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10. Kapitel. Das verlorene Buch.

Als Fräulein Regine Andernach den Garten ihres Bruders betrat, war das Lachen darin verstummt. Sie fand die drei erst so lustigen Vögel niedergeschlagen zusammen an der kleinen Pforte. Ursel war soeben draußen gewesen, sie berichtete gerade: »Ich sehe nichts!«

»Was sollst du denn sehen?« Die Tante Regine trat etwas unvermutet zwischen die drei, und die blickten verlegen auf. »Friedrich hat ein Buch verloren,« sagte Ellen, »wir dachten, es wäre ihm aus der Tasche gerutscht, als er über die Mauer kletterte.«

»Ein Buch ist das nicht, es ist das Buch, mein Lieblingsbuch!« Friedrich sah ganz verstört über den Verlust aus. Er berichtete kummervoll: Das verlorene Buch wäre das letzte Geschenk seines Vater an ihn gewesen. Eine in rotes Leder gebundene Taschenausgabe der Ilias. »Vater hat noch hineingeschrieben,« sagte er, und um seine Lippen zuckte es. Er hatte das Buch gestern auf seiner Wanderung mitgehabt, dabei mußte er es verloren haben. Am liebsten wäre er gleich auf und davon gelaufen um es zu suchen, doch das wollte Fräulein Regine nicht zugeben. Sie sagte: »Warte, bis mein Bruder zurückkommt, der ist übrigens den gleichen Weg gegangen, den du gekommen bist, da ist es schon möglich, er hat das Buch gefunden. Der Weg ist ja nicht viel begangen, und hat es ein Forstbeamter oder Waldarbeiter gefunden, dann bekommst du es schon zurück.«

Friedrich fügte sich, aber nun war ihm die Lachlust vergangen, auch Ellen war still geworden, und Ursel stieg hilfsbereit und ehrlich mitbetrübt draußen auf dem Gartengäßchen herum. Sie verfolgte den Weg, den Friedrich gegangen war, ein Stück und kam plötzlich mit heißen Wangen zurück: »Ich weiß etwas,« schrie sie, »ich gehe suchen, den Weg kenne ich, und Augen habe ich wie ein Luchs, wie mein Vater immer sagt.«

Doch auch zu diesem Vorschlag sagte die Tante: »Warten bis der Vater kommt,« und weil sie meinte, das Warten ließe sich leichter bei einer Arbeit ertragen, forderte sie alle auf, sie sollten Beeren in die schon bereit stehenden Körbe pflücken, da an der Hecke, an der die beiden Gärten zusammenstießen. Die Beerenanlage war gemeinsamer Besitz, und Fräulein Regine kochte die schönen Früchte gleich für beide Haushaltungen ein. Damit erklärten die drei sich einverstanden und begannen sofort damit.

Während Ursel und die beiden Leanders sich anschickten, die Körbe mit Beeren zu füllen, lief einer in das Städtchen herein, der einen kostbaren und seltenen Fund in der Tasche trug. Doktor Berner war den gleichen Weg nach Wolkenburg gegangen, den Friedrich am Tage vorher eingeschlagen hatte. Dabei hatte dem gelehrten Herrn abseits vom Wege etwas rot aus dem Moos entgegengeleuchtet. Für eine Erdbeere war es zu groß, für eine Blume im deutschen Wald auch, also lief der Doktor darauf zu und fand ein Buch. Er schlug es auf, die Ilias war es, und vorn stand als Widmung: »Meinem Sohn Friedrich zur Erinnerung an eine schöne gemeinsame Stunde im Lande unserer Sehnsucht. Ernst Leander.«

»Hallo!« schrie der Doktor in der Waldeinsamkeit, als hätte er eine ganze Gesellschaft vor sich. Er blickte in das Buch hinein, sah es von außen an, drehte es um und um, und auf einmal fiel ihm sein gestriger Wandergenosse ein, wie der so unentwegt das kleine Flachbild aus der Leanderschen Sammlung angesehen hatte. Und dem hatte so ein rotes Lederbüchlein aus der Tasche gelugt. Er stand da, als wäre ein Blitz vor ihm niedergefahren, und er müsse dem flinken Gesellen in irgendein Erdlöchlein nachsehen.

»Sein Sohn,« murmelte er, »hm, ich habe doch den Jungen ein paarmal in seinem Studierzimmer getroffen. Er kann's schon gewesen sein, freilich, freilich. Und ich Schafskopf, der ich mich für ein gelehrtes Haus und dazu noch für einen sehr guten Menschenkenner halte, habe den Jüngling gefragt: ›ob er lieber eine Jahrmarktsbude oder so etwas ähnliches sieht!‹«

Der Herr Doktor Berner war in allen Dingen ein etwas hitziger Herr. Kaum war er daher zu der Überzeugung gekommen, sein junger Weggenosse gestern wäre wirklich ein Sohn seines ehemaligen Lehrers, als er eilig losrannte.

Er lief durch den schönen morgenstillen Wald, als wäre er auf einer grauen, öden Großstadtstraße. Und bei diesem wilden Gerenne lief er einen beinahe um, der gemächlich daherkam, der jeden Baum mit guten Blicken ansah, der die Vogelstimmen hörte, und der immer wieder stehen blieb, um sich an der märchenhaften, geheimnisvollen Schönheit zu freuen. Er betrachtete gerade einen Grünspecht, der geschäftig wie ein kleiner Handelsmann an einer dicken Tanne entlang lief. Da kam der gelehrte Herr Doktor Berner daher.

Bums! Es gab einen Zusammenstoß, und der Forstrat Andernach, das war der besinnliche Waldbeschauer, rief ärgerlich: »Zum Donnerwetter! Sie Schnelläufer, warum rennen Sie denn so durch den Wald wie durch einen Tanzsaal!«

Nun war der gute Doktor sonst ein sehr verträglicher Mann, aber jetzt war ihm die Eile in die Beine gefahren, er schrie daher dem Forstrat erbost entgegen: »Warum halten Sie mich denn hier auf, stehen im Wege wie ein Baum. Potzwetter, Platz genug, um auszuweichen, ist doch da!«

Das ging nun wieder dem Forstrat über die Hutschnur. In dem Wald, in dem er groß geworden war, wurde er von einem dahergelaufenen Fremden angerüffelt wie ein Schuljunge. Der Forstrat war ein gütiger und freundlicher Herr, wenn er aber einmal grob wurde, dann wurde er gleich ordentlich grob. Er wetterte also den Doktor an, daß diesem Hören und Sehen verging. Und weil er am grünen Rock, den der Forstrat trug, sah, daß der vielleicht ein besseres Recht hatte in diesem Wald zu sein als er, wollte er sich zuerst entschuldigen. Dann wurde aber auch er wieder hitzig, und ein paar Minuten lang schrien die beiden Männer sich an, daß ein dritter sicher kein Wort über dem Geschrei verstanden hätte.

»Das ist mir zu dumm!« brüllte plötzlich der Doktor. Und schwipp, schwapp raste er von dannen.

»Kruzitürken nochmal, ist das ein wüster Kerl!« schrie ihm der Forstrat nach. Der Doktor hörte es und dachte wütend, das muß man sich nun von einem solchen Grünrock gefallen lassen. Na, wenn ich den nochmal treffe, dann – bums! »Au!« schrie der Doktor, er war nämlich in aller Eile an einen Baum angerannt, der wohl gedacht hatte, ach was Weg, ich kann auch hier stehen.

Aus der Ferne kam ein dröhnendes Lachen. Der Forstrat hatte den Zusammenprall gesehen und dachte bei sich: Ist das einmal ein verdrehter Kauz, ich möchte wissen, an wen der noch anrennt.

Der Zusammenstoß mit dem Baum, den er doch nicht anschimpfen konnte, sowie das herzhafte Lachen in der Ferne brachten den gelehrten Herrn etwas zur Besinnung. Beschämt setzte er nun seinen Weg etwas langsamer fort, aber die Laune war ihm gründlich verdorben. Die wurde erst wieder besser, als behaglich und anmutig das Städtchen Wolkenburg vor ihm auftauchte. Eine Burg den Wolken nahe war es freilich nicht, und der Himmel weiß, woher es den stolzen Namen hatte. Es glich weit eher einer guten behäbigen Bürgersfrau, als einer in den lichten Wolkenhöhen lebenden Königin.

Dem guten Doktor Berner war in diesem Augenblicke aber das Städtchen, wo es etwas zu essen gab, lieber, als etwa die Burg Monsalwatsch es gewesen wäre. Er spürte nämlich Hunger, richtigen magenknurrenden Hunger, und als er beim Weiterlaufen nach Wolkenburg ungemein flink den Marktplatz erreichte und dort ein Wirtshaus sah, rannte er hinein. ›Schwarzer Dachs‹ stand in goldenen Buchstaben über der Haustüre. Der Doktor dachte, meinetwegen mag es ein Dachs sein, wenn ich nur etwas zu essen bekomme. Morgenärger macht hungrig.

Er bekam auch etwas zu essen. Der Wirt kam selbst, um des Gastes Wünsche zu erfahren. Obgleich er eigentlich gar nicht so rundlich aussah, wie Wirte sonst sind, war das, was er dem hungrigen Gelehrten verhieß, doch sehr verlockend. Aber es würde ein Weilchen dauern, bis das Mahl bereitet sei. Inzwischen begann der Dachswirt eine Unterhaltung mit seinem Gast, was diesem recht war. Er platzte auch gleich mit der Frage heraus, die ihm am Herzen lag: »Gibt's hier eine Familie Leander, kennen Sie den Namen?«

»Nä, ich wüßte nich!« Der Dachswirt grinste, fuhr sich über den blanken Schädel, dann riß er plötzlich seine Augen weit auf und schien nachzudenken. Dann kam es heraus: »Bei der Hofrätin Schilling ist 'n Freilein Leander zu Besuch, aber –«

»Was aber, flink, flink!«

Der Dachswirt schaute den Gast verwundert ob dieser Eile an, blieb aber bedachtsam und fuhr langsam und gedehnt fort: »Gerade ist 'se fort.«

»Wie denn fort, abgereist?«

»Näääh – ausgerissen – durchgebrannt.« Und geheimnisvoll neigte er sich dabei zu seinem Gaste herab und flüsterte: »Se sagen, beim Fräulein Andernach da wär en Herre gewesen, der wär' auch fort.«

Verdutzt starrte Doktor Berner den Wirt an, und die Rede seines jungen Wandergenossen fiel ihm ein, wollte der nicht seiner Schwester das Schloß und den Weg dorthin zeigen? So recht brüderlich gut hatte das geklungen. War nun die Schwester das Fräulein, von dem der Dachswirt sagte, es wäre ausgerissen? »Gibt's noch Leanders hier am Ort?«

»Näääh! Nur eben die Frau Hofrätin und ihre Geschwister, die haben Verwandte. Ich denk' alleweile, der verstorbene Herr ist 'n Professor gewesen. Ja, ja, und der Herr Geheimrat soll ihr Vormund sein!«

»Welcher Geheimrat?«

Der Dachswirt machte große Augen. Kam da einer nach Wolkenburg und wußte nicht, wenn jemand vom ›Geheimrat‹ sprach, der doch der Stolz Wolkenburgs war. »Na, der Herr Geheimrat von Thurn!« sagte er herablassend.

Himmel, das konnte stimmen! Doktor Berner wußte von dieser Verwandtschaft, und fragte: »Wo wohnt dieser Geheimrat?«

»Nu natierlich doch am Höhenweg, aber er ist verreist!« Der Dachswirt wußte gut in Wolkenburg Bescheid, er schien aber auch der Menschen inneres Wesen zu kennen, er sagte wieder in seiner etwas trägen Art: »Zu verdenken ist ja schließlich das Ausreißen dem Fräulein Leander nich so sehr, bei der Frau Hofrätin hielt ich's auch nicht aus, näääh, ich nich!«

»Und wo wohnt die?«

»Wer denn, am Ende gar die Hofrätin?«

»Ja die, freilich die?«

Der Dachswirt sah seinen Gast etwas bedenklich an und riet gutmütig: »Gehen Se lieber zum Fräulein Andernach!«

»Ja, wer ist denn das nun wieder?«

»Na, doch die Schwester!«

»Potzwetter, von wem die Schwester?«

Da kam das bestellte Essen, und der Dachswirt sagte beruhigend: »Fangen Se erst mal an zu essen, nachher erzähl' ich Ihnen alles.« Und als Doktor Berner, der nun wieder gründlich die Leere in seinem Magen spürte, zu essen begann, setzte sich der Dachswirt gemächlich dazu und erzählte breit und ausführlich, wie es um die Verwandtschaft der Andernachs, Thurns und Schillings mit den Leanders bestellt wäre. Dabei ging er bis in die Urgroßmutterzeiten zurück, denn er wußte als Erbe einer alteingesessenen Gastwirtsfamilie natürlich auch da Bescheid.

Das Essen war gut und schmackhaft, und der Doktor sah nur ein paarmal dabei auf. Er schluckte und kaute und ließ geduldiger als sonst wohl des Wirtes Beredsamkeit über sich ergehen. Als das Essen zu Ende war, und der Wirt gerade bei einer Leanderschen Urgroßmutter anlangte, stand er auf und sagte, er wolle bezahlen und gehen.

»Wohin denn?« fragte der Wirt neugierig.

»Na, zur Frau Hofrat Schilling, beißen wird sie mich ja wohl nicht.«

»Näääh, aber – na, versuchen Sie's man!«

Und der Doktor Berner versuchte es. Er wurde auch angenommen, brachte sein Sprüchlein vor und brachte damit die Dame in die allergrößte Aufregung. Die rief nach ihrem Sohn, der kam herbei, hörte mit sonderbar verkniffenem Gesicht die Erzählung an, und als seine Mutter schrie: »Denke doch, Friedrich Leander ist hier gewesen,« da sagte er kurz: »Unmöglich!« Er lächelte spöttisch, aber doch mit einem seltsam gespannten Ausdruck zu dem Bericht über die aus der Leanderschen Sammlung befindlichen Stücke im Schloß zu Weiler. Dann sagte er wieder: »Unmöglich,« lachte dazu, doch seine Stimme klang rauh, als er fragte, ob Doktor Berner lange in Wolkenburg zu bleiben gedächte.

Ja, sagte dieser, ich muß den Geheimrat von Thurn sprechen, worauf der Herr Direktor Schilling sehr rasch antwortete und dabei seiner Mutter einen Wink gab: »Sie haben es schlecht getroffen, der Geheimrat ist für längere Zeit verreist.«

»O je, das trifft sich freilich schlecht!« Der Doktor sah bekümmert drein. »Da muß ich später wiederkommen, denn so lange kann ich nicht bleiben.« Er sah dabei auf den roten Band, den er in der Hand trug. »Wenn ich das Buch nur abgeben könnte, es war ganz sicher der junge Leander, der es verloren hat, vielleicht auch nicht, vielleicht verlor es ein Freund, dem er es geliehen hat.« Direktor Schilling strich sich über die Stirne, es schien ihm recht heiß zu sein, er war aber liebenswürdig, bot dem Doktor an nachzufragen und den Band an sich zu nehmen. Da fiel diesem auf einmal die ausgerissene Nichte des Hauses ein und irgendein Mißtrauen erwachte in ihm. Er fragte ganz unvermittelt: »Ist nicht Fräulein Leander bei Ihnen gewesen?«

»Sie ist gerade verreist auf etliche Tage, schade, sie könnte sonst gleich Bescheid geben.«

Mehr erfuhr der gute Doktor Berner nicht. Und als er nach einem sehr höflichen Abschied, wobei Direktor Schilling sogar noch nachsah, mit welchem Zug er weiterfahren könnte, wieder draußen stand und den Höhenweg entlang sah, dachte er, sehr gescheit hast du das nicht angefangen, mein Lieber. Jetzt erst merkte er, wie gern er eigentlich seinen gestrigen Weggenossen wieder gesehen hätte, von dem er immer sicherer dachte, daß es der junge Leander gewesen sei. Und gerade ihn, den Sohn seines so sehr verehrten Lehrers hätte er zu gern noch einmal gesprochen.

Daß die Häuser des Höhenweges alle tief eingebettet in große blumenreiche Gärten lagen und Linden dazu die Straße säumten, gefiel dem Doktor besonders an Wolkenburg. Er schlenderte ein paar Schritte weiter, kam an ein kleines altmodisches Haus, blieb vor ihm stehen und sah bewundernd in den blühenden Garten hinein. Dabei las er unwillkürlich den Namen an der einfachen Holztüre: »Andernach«. Den hatte der Dachswirt auch genannt, und sogar geraten hierher zu gehen. Doktor Berner überlegte, sollte er es tun oder nicht? Und wie er noch so stand, kam ein Mädchen durch den Garten gegangen. Das blieb stehen, sah den Fremden an, lachte halb verlegen und fragte treuherzig: »Gelt, bei uns da blüht's schön!«

»Das tut es! Aber bitte darf ich fragen, wohnt hier vielleicht Fräulein Andernach?«

Der Doktor hatte nach seiner Uhr gesehen, es war schon dreiviertel zwei, also eine etwas ungewöhnliche Zeit für einen Besuch in einer Kleinstadt, aber das Mädchen sagte ganz gelassen: »Ja, sie ist jetzt hinten im Garten, bei den Beeren, soll ich sie rufen?«

»Nein, nein, ich gehe selbst zu ihr hin.« Doktor Berner war keiner, der viel auf die steife äußere Form gab, und weil das Mädchen sich auch nicht besonders über sein Verlangen verwunderte, ließ er sich den Weg zeigen und ging dahin, wo die Andernachschen Gärten zusammenstießen, es war auf der anderen Seite als der Schillingsche Garten lag.

Die Beerenpflücker waren sehr eifrig gewesen, sie hatten gleich nach Tisch wieder angefangen, und Friedrich mußte sich bei dieser Arbeit manche Neckerei Ursels und Ellens gefallen lassen. Die behaupteten beide, er ließe mehr Beeren in seinen Magen und auf die Erde als in seinen Korb fallen. Als er diesen aber dann doch ziemlich gefüllt hatte, reichte er ihn seiner Tante Regine über den Zaun zu und fragte stolz: »Bin ich nicht fleißig gewesen?«

Friedrich war lang und schlank gewachsen und reichte ein gutes Stück über die Hecke hinüber. Fräulein Regine wollte gerade warnen, er solle sich nicht zu sehr zeigen, als schon eine Stimme schrie: »Potzwetter noch einmal, das ist er ja!«

Friedrich wurde jäh von vier kräftigen Händen gepackt und niedergezogen, aber das Rettungswerk von Schwester und Base kam zu spät. Doktor Berner hatte ihn schon erblickt, und stiefelte mit langen Schritten auf die Hecke los. Als Fräulein Regine Andernach sehr von oben herab fragte: »Was wollen Sie denn hier?«, da tat er noch, als wäre sein Hiersein ganz berechtigt. »Diesen da muß ich sprechen, mit dem bin ich gestern gewandert!« rief er. »Hallo, Sie junger Mann, warum in aller Welt verkriechen Sie sich hinter dieser Hecke? Sagen Sie mir, sind Sie Friedrich Leander oder sind Sie es nicht?«

Nun gab es kein Verbergen mehr. Das sah Regine Andernach ein, und sie sagte kurz entschlossen: »Kommen Sie mit hinüber, Herr – Herr –«

»Doktor Berner!« Der verbeugte sich vergnügt und folgte ohne Umstände seiner Führerin durch ein schmales Pförtchen in den anderen Garten hinüber. »Kommt nur, ihr drei,« sagte Fräulein Regine, »verstecken hilft nichts mehr, gesehen ist gesehen, vielleicht verrät dein gestriger Weggefährte unser Geheimnis nicht, Friedrich.«

»Ich verrate nie Geheimnisse, aber das muß ich sagen, neugierig bin ich jetzt ungemein. Da drüben bei der Frau Hofrat Schilling habe ich soeben gehört, Fräulein Leander wäre verreist und es wäre unmöglich, daß Friedrich Leander hier ist, und er scheint es doch zu sein.«

»Bei meiner Schwester waren Sie schon?« Fräulein Regine Andernach sah den Besucher prüfend an, als sie ihn in den tiefsten Schatten des weiten Gartens führte. Dort gab es ein paar Bänke, ein rechter Plauderwinkel war es. Hier mußte Doktor Berner von dem Buchfund erzählen und wie er daran erkannt hatte, wer sein Wandergenosse gewesen war. Er berichtete von der Auskunft des Dachswirtes und seinem Besuch bei Schillings. Da wurden Friedrich und Ellen blaß, und Fräulein Regine sah sehr nachdenklich drein. Ihr kam mehr und mehr an diesem Tage eine schlimme Erkenntnis, ein böser Verdacht packte sie, und als Doktor Berner betrübt sagte: »Nun habe ich die Fahrt vergeblich gemacht, der Geheimrat von Thurn ist ja, wie Herr Schilling sagte, auf längere Zeit verreist,« da wurde auch sie sehr blaß.

»Er hat gelogen!« schrie Ursel empört, sie schlug sich gleich darauf selbst auf ihren vorlauten Mund, aber ihre Tante sagte schwer, mit einem unendlich traurigen Ausdruck: »Es ist wirklich nicht wahr, Geheimrat von Thurn kommt sehr bald zurück!«

Doktor Berner sah sich im Kreise um. Er sah in blasse, erregte Gesichter, und merkte wohl, daß hier so allerlei nicht stimmen mußte. Da begann er von seiner großen Liebe und Verehrung für den verstorbenen Professor Leander zu sprechen. Als junges Studentlein war er einst zu ihm gekommen, hatte Freundschaft und Förderung erfahren, und auf einmal sagte Ellen ernsthaft: »Ich kenne Sie noch! Mutter hat sich so gewundert, daß – daß Sie – später nie mehr gekommen sind.«

»Himmel, ich war doch fort, im Süden, erst in Griechenland, dann in Ägypten mit Herrn Geheimrat von Thurn zusammen. Und dem war es bitter leid, daß er sich nicht um die Leanderschen Kinder kümmern konnte. Jetzt fällt mir das alles wieder ein, hatte es vergessen über aller Arbeit. Ich hätte damals auch gern geholfen.«

»So helfen Sie jetzt!« Fräulein Regine Andernach sah den Doktor Berner wieder prüfend an, so, als wolle sie durch ihn durchschauen. Der hielt ihren Blick treuherzig aus, streckte ihr die Hand hin und sagte: »Ich helfe gern! Was soll ich tun? Sagen Sie es nur, meinetwegen verprügle ich auch diesen Herrn Schilling, der mir ganz und gar nicht gefällt.«

Dieser Vorschlag brachte Ursels ernste Traurigkeit, mit der sie bisher zugehört hatte, völlig ins Wanken, sie kicherte erst leise, dann lachte sie laut, wollte nicht und mußte doch immer noch mehr lachen. Das steckte an, selbst über Fräulein Regines Gesicht flog ein hellerer Schein. »Ursel, Kind,« sagte sie nur leise mahnend. Aber da sprang Ursel auf, fiel ihr um den Hals und rief: »Ach, Tante, Franz Schilling und verprügelt, er geht immer so fein angezogen, ist so leise und vornehm und so –.« Sie stockte und schwieg, und niemand sprach das letzte Wort aus. Einen Herzschlag lang schwiegen alle.

Doktor Berner redete zuerst und stellte viele Fragen, denn ihm fehlten die Zusammenhänge. Friedrich gab ihm freimütig Antwort. Er spürte in sich ein großes Vertrauen zu dem Mann erwachsen, den er in seiner Kindheit gekannt und redete mit ihm ganz offen von seinem und seiner Schwester Leben. Auch von der verkauften Sammlung sprach er. Dabei klang eine bittere Anklage gegen den Geheimrat von Thurn hindurch, und diesmal sagte Doktor Berner: »Das ist nicht wahr. Sie können mich aufhängen, spießen, braten, köpfen, was Sie wollen, wenn der Geheimrat die Sammlung verkauft hat. Das hat der nicht getan, wie's zusammenhängt, weiß ich nicht, aber der Geheimrat, nein – nein.«

»Nein,« sagte auch Fräulein Regine Andernach, und Ursel rief ebenfalls: »Nein, nein!« Sie fügte leiser hinzu: »Onkel Gerhard ist himmlisch gut, ich liebe ihn so sehr, wenn er mich auch nicht leiden kann.«

»Meine arme kleine Ursel du,« dachte Fräulein Regine wehmütig, »der Vetter Gerhard ist auch einer, der dein gutes, treues Herz verkennt.«

»Potzwetter, warum soll Sie der Geheimrat denn nicht leiden können!« Doktor Berner schaute Ursel höchst wohlwollend an, denn er fand dies braunzopfige schlanke Ding sehr lieblich, und als Ursel wehmütig wiederholte: »Nein, er kann mich nicht leiden,« da rief der Doktor gutherzig: »Ich werde ihn drum fragen, ganz sicher und auch nach der Sammlung, da stimmt etwas nicht. Aber nun, meine Herrschaften, dächte ich, wir müßten einen Kriegsplan entwerfen!« – »Einen Kriegsplan?« fragten Tante, Neffe und Nichten erstaunt wie aus einem Munde.

»Jawohl, das müssen wir!« Der Doktor sah sich ganz kampfbereit im Kreise um und sagte: »Ich kenne den Geheimrat gut, er ist ein Prachtmensch, aber er hat seine Schrullen, und ist er erst einmal mißtrauisch, dann kommt er sobald nicht los davon. Wenn nun die Frau Hofrat und ihr Sohn ihm erst die ganze Sache von Fräulein Leanders Flucht, Herrn Friedrichs heimlichem Hiersein in ihrer Weise vorstellen, dann ist da schon ein Tor zugeschlossen, das so leicht nicht wieder aufgeht. Wir alle müssen den Geheimrat zuerst sprechen, von uns muß er alles erfahren.«

»Ja, aber wie? Schillings wissen, wann er kommt, die holen ihn am Bahnhof ab, dann ist's gleich vorbei.« Fräulein Regine sah sehr zweifelnd drein, sie wußte wohl, der Doktor Berner hatte recht; aber sie kannte diesen doch nicht, was der durchführen wollte, das versuchte er allen Hindernissen zum Trotz.

Er lachte auch jetzt nur. »Bahnhof, pah, da haben mehr Menschen Platz. Ich stelle mich auf, und ich bleibe neben dem Geheimrat, ob er will oder nicht. Zu jedem Zug von heute ab, der den Geheimrat bringen kann, gehe ich. Der Dachswirt wird mich schon in seiner Höhle beherbergen. Nur keine Angst, ich stehe meinen Mann.«

Fräulein Regine Andernach mußte lachen über diesen kampfbereiten gelehrten Herrn, sie sagte aber doch bedenklich, der Geheimrat könne auch mit dem Schnellzug kommen, dann würde er in L. aussteigen und von da mit einem Wagen fahren. Dann aber landete er oben am Höhenweg.

»Dann setzen Sie sich dahin, Verehrteste,« rief der Doktor. »Setzen sich hin und warten, das ist doch ganz einfach.«

So ganz einfach fand es Fräulein Regine freilich nicht, aber sie erklärte sich doch bereit dazu, es zu tun. Da oben gab es einen schönen stillen Waldplatz, da wollte sie sich hinsetzen. Es gab nur einen Nachmittagszug, mit dem der Geheimrat von dort kommen konnte.

»Aber wir, was tun wir?« Ursel war über den Plan entzückt. Romantisch und abenteuerlich erschien ihr das alles, nur war sie etwas enttäuscht, als Tante Regine antwortete: »Ihr bleibt natürlich hier, das ist selbstverständlich.«

Obgleich Doktor Berner volles Verständnis für Ursels Sehnsucht, mitzutun, hatte, gab er doch der Tante recht. Dann rief er eifrig: »Ich trete gleich heute mein Amt an. Wann kommen die Züge?«

Aber damit hatte es noch Zeit, etliche Stunden waren noch hinzubringen, und Fräulein Regine meinte, es wäre gut, vorher Kaffee zu trinken. Den Kaffee könnten Ursel und Ellen kochen, den Kuchen wolle sie holen, sie hätte heute früh wohl etwas von dem Besuch geahnt und schnell einen Kuchen gebacken. Damit waren alle einverstanden, die Mädels rannten ins Haus, Fräulein Regine ging den Kuchen holen, und Friedrich Leander blieb mit dem Doktor im Schattenwinkel sitzen. Das war ein anderes Reden als gestern. Jetzt ging dem Jüngling dem älteren Manne gegenüber das Herz auf, er sprach voll Begeisterung von seinem Studium und daß ihn keine Mühe, keine Entbehrung schreckte. »Mich nicht und Ellen nicht,« sagte er, »obgleich sie es schwer hat, zu ihrem Recht zu gelangen.«

»Ja, wieso denn schwer?«

Friedrich erzählte von Ellens fleißiger Lernarbeit, um selbständig zu werden, und von ihrer Sehnsucht, sich zu einer Sängerin auszubilden. Doktor Berner dachte, das sind nun wirklich ein paar liebe, tapfere junge Menschen, ei, das müßte doch ganz verdreht zugehen, wenn denen nicht zu helfen wäre. Er bat dann auch gleich, als Ellen und Ursel mit dem Kaffee zurückkamen: »Vorgesungen bekomme ich auch etwas, gelt?«

Sie meinten alle, das ginge nicht gut, weil Gesang zu weit schalle, dann aber sagte Ursel: »Ein Lied nur, ich singe ja auch ein bissel, und bei einem Liede hört man nicht gleich den Unterschied.« Sie lief flink ins Haus, holte ihre Laute, und Ellen sang am Kaffeetisch das traurigholde liebe Lied vom Veilchen auf der Wiese. Ellen Leander hatte eine noch ganz ungeschulte Stimme von einem unendlich weichen, warmen Klang. Wie eine goldene Quelle strömte es aus ihrer Kehle und der Doktor Berner hätte vor Bewunderung beinahe ›Donnerwetter‹ gesagt, er hielt jedoch noch das Wort zurück, schluckte dafür aber in seiner Ergriffenheit ein riesengroßes Stück Kuchen hinab. Ursel dachte bei sich, das gibt noch ein Unglück, aber das Stück kam glatt hinunter, und gleich darauf sagte Doktor Berner ein paar gute, herzliche Worte über dieses wundervolle Naturgeschenk, das Ellen zuteil geworden war. Er wollte noch mehr hören, aber da rief Ursel: »Das geht nicht, sie singt zu schön, kein Mensch in der Nachbarschaft kann denken, daß ich das bin. Vater sagt immer, ich hätte wohl bei Madame Krähe Gesangstunde gehabt.«

In diesem Augenblick fiel es dem Doktor ein, der herzhaft über Ursels Rede lachen mußte, auch einmal nach dem Hausherrn zu fragen. Eine dunkle Erinnerung kam ihm, der Dachswirt hätte gesagt, er wäre verwitwet. »Sie können ihn gleich selbst begrüßen,« antwortete Fräulein Regine, »ich höre ihn gerade kommen.«

»Ja, er kommt!« Ursel tanzte dem Vater entgegen, Friedrich und Ellen sprangen auf, und einige Augenblicke später war der Forstrat, der wirklich vom Hause daherkam, so umdrängt, daß er gar nicht sah, wer da im Schattenwinkel des Gartens gemütlich Kaffee trank.

Und dann erblickten sich die Männer!

»Alle Wetter!« rief der Forstrat, »was will denn der verdrehte Baumumrenner hier!«

»Heiliger Bimbam!« rief auch der gelehrte Herr, seufzte und erhob sich zögernd. Halb lachend und halb verlegen sah er dem Forstrat entgegen. »Man ahnt's am Morgen manchmal nicht, was einem der Tag noch bringt,« brummelte er.

»Du kennst Herrn Doktor Berner schon?« fragte Fräulein Regine, die zu ihrer Verwunderung wahrnahm, wie seltsam es in dem Gesicht des Forstrats wetterleuchtete.

»Na, was man so kennen nennt!« Der Forstrat lachte, er las in dem Gesicht des anderen, daß dem die Begegnung im Walde nicht gerade angenehm in den Gliedern lag. Darum reichte er ihm heiter die Hand entgegen und sagte: »Da Sie an meinem Tisch sitzen und meine Schwester das richtig und in Ordnung zu finden scheint, heiße ich Sie willkommen Herr – Herr –!«

Doktor Berner nannte flink seinen Namen. Aber damit wußte der Forstrat nichts anzufangen und blieb so klug als zuvor. Erst als seine Schwester Regine ihm kurz eine Erklärung dazu gab, nickte der Forstrat, sah seinen unerwarteten Gast freundlich an und fragte: »Haben Sie denn nicht irgendwo ein Loch im Kopf, sind denn Ihre Arme und Beine und alles sonst noch heil?«

Da machten die andern alle große Augen ob der seltsamen Frage, der Doktor aber lachte gerade heraus, und heiter erzählte er selbst von der Begegnung im Walde und wie sie beide sich angeschimpft hätten.

»Schadet nichts, so ein kleiner Streit im Anfang verheißt gute Freundschaft,« meinte der Forstrat launig. Und dann ließ er sich erzählen, wie sie den Geheimrat erwarten wollten. Er schüttelte ein wenig den Kopf dazu und sagte, er möchte dem Vetter am liebsten in der Gegenwart der Schillings seine Meinung sagen.

»So wie draußen mir im Walde?« fragte Doktor Berner.

»Ja, leider so, aber schlimmer noch hab' ich sie ihm schon einmal gesagt, und das hat er übel genommen!« Der Forstrat seufzte. Er fand, daß mit den gelehrten Herren schwer umzugehen sei. Er hatte doch dem Geheimrat nur gesagt, daß es ein bitterschweres Unrecht wäre, die Sorge für ein paar Waisen einfach einem anzuvertrauen, den er, der Forstrat, für einen kaltherzigen Egoisten hielt. Etliche Kernflüche waren bei der Unterredung gefallen, und dann waren sie zornig auseinander gegangen. Da keiner wieder mit dem Kommen anfing, sahen sie sich nicht mehr, obgleich sie doch beide so nachbarlich am Höhenweg wohnten. Aber der Forstrat versprach, er wolle auch mit aufpassen, übrigens müsse er bald kommen, denn seine Schwester, die Frau Hofrat, wäre vor einem Weilchen hinaufgegangen, um, wie sie ihm gesagt hatte, droben nach dem Rechten zu sehen.

»Himmel, da muß ich gleich in den Dachs und dann zur Bahn!« schrie der Doktor aufgeregt.

»Den Dachs können Sie sich schenken,« sagte Fräulein Regine, »mein Zimmer, das ich vermietet hatte, ist von dem Mieter treulos verlassen worden, das können Sie bewohnen.«

Doktor Berner nahm das gern an. Friedrich Leander rief, er würde bald wieder hinausziehen, Ursel behauptete, das würde sie kränken, der Forstrat sagte, hüben oder drüben, ihm wäre es gleich, und eine Weile redeten die Alten und die Jungen so lustig durcheinander, bis der Doktor klagte, nun würde er gar noch den Zug versäumen. Er rannte aus dem Haus, und rannte den Höhenweg hinab, rannte dabei eine Dame fast um, die ihm sehr wütend und entrüstet nachsah, und die dann daheim zu ihrem Sohne sagte: »Franz, diesen Doktor Berner habe ich soeben gesehen, er wird doch nicht in Wolkenburg bleiben?«

Eine Aussicht, die den Direktor Schilling wenig freuen mußte, denn er schnitt ein Gesicht, als mute ihm einer zu, den ganzen Doktor Berner mit Haut und Haaren zu verschlucken.


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