihm das ›Uns‹ ganz selbstverständlich über die Lippen kam.

»Und ich werde ganz allein gelassen,« meinte der Geheimrat. Es sollte scherzhaft klingen, klang aber doch etwas wehmütig. Aber er sollte bald wieder anders empfinden, denn die Jungen, zu denen sich auch Doktor Berner fröhlich gesellte, riefen: »Wir alle besuchen dich oft.« – »Jeden Tag,« fügte Ursel noch hinzu und dieser Ausruf fand ein dreistimmiges Echo.

»Also abgemacht, mir soll es nur recht sein, kommt so oft ihr alle mögt, mein Haus steht offen, und mein Herz wird sich über euch freuen.«

Mit solchen Worten entlassen zu werden, ist erfreulich für den Abschied. Der Helle Himmel, der noch vom verschwindenden Mond sein Licht empfing, leuchtete zum Heimweg. Die Leanders und Ursel behaupteten, noch nicht müde zu sein, dagegen kämpfte Doktor Berner bereits gegen das Gähnen an. »Geht meinetwegen auch noch in den Garten, ihr Jungvolk,« sagte der Forstrat, »singt auch, wenn ihr wollt, aber bitte nicht gerade unter meinem Fenster, denn ich muß morgen früh schon um 3 Uhr aufstehen.«

»Es wäre weit besser, wenn ihr ins Bett ginget,« behauptete Fräulein Regine. Als sie jedoch den dreien in die strahlenden, noch ganz wachen Augen sah, mußte sie sich gestehen: Als ich jung war, mochte ich in Sommernächten auch nicht immer zu zeitig schlafen gehen.

»Ich finde es eine Kater-Idee,« brummte Doktor Berner, den seine vielen Wege in der Hitze doch sehr müde gemacht hatten, und Mutter Bienert warnte vor Erkältung. Aber dies brachte die junge Gesellschaft nur in die heiterste Laune, sie wurden dadurch noch munterer und als Regine Andernach mit ihren Gästen das Haus betrat, erklang aus dem Nachbargarten seliges Lachen herüber. Es verhallte hie und da, ertönte von neuem wieder, entfernte sich und kam wieder näher und gerade als Doktor Berner etwas eilig in das Bett steigen wollte, dachte er, wie nahe das doch klingt, fast schon als wären die drei hier im Garten.

Regine Andernach hörte das Lachen auch, während sie am offenen Fenster saß und voll Sorge an ihre Schwester dachte. Diese hatte ihr allezeit doch manch Unliebes zugefügt, aber Schwester ist Schwester, und nun, da sie wußte, welch großer Schmerz sie betroffen, vergaß sie das alles. Darüber vergaß sie auch fast das frohe Lachen im Nachbargarten. Auf einmal aber fiel ihr die große Stille dort drüben doch auf. Die Bäume rauschten draußen, aber sonst war kein Laut mehr zu hören, auch kein Singen. Waren die drei nun doch noch müde geworden? Jetzt ließ sich ein Flüstern vernehmen, es war ganz leise, es knisterte etwas und knackte hie und da und dann wurde es wieder ganz still.

Gewiß sind sie in die Himbeeren gegangen, dachte Fräulein Regine, kehrte wieder zu ihren früheren Gedanken zurück und sann weiter in die Nacht hinaus. Sie ging viele Jahre zurück in ihrer Erinnerung bis zu der Zeit, da sie und ihre Schwester jung wie Ursel und Ellen gewesen waren und damals auch in den Himbeeren gesessen hatten.

Dies taten die drei in diesem Augenblick aber nicht, sondern Ursel kletterte soeben behend über die halbhohe Gartenmauer, die den Schillingschen Garten von demjenigen, in dem Fräulein Regine wohnte, trennte. Es war an der gleichen Stelle, an der damals Friedrich am ersten Abend übergeklettert war. Der heimliche Besuch galt diesmal der kleinen Marie. Ursel hatte Licht in ihrer Kammer gesehen und der Wunsch, ihr gleich noch zu verkünden, was ihr bevorstände, war in ihr lebendig geworden. Ellen warnte zwar vor Flick und dem Kleiderzerreißen, doch Ursel fürchtete beides nicht. Sie turnte vergnügt in den Garten hinab und schlich dann sachte zum Haus hin. Durch leises Rufen gedachte sie Marie herabzulocken. Als sie sich jedoch dem Hause näherte, bellte plötzlich der Hund auf, der treue Flick und – – – was war das – – – aus einem finsteren Laubengange tauchte eine dunkle Gestalt auf.

Ursel blieb erschrocken stehen. In ihrem weißen Kleide in der hellen Nacht war sie weithin sichtbar, und Flick hätte sich das Bellen ersparen können. Aber wer war das, der da allein durch den Garten ging?

Auf einmal stand Ursel ihrer Tante Schilling gegenüber und sah in ein verstörtes, trauriges Gesicht hinein. »Ursel,« fragte die Frau, »was willst denn du hier?«

»Ich – ich wollte Marie nur noch etwas sagen,« stammelte Ursel. Die Stimme der Tante hatte fremd und heiser geklungen, ihre Augen starrten traurig in den Garten hinein. »Marie,« wiederholte sie, »ach so, sie soll wohl Ellens Sachen bringen. Ja, ja, sie kann es morgen früh tun.«

Dieser müde, gebrochene Ton in der Stimme, das ganze Aussehen der sonst so stolzen Frau bewegte Ursel tief. Ein namenloses Mitleid stieg in ihr auf, es ergriff sie eine Ahnung, wie schwer eine Mutter leidet, wenn sie ihren Sohn sinken sieht, und in diesem Augenblick vergaß Ursel, was sie an ihrer Tante nicht leiden mochte, und was ihr dieselbe angetan hatte. Unwillkürlich griff sie nach deren Hand und hielt sie mit ihren warmen jungen Händen umschlossen.

Zu sagen wußte sie nichts, aber in Frau Schillings Herzen begann eine Quelle zu rieseln, die sie selbst mit ihrem Hochmut, ihrem Stolz und kaltem Egoismus verschüttet hatte. Sie ließ sich von Ursel begleiten und nach dem Hause führen. Seit sie ihres Sohnes Bekenntnis seiner Schuld erfahren, hatte sie sich so einsam und verlassen gefühlt, fast ausgestoßen von ihrer Welt. Und nun war da ein junger warmherziger Mensch, der ihre Hand hielt, wie wohl das tat.

Ursel Andernach ging still neben ihr her und dachte nur immer: »Könnte ich ihr doch helfen.« Und als sie das Haus erreichten, und die paar Stufen, die hinaufführten, legte sie sacht ihren Arm um die Tante und führte sie hinauf. Oben brannte das Licht noch im Flur, und nun sahen sich die beiden erst recht an. Noch müder, kummervoller, gebrochener als im fahlen Mondlicht erschien Frau Schilling der Nichte, und diese wieder sah ein so warmes Glänzen in Ursels Augen, daß sie ganz plötzlich das junge liebe Ding in ihre Arme schloß. »Du bist gut,« sagte sie viel weicher, als sie Ursel jemals hatte reden hören. Und dann quoll jäh eine tiefe Bitterkeit in ihr auf, und rauh fuhr sie fort: »Von den andern wird nun niemand mehr zu mir kommen.«

»Doch; ich glaube, sie kommen alle,« rief Ursel. »Und – und,« sie wollte der Tante ein gutes Wort sagen, rang danach, und dann stieß sie plötzlich heraus: »Es wird alles wieder gut, sei nicht so traurig!«

Frau Schilling strich Ursel sacht über das etwas wirre Haar. »Geh jetzt heim,« sagte sie sanft, »und – besuche mich bald – willst du?«

Ursel nickte. »Ich komme gern,« sagte sie schlicht. Noch vor wenigen Stunden hätte sie das nicht sagen können, jetzt fühlte sie, sie würde gern bei dieser traurigen Frau sitzen, würde ihr gern Licht und Frohsinn in das vereinsamte Haus tragen.

Ein paar Minuten standen sie noch still zusammen, dann sagte Frau Schilling sogleich: »Nun mußt du wohl heim – wie bist du denn hereingekommen?«

Ursel wurde rot. »Über Tante Regines Gartenmauer,« sagte sie treuherzig, »sie ist nicht hoch.«

Wie hätte sonst die Tante Schilling darüber gezankt, jetzt fragte sie nicht einmal, bist du allein, war es so dringend? Dann fiel ihr ein, daß zwischen den Mauern eine Tür war, früher war sie selbst durch diese Tür gegangen, jetzt schon lange, lange nicht mehr. Warum nur? War die Schwester da drüben nicht immer liebevoll gewesen, und hatte der Bruder sie nicht einst gebeten: »Sei gut gegen meine arme kleine mutterlose Ursel!«

Es gibt Abrechnungstage im Leben, an denen alte Schulden laut werden, an denen Menschen plötzlich aus dem behaglichen seichten Tagesleben aufwachen und sich dessen bewußt werden, was sie versäumt haben. Einen solchen Tag hatte Frau Schilling durchlebt, aber vielleicht wäre sie in Verbitterung und Haß versunken, wenn Ursels kleine warme Hand sie nicht in die ihre geschmiegt hätte. Sie ließ Ursel gehen, den Gartenweg, den diese gekommen, und sie horte noch deren helles Rufen: »Morgen komme ich wieder.«

Dies Wort war wie ein liebes Weihnachtslichtlein in der dunklen Nacht, die die einsame Frau durchweinte. Ihr Sohn, ihr Stolz, den sie hoch über alle Menschen gestellt hatte, war von seiner Höhe herabgefallen, tief, tief. Er hatte anvertrautes Gut unterschlagen, hatte eines väterlichen Freundes Vertrauen betrogen. Es war schon gut, daß die kleine Ursel Andernach gekommen war; sie hatte alle Milde im Herzen der Tante geweckt. Als der Morgen graute, schrieb diese nicht, wie sie erst gewollt, einen bitterbösen harten Brief an den Sohn, sondern sie schrieb gute Mutterworte, und wie sie die schrieb, fühlte sie, daß sie in ihrem Leben viel zu wenig gute Mutterworte gesagt, viel zu sehr äußere Ehre, Stand und Reichtum betont hatte. Und sie erkannte, auch sie trug mit Schuld an dem Geschehenen, und darüber weinte sie bitterer als über des Sohnes Vergehen.

Ursel Andernach aber fand den Weg über die Gartenmauer zurück, und drüben, als Vetter und Base sie etwas ängstlich begrüßten, denn die hatten die Begegnung von ferne gesehen, löste sich ihre Bewegung in Tränen. Sie weinte so jämmerlich, daß Friedrich und Ellen glaubten, sie hätte von der Tante böse Worte gehört.

Es hätte beinahe einen Streit darum gegeben, denn Friedrich wollte von Verzeihung, Mitleid, Milde, von allen diesen weicheren Gefühlen nichts wissen. Darüber erzürnte Ellen fast. Sie gingen auf den Wegen des stillen Gartens, stritten miteinander, und ihr Sprechen wurde immer lauter. Da steckte auf einmal oben jemand den Kopf zum Fenster heraus und Doktor Berner schalt: »Zum Kuckuck, was ist denn das für ein Geschwätz. Es ist nachtschlafene Zeit, meine Herrschaften.«

Die drei mußten herzhaft lachen, und all ihr Zorn löste sich während dieses Lachens. Sie drohten mit den Fingern zum Fenster des Doktors empor und dabei kam ihnen der Gedanke: wir bringen ihm ein Ständchen.

Ellen gab den Ton an und keck und übermütig erklang das Lied von den ›Neunundneunzig Schneidern‹ durch die Nachtstille.

»Sind die denn verdreht geworden?«

Der Doktor horchte auf; da war das Lied zu Ende.

Klar setzte nun Ellens Stimme allein ein und tönte feierlich durch die Sommernacht. »Es war, als hätte der Himmel die Erde still geküßt,« und mit diesem schönen Sange an die Mondnacht war das Ständchen zu Ende und husch, husch, enteilten die Sänger dem Garten; auch sie waren jetzt müde geworden. Doktor Berner aber murmelte leise für sich noch des Liedes Worte:

»Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande
Als flöge sie nach Haus!«

Als der Doktor noch den Sang zu hören meinte, schlossen die anderen schon die Haustüre hinter sich zu und Ellen umschlang Ursel im Flur und sagte zu ihr: »Ich gehe morgen mit zu Tante Schilling!«

Friedrich Leander hatte nichts dagegen einzuwenden.

Auch der Forstrat und seine Schwester Regine fanden den Weg zu ihrer Schwester und gute, warme Worte für die Gebeugte.

Sogar Doktor Berner strich um das Haus. Er überlegte sich dabei, daß auch er ihr einen Abschiedsbesuch machen könne.

Dann erhielt der Geheimrat eines Tages den Besuch des Grafen von Weiler und dieser zeigte ihm einen Brief, den Direktor Schilling an ihn geschrieben hatte.

Ein reumütiges Schuldbekenntnis, eines, das dem hochmütigen Manne wohl unsäglich schwer geworden sein mag. Der Brief enthielt die Bitte, die Stücke aus der Leanderschen Sammlung zurückkaufen zu dürfen. Darüber war nun der gute Graf in eine arge Bedrängnis geraten. Er sah ein, die Stücke gehörten wohl in die Leandersche Sammlung zurück, aber hergeben wollte er sie auch nicht.

Was also tun? Der Geheimrat sollte raten und Doktor Berner sollte raten, beide sagten: ›Zurückgeben‹. Aber Friedrich und Ellen Leander, die inzwischen des Grafen Sammlung und die Liebe und Freude gesehen hatten, mit der er seine Schätze hütete, waren sich einig darüber, »jetzt sollen sie dort bleiben, so schön können wir sie lange nicht aufstellen«.

Dann müßten sie aber öfter kommen und sie ansehen, müßten auch einmal als Feriengäste bei ihm verweilen, verlangte der Graf, und die Geschwister sagten ja dazu und rechneten nachher aus, daß sie nun schon für viele kommende Ferien Gaststätten hätten.

An diesem Tage, spät noch, als schon der Abend dämmerte, ging der Geheimrat von Thurn auch noch zu Frau Schilling. Er sprach zu ihr von ihrem Sohn, Vergebung lag in seiner Stimme und der Glaube an das Tüchtige, das Wahre in Franz Schilling. Als er wieder weg war, ging Frau Schilling durch ihren Garten und weinte erlösende Tränen. Dabei fand sie auf dem Mäuerlein, das ihren Garten von dem der Schwester schied, drei lustige Vögel sitzen, und die kleine Marie stand unten und sah strahlend zu ihnen empor, übermorgen war ihre Pflichtzeit um, da würde sie zu Ursel Andernach ziehen und mit ihr lernen. Als Frau Schilling sich nahte, sprachen sie alle davon. Es entstand ein verlegenes Schweigen, aber die Tante tadelte nicht wie früher, sie sprach ein paar freundliche Worte, trug Grüße an Schwester und Bruder auf und fragte, ob Frau Bienert schon abgereist wäre.

Ja, die war fort, und Doktor Berner wollte auch fort, er hatte aber seinen Koffer zum dritten Male wieder ausgepackt, und nun hatte Tante Regine ihn als vorläufig überflüssig auf den Boden tragen lassen. Frau Schilling lachte ein wenig, nickte den Mauergästen zu und fragte: »Wollt ihr nicht einmal zu mir zum Kaffee kommen, morgen?«

Ein zweistimmig frohes herzhaftes ›Ja‹ ertönte, dann kam leiser, zögernder Friedrichs Antwort nach, weil ihn die Tante ansah, fast bittend, sagte er auch ja.

»Also auf Wiedersehen morgen!« Frau Schilling ging wieder tiefer in den Garten hinein und dachte dabei, wie gut sie es doch eigentlich hätte, sie konnte von Garten zu Garten gehen, erst zur Schwester und ein Stück Höhenweg hinauf, auch zum Bruder. Und oben am Höhenweg lag das weiße schöne Haus des alten Gelehrten, auch das war ihr nicht mehr verschlossen, und einmal würde die Stunde kommen, wo auch ihr Sohn wieder den Höhenweg hinanschreiten könne.

Und wie sie so ging, kam ein holdes Tönen durch die Luft, die drei auf dem Mäuerlein sangen heitere Lieder, sie sangen, obgleich der Sommer schon auf den Beeten blühte, von Frühling, und die kleine Marie stand still mit gefalteten Händen dabei. Wie schön war das Singen, wie schön war es auf der Welt, und während sie so lauschte und ganz tief hinein in die Gartenpracht sah, die weit, weit sich bis zur Höhe hinzog, dachte sie, viel schöner könnte es wohl nicht an vielen Plätzen in der Welt sein als am Höhenweg.


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