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4. Kapitel. Die Verwandten am Höhenweg.

Als Ellen Leander in das Speisezimmer hinabkam, fand sie ihre Tante mit einem etwas verdrießlichen Gesicht am Kaffeetisch sitzen. »Du kommst recht spät,« begrüßte sie diese, »bist du immer eine solche Langschläferin?«

Ellen erschrak. Sie entschuldigte sich verlegen, und dabei mußte sie wieder an Frau Bienert denken, die jedesmal in den Ferien so nachdrücklich zum Ausschlafen ermahnte. Ach ja, bei Frau Bienert standen nicht so feine silberne und porzellanene Geräte auf dem Tisch, war nicht alles so zierlich zubereitet, aber obgleich draußen die Sonne schien, meinte Ellen doch, es wäre hier im Zimmer viel düsterer als in der engen Großstadtwohnung. Sie griff schüchtern zu, fühlte dabei den musternden Blick der Tante auf sich ruhen und dachte gerade, wie gut es sei, daß sie die neue weiße Bluse anhabe, als Frau Hofrat Schilling etwas mitleidig fragte: »Du läßt wohl bei einer kleinen Hausschneiderin arbeiten, mein Kind? Diese Bluse sitzt ja fürchterlich. Du mußt dich für unsere Ausgänge umziehen.«

Ellen konnte keine Antwort geben, denn die Köchin kam mit einem etwas unwirschen Gesicht ins Zimmer und sagte, im Garten wären Fußspuren. Darum hätte Flick wohl so gebellt. Da rannte Frau Schilling aufgeregt hinaus, und Ellen blieb wie erstarrt sitzen. Jetzt wurde entdeckt, daß Friedrich über den Zaun gestiegen war, was sollte sie nur sagen! O, wie schrecklich war diese Heimlichkeit!

»Seien Sie nur nicht bange,« flüsterte da plötzlich Marie an der Tür. »Ich habe schon unterm Fenster jede Spur verwischt, und am Zaun ist Rasen, die finden nichts. Ziehen Sie sich jetzt nur um, damit die Frau Tante nicht erst deswegen ungehalten wird.«

Ellen befolgte Maries Rat. Sie warf der blassen Helferin einen dankbaren Blick zu, und sah dabei in ein paar große traurige Augen, in denen es froh bei ihrem Zunicken aufleuchtete. Wie war diese kleine Marie eigentlich, die so heimlich und listig zu sein schien? Oben in ihrem Zimmer sann sie noch über das Mädchen nach. Es mochte eine Altersgenossin von ihr sein, ja vielleicht war sie noch etwas jünger. Ein warmes Mitleid mit der Kleinen stieg in Ellens Herzen auf, vielleicht war sie auch verwaist, heimatlos wie sie! Und über diesem Gedanken vergaß sie die Fußspuren im Garten und ihre Angst. Sie zog ihr weißes Kleid an, hing ein altes schönes Schmuckstück um den Hals, das noch von ihrer Mutter stammte, und kam sich dann so feierlich und festlich vor, daß sie sich fast schämte, so an einem Wochentag auszugehen.

Frau Hofrat Schilling empfing die Nichte mit verdrießlichem Gesicht. Sie hatte mit der Köchin Streit gehabt, denn der war es auf einmal eingefallen, daß am Tage vorher ja der Gärtner Schmidt dagewesen sei, von dem die Fußtritte wohl herrühren mochten. Und da Marie das auch sagte, ärgerte sich die Hofrätin darüber, ohne eigentlich zu wissen warum. Sie hatte in dieser Stimmung keinen Blick für Ellens junge Lieblichkeit, sondern sah nur flüchtig das Staatskleid an und murmelte: »Ganz nett!« Gleich darauf mahnte sie: »Sei recht bescheiden und still bei dem Onkel, du mußt bedenken, er ist ein sehr berühmter Mann!«

Niedergeschlagen ging Ellen neben der Tante einher. Auf der Straße war es still, der Höhenweg lag im Sonnenlicht, und jetzt erst sah Ellen, wie schön es hier eigentlich war. Ein paar Schritte ging es an Frau Schillings Gartenzaun entlang. Da kam auf einmal ein buntes blühendes Wunder. Ein Garten in sommerlicher Pracht. Kein Staatsgarten, in dem die Wege schnurgerade liefen, sondern einer, in dem die Blumen sich auch einmal einen Platz nach ihrem Gefallen suchen konnten. »Wie schön!« Ellen Leander rief es unwillkürlich, sie blieb ganz verzaubert am Gitter stehen. Doch damit war die Frau Hofrat Schilling durchaus nicht einverstanden. Die schalt ärgerlich: »Aber Ellen, was fällt dir ein, einfach stehen zu bleiben. Wenn dir dieser unordentliche Garten gefällt, dann bedaure ich deinen Geschmack!«

Diesmal ging die Scheltrede ziemlich ungehört an Ellens Ohr vorbei. Sie dachte nur: und dort in dem kleinen Haus, in diesem schönen bunten Garten wohnt Friedrich. Darin konnte er Sommerfreude genießen, er, der Fleißige, der doch die Natur so liebte. Und um der Sommerfreude des Bruders willen, wollte sie schon gern das Leben bei der Tante ertragen. Glückselig nickte sie in den Garten hinein, und ganz verträumt sagte sie: »Ich liebe Blumen so sehr.«

»Übergeschnappt!« Die Frau Hofrat Schilling glich ein wenig einem zornigen Puterhahn, als sie den Höhenweg entlang lief. Sie war ärgerlich über die Nichte. Warum mußte diese auch gerade an dem Garten ihre Freude haben, just an ihm, der ihr ein Dorn im Auge war.

Garten reihte sich an Garten, und in dem sommerschönen Grün lagen still die hellen Häuser. Sie waren alle ein bißchen altmodisch, hatten etwas gutmütig Behagliches, die Häuser am Höhenweg, stammten sie doch fast alle noch aus einer stillen, geruhsamen Zeit. Meist wohnten alteingesessene Wolkenburger darin. Frau Schilling sagte, unten in der Parkstraße stünden auch schöne Villen, aber wer zur alten Wolkenburger Gesellschaft gehöre, der wohne eben am Höhenweg. Sie sagte das ziemlich aufgebläht, und Ellen fragte, um etwas zu sagen: »Stammen Sie denn aus Wolkenburg, Tante?«

»Ja, natürlich.« Frau Hofrat Schilling sah gekränkt zu Ellen hin. Bisher hatte sie sich nie um ihre Nichte gekümmert, nun war sie verstimmt, daß diese nicht vollkommen über ihr Leben Bescheid wußte. Und ein wenig herablassend und belehrend begann sie von der Familienzugehörigkeit zu sprechen. Da erfuhr Ellen zu allererst, daß die Frau Hofrat Schilling ein sehr vielumworbenes Mädchen gewesen sei und eigentlich eine viel bessere Heirat hätte schließen können, als die mit dem Wolkenburger Arzt, der es aber schließlich doch zum Hofrat gebracht hatte. »Meine Mutter war eine geborene von Thurn, sie und deines Vaters Mutter waren Basen, daher stammt unsere Verwandtschaft,« erzählte sie weiter. »Der Geheimrat von Thurn ist ein Vetter der beiden.«

»Und meine Mutter?« fragte Ellen dazwischen, als die Frau Hofrat ausführlich vom Herkommen der Thurns, auf die sie sehr stolz zu sein schien, berichtete.

»Deine Mutter!« Die Frau Hofrat kniff die Augen hochmütig zusammen. »Nun, sie gehörte nicht zu der Verwandtschaft. Meine Tante Leander war mit deiner Großmutter befreundet, sie wohnten nebeneinander in Jena, na, und in einer solchen kleinen Universitätsstadt kommt man sich ja nahe! Ich habe sie aber nur als Kind gesehen!«

Damals, als Mutter Bienert im Hause war und sie in die Himbeeren gegangen ist, dachte Ellen mit heimlichem Lachen. Die steife förmliche Tante wollte gar nicht recht zu dem Bilde passen, das Frau Bienert von ihr entworfen hatte. Und eben wollte Ellen mehr nach der Eltern Heimat fragen, als die Tante sagte: »Da sind wir!«

Es war das letzte Haus am Höhenweg, in dem der Geheimrat von Thurn wohnte. Weiß, glänzend stand es inmitten eines weiten Gartens auf einer Anhöhe, es hatte eine Säulenhalle; wie ein Tempel kam es Ellen vor. »Der Großvater des Geheimrats hat das Haus bauen lassen, seiner Frau, einer Italienerin zuliebe,« erklärte die Frau Hofrat. »Ich muß ja sagen, ich finde so etwas recht übertrieben.«

Ellen fiel ein Wort ihres Vaters ein. Der hatte manchmal zur Mutter gesagt: »Ich baue dir auch noch einmal ein Säulenhaus, wie's der Urgroßvater getan hat.« Ach, und an dies Säulenhaus hatte sie schon als Kind mit Sehnsucht gedacht, nun stand sie davor und seine Türe öffnete sich vor ihr. Zaghaft folgte sie der Tante in einen schönen weiten Vorsaal, in dem in der Mitte auf schwarzem Sockel eine Nachbildung des Drachentöters stand. Es war so feierlich in dem Raum wie in einem Museum. Ein alter Diener kam leise und behutsam die Treppe herab, er verneigte sich schweigend und ging schweigend voran. Ellen empfand der Tante lautes, schrilles Sprechen fast als einen Mißklang.

Und dann tat sich eine der weißen Flügeltüren auf. Ein hochgewachsener alter Herr trat den beiden entgegen. Er hatte ein feines kluges Gesicht, helle blitzende Augen, deren klarer durchdringender Blick Ellen verwirrte. Gleich fiel ihr Friedrich ein, sein Hiersein, alle die Heimlichkeiten, unter denen sie so litt, und nur scheu beantwortete sie des Großonkels Fragen, nach ihrer Reise, ihrem Leben, ihrer Arbeit. Es war ihr immer, als müsse sie rufen: »Es ist anders als ihr denkt,« und als müsse sie ganz frei und offen von ihrem Leben erzählen, von ihrem bescheidenen Wohnen bei Frau Bienert und ihrem Teilen mit dem Bruder.

In ihr scheues Antworten hinein tönte die schrille Stimme der Frau Hofrat: »Sie ist ziemlich schüchtern. Ich liebe das aber an jungen Mädchen.«

»So, ist sie das?« sagte der Geheimrat, und in dem Augenblicke begegnete Ellens Blick dem des Oheims. Ihr Herz klopfte. Sie fühlte es, der kluge alte Mann glaubte nicht an ihre Schüchternheit, die auch ihrem freien offenen Wesen eigentlich fern lag. Sie sah ein verhaltenes Lächeln in dem schönen alten Gesicht aufglimmen, dann sagte der Geheimrat: »Willst du einmal mein Museum sehen, mein Kind? Manche Stücke davon hat dein Vater noch mitgesammelt. Schade, daß er so jung sterben mußte. Weißt du etwas von seiner Arbeit?«

Ellens Augen strahlten auf. O, des Vaters Bücher, diese wundervollen Beschreibungen einer versunkenen Welt kannte sie wohl, sie hatte sie immer wieder mit dem Bruder gelesen. Der Bruder, der so ganz ihres Vaters Sohn war und von dem die Verwandten nichts wissen wollten. Sie sagte plötzlich mit heller, lauter Stimme: »Friedrich und ich haben oft Vaters Bücher zusammen gelesen.«

»Friedrich?« Der Geheimrat von Thurn sah maßlos erstaunt drein, in diesem Augenblick aber begann die Frau Hofrat sehr hastig zu sprechen. Wie wundervoll des Geheimrats Sammlung sei und daß es für Ellen ein großes Glück wäre, daß er selbst sie ihr zeigen wolle, aber dies würde sicher zu anstrengend für ihn sein, der alte Wilhelm könnte das doch auch besorgen. Doch der Geheimrat wehrte ab. Er führte seine Gäste selbst durch etliche schön eingerichtete Räume, schloß eine Türe auf, und Ellen sah in einen Saal hinein, dem sich noch ein zweiter anschloß. Es war wirklich ein richtiges Museum. Ägyptische und griechische Ausgrabungen, Funde aus verschütteten versunkenen Städten waren hier aufgestellt, und dazwischen standen auf schwarzen Sockeln ein paar schöne Nachbildungen alter Bildwerke. Es gab auch einen kleinen Marmortorso, den verstümmelten Kopf und halben Oberkörper einer jugendlichen Frauengestalt, und Ellen wußte gleich, den hatte ihr Vater mitgefunden. Er hatte ihnen einst die etwas abenteuerliche Geschichte der Auffindung erzählt, hatte ihnen die Bilder gezeigt, und ihr kamen plötzlich die Tränen in die Augen bei dem Gedenken an jene frohen Stunden. Ach, und hier würde auch seine Sammlung stehen, alle die Sachen, an denen er so sehr gehangen hatte.

»Bei der Auffindung dieses Kleinodes war dein Vater, der damals mein Begleiter war, dabei,« sagte der Geheimrat, und just da rief die Tante: »Nein, wie entzückend dieses Schmuckstück ist. Sieh nur Ellen, herrlich, es ist wirklich beinahe modern!«

Der Geheimrat lächelte seltsam, und dann zeigte er allerlei antiken Schmuck, an den seltenen, besonderen Dingen aber, von denen Ellen gern allerlei gehört hätte, ging er vorüber. Ellen sah sehnsüchtig danach hin, sie blickte auch sehnsüchtig in den anderen Saal, war dort des Vaters Sammlung? Aber die Tante schien die sehnsüchtigen Blicke nicht zu sehen, sie erklärte, nun müsse sie nach Hause, es wäre die allerhöchste Zeit.

Geheimrat von Thurn machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten. Er sagte nur: »Schade, daß ich morgen verreisen muß, sonst hätte ich dich gebeten, morgen wieder zu kommen, Ellen.«

»Verreisen?« Unwillkürlich wiederholte Ellen Leander tief erschrocken das Wort, sie war ganz blaß geworden, nun verreiste der Vormund, und alle ihre schönen Pläne wurden zunichte. Denn, daß die Hofrätin ihr nicht helfen würde, hatte sie schon erkannt.

Erstaunt sah der alte Herr das erschrockene Mädchen an, er spürte es wohl, irgend etwas bedrückte das junge Geschöpf, da war irgend eine Sorge, ein verborgenes Leid, und gütig sagte er: »Ich komme bald wieder, mein Kind. Nachher besuchst du mich oft und erzählst mir von deinem Leben. Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!« antwortete Ellen leise, und dies Wort ging unter in dem Redeschwall, mit dem Frau Hofrat Schilling Abschied von dem alten Herrn nahm. Sie tat, als wäre seine Reise wirklich ein Unglück für sie, wünschte immer und immer wieder, sie möchte gut von statten gehen, bis der Geheimrat schließlich mit heiterem Lachen sagte: »Meine Liebe, ich habe die ganze Welt umschifft, da werde ich wohl auch noch bis nach München kommen.« Sein schnelles Wort schien ihm aber leid zu tun, denn er sagte plötzlich: »Ich gehe noch bis zum Tore mit.« Sie gingen durch den Garten, und Ellen hörte an dem vielen Geschwätz der Tante vorbei und sah entzückt, wie weit und frei sich die Landschaft vor ihrem Blicke dehnte. Wie schön das war!

»Gefällt es dir auf dem Höhenweg?« fragte sie der Großoheim plötzlich.

Ellen atmete tief auf. »Ja,« sagte sie schnell, und dann fügte sie etwas stockend hinzu: »Mein Vater sagte manchmal, man müsse trachten, Höhenwege im Leben zu finden.«

»Und führt dich deine Arbeit auf einen Höhenweg?« Diese ernste forschende Frage verwirrte Ellen wieder, sie suchte nach einer Antwort, aber da redete die Tante wieder laut dazwischen, sie redete noch, als das Gartentor sich hinter ihnen geschlossen hatte, und da merkte Ellen Leander, die Frau Hofrat Schilling spreche zu ihr. Ihre Stimme klang sehr unfreundlich, als sie sagte:

»Ich begreife nicht, wie du so taktlos sein kannst, von deinem Bruder zu sprechen. Stolz kannst du doch wirklich nicht auf ihn sein.«

»Tante!« rief Ellen empört, »Friedrich ist –«

»Still!« Die Hofrätin richtete sich kerzengerade auf, den Höhenweg entlang kam ein Herr, der grüßte sie, sie dankte lächelnd, wobei ihr Gesicht auf einmal ganz heiter und liebenswürdig war. Doch kaum war der Grüßende vorbei, da schaute die Tante wieder so verdrießlich drein, als läge ein vierzehn Tage langer schlechter Weg vor ihr. Aber Ellen ließ sich durch das böse Gesicht nicht abschrecken, sie wollte gerade wieder die Verteidigung ihres Bruders beginnen, als die Tante hart und kurz sagte: »Spare dir alle Worte. Mein Sohn hat mir alles mitgeteilt, die Art, wie dein Bruder aufgetrotzt hat, ist empörend. Du selbst mußt sehr dankbar sein, daß wir dich hierher eingeladen haben. Eigentlich wollte der Geheimrat dich zu sich nehmen, aber das wäre für den alten Herrn eine zu große Last gewesen. Die habe ich ihm abgenommen. Er war auch sehr froh darüber.« Sie verschwieg, wie sie auf Wunsch ihres Sohnes beinahe um den Besuch gebettelt hatte. Grämlich sagte sie: »Aber von deinem Bruder will er gar nichts wissen. Also schweige darüber. Still,« rief sie zornig, als Ellen trotz ihres Verbotes reden wollte.

Da war wieder das Häuschen mit dem schönen bunten Garten erreicht. Frau Schilling klinkte die Türe auf und sagte seufzend: »Da wären wir bei meiner Schwester Regine. Du tust gut, hier wenig zu reden. Regine ist – hm – nicht immer sehr taktvoll. Mit dem Geheimrat verkehrt sie gar nicht, mit dem hat sie es längst verschüttet.«

Ellen starrte die Tante ganz sprachlos vor Erstaunen an. Was sagte sie? Hier in dem kleinen Hause wohnte ihre Schwester, Tante Regine, von der Frau Bienert gesagt hatte, sie hätte lieber in des Großvaters Bücherstube gesessen. Und bei ihr, bei dieser noch unbekannten Tante, wohnte doch Friedrich, ihr Bruder, wohnte da als Herr Müller. Den Mädchennamen der Tante hatte Frau Bienert nie genannt, und Ellen hatte ganz gedankenlos der Tante Regine einfach ein Leander angehängt, auch Friedrich hatte es getan.

Die kleine Gartenpforte knarrte mißtönig, als Frau Schilling sie öffnete, im Hause bellte ein Hund; und dann tat sich die Haustüre auf. Eine große schlanke Dame trat auf die Schwelle, sie winkte den Ankommenden fröhlich zu und rief mit tiefer klingender Stimme: »Gott zum Gruß, Ellen Leander, ich freue mich, dich endlich zu sehen.«

Oben klirrte ein Fenster, und Ellen sah einen Augenblick in das namenlos verdutzte Gesicht ihres Bruders Friedrich.

Auch die Frau Hofrat Schilling sah dies junge erstaunte Gesicht da oben am Fenster, und ihre Züge verwandelten sich. Sie erkannte sofort den jungen Mann vom Bahnhof wieder und sagte streng in ihrer Schwester heitere Begrüßungsrede hinein: »Du hast wohl ein Zimmer vermietet?«

»Ja, freilich. Ein Studentlein wohnt darin, der von L. gekommen ist, um hier Ferien zu genießen. Verdrießt dich das, Lina?«

»Ich finde es im höchsten Grade unschicklich,« rief die Hofrätin erbost. »Du mußt doch auf unsere gesellschaftliche Stellung Rücksicht nehmen. Vermieten, an Sommerfrischler, das tut man am Höhenweg nicht.«

»Nun, dann bin ich die erste, die es tut!« Fräulein Regine Andernach sagte das sehr gleichmütig und dann schob sie sacht ihre zornmütige Schwester wie auch Ellen in das Haus, und innen in dem weißgetünchten Flur, in dem große bunte Blumensträuße standen, sagte sie heiter: »Und nun noch einmal, Gott zum Gruß, Ellen Leander. Jetzt laß dich einmal ordentlich anschauen, damit ich sehe, von wem du dein Gesicht geerbt hast, von Vater oder Mutter. Es lohnte sich von beiden, denn es waren beides Menschen, wie man sie nicht allzuoft auf dieser Welt findet. Du hattest gute Eltern, Ellen Leander, nun will ich wohl aufpassen, ob du ihnen auch nachgerätst. Ich sag' es gleich, ich hoffe, du findest oft einmal den Weg zu mir.«


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