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5. Kapitel. Die kleine Marie.

Die herzliche Art, mit der Ellen von der Schwester begrüßt wurde, machte die Hofrätin noch verdrießlicher. Sie sah wirklich etwas wie eine Gewitterwolke drein, doch schien dies Fräulein Regine Andernach nicht weiter zu bekümmern. Sie war herzlich und freundlich, und Ellen war es, als wäre sie von einer Irrfahrt heimgekehrt, so wohl wurde es ihr in dem großen Zimmer, das mit schönem altmodischem Hausrat gefüllt war. Draußen Blumen und drinnen Blumen. Die Sonne schien ihren Widerschein in der Tante Regines Augen zu finden, da begannen auch Ellen Leanders Augen zu strahlen, ein liebes Lächeln erblühte auf ihrem Gesicht, und sie sagte mit unverhohlener Freude ja, als die Tante sie gleich zum übernächsten Tag einlud. »Aber gleich für den ganzen Tag, für Gartenfreude und ein bißchen Haushilfe, so richtig ein Überlandbesuch muß es werden,« meinte Tante Regine.

Der Vorschlag gefiel nur Fräulein Andernach und Ellen. Frau Hofrat Schilling war ganz und gar nicht damit einverstanden. Sie sagte sehr verstimmt und kühl: »Du vergißt, Regine, Ellen ist mein Gast, da habe ich zu bestimmen, und ich finde einen so langen Besuch lächerlich. Auch muß Ellen erst mit mir verschiedene Besuche machen, und übermorgen ist Kränzchen bei der Frau Oberst, da –"

»Wirst du sie doch nicht mitnehmen!« rief Fräulein Regine sehr eifrig. »Was soll so ein junges Ding unter zehn alten, ihr ganz fremden Damen. Sie sind alle lieb und gut, aber die arme Ellen würde sich dort doch bitter langweilen.«

»Regine,« rief die Hofrätin empört.

»Linchen,« sagte Fräulein Andernach gemütlich, »rege dich nicht auf, mein gutes Herz, laß Ellen nur zu mir kommen und glaube mir, daran hat sie mehr Vergnügen. Ich lade Ursel dazu.«

»Nein,« rief die Hofrätin zornig. »Mit diesem Unband lasse ich meinen Gast nicht verkehren. Nächste Woche mag Ellen einmal zu dir kommen!« Sie stand auf, ihre Augen funkelten ordentlich vor Ärger, und Ellen mußte plötzlich denken: vier Wochen muß ich bleiben, vier lange Wochen. Sie sah so ratlos und verängstigt aus, daß Regine Andernach auf einmal sehr ernst sagte: »Geh bitte ein wenig in den Garten, kleine Ellen Leander, ich will noch etwas mit meiner Schwester besprechen.«

Ellen wartete die Erlaubnis der Hofrätin gar nicht erst ab; sie entfloh in die blühende Gartenschöne hinaus, dort tat sie einen tiefen Atemzug, sie war wie erlöst, den kalten Blicken und der harten Stimme ihrer Tante Caroline entronnen zu fein. Sie ging langsam zwischen den Blumenbeeten auf und ab, beugte ihr heißes Gesicht über einen ganz in Blüte stehenden Rosenbusch, und dabei rannen ihre Tränen auf die schönen Blumen herab. Da klirrte wieder ein Fenster. Friedrich, dachte sie, und sah rasch zum Hause hin. Richtig, da stand er am Fenster, er hielt etwas Weißes in der Hand, winkte, und dann flatterte ein Zettel herab, und Ellen lief eilig und hob ihn auf. Sie sah sich scheu um, wenn es jemand gesehen hätte, doch aus keinem der Fenster blickten Augen heraus. Und doch hatte jemand den flatternden Zettel gesehen, hatte Ellens Aufheben und scheues Umherschauen gemerkt, das war Fräulein Regine Andernach selbst, die mitten im Zimmer stand und die zornige Rede ihrer Schwester gelassen anhörte. Ei, dachte Fräulein Regine, was war denn das! Gab es da einen Zusammenhang! Hm ja, gestern war ihr junger Mieter aus L. eingetroffen, und auch Ellen war von daher gekommen, und eben sagte die Hofrätin: »Wenn Ellen mit Ursel verkehrt, dann lernt sie nur noch mehr Torheiten. Mir scheint ohnehin, sie braucht eine strenge Zucht. Statt zweiter Klasse zu fahren, kommt sie gestern – ja, glaube es mir, Regine, vierter Klasse an, und ihr Reisebegleiter war – dein Mieter.«

»Nun, nun,« sagte Regine gelassen, »es ist kein Unglück, wenn junge Leute vierter Klasse fahren, Ellen Leander–« sie sah hinaus und sah, wie das junge Mädchen an einem Beetrand kniete und andächtig in die Blumen hineinsah – da redete sie milde und gütig weiter – »sieht mir gar nicht nach Torheiten und dummen Streichen aus. Sie gefällt mir, und eine strenge Zucht braucht sie wohl nicht, nur Wärme und Güte, ihr hat das Leben schon genug angetan. Der junge Mann kann ja ein Bekannter sein, übrigens – er erinnert mich so lebhaft an jemand, wenn ich nur wüßte an wen.«

Die Schwestern redeten noch eine Weile zusammen, aber es war wie immer kein rechtes Verstehen zwischen ihnen. Der Hofrätin Schilling ging der Schein, ging der äußere Glanz über alles, Regine Andernach aber pflegte in die Herzen der Menschen zu schauen. Tief hinein sah sie mit warmen guten Augen, und sie war den Fehlern anderer eine milde Richterin, sie war nicht kalt und hart wie ihre Schwester. Arme junge Ellen, dachte sie, als diese von ihr Abschied nahm. Sie begleitete die Gäste bis zur Gartentüre, sie redete freundlich und heiter zu ihnen und ermahnte Ellen nochmals zur baldigen Wiederkehr, von der Einladung für den übernächsten Tag aber wurde nicht mehr gesprochen.

Bedrückt ging Ellen an der Tante Seite nach Hause. Dumpf ahnte sie, daß diese mit ihr sehr unzufrieden war. Und sie hatte recht, denn verdrießlicher konnte jemand schon nicht am Tische sitzen, als die Frau Schilling an diesem Tage. Ihr war eigentlich nichts recht, und Ellen dachte kummervoll an des Bruders Zettel. Sie möchte nach dem Mittagessen in die schmale Gartengasse kommen, die am Anfang vom Höhenweg abbog und dann hinter den Gärten des Höhenweges entlang lief, hatte er geschrieben. Aber Ellen wagte gar nicht die Tante zu fragen, ob sie nach Tisch ausgehen könne. Diese sagte nach Tisch: »Nimm dir eine Handarbeit und setze dich in den Garten, ich werde ein wenig lesen.«

Ellen schlich trübselig die Treppe hinauf, um sich ein Lehrbuch zu holen, eine Handarbeit hatte sie gar nicht mit, sie hatte immer genug zu tun, Friedrichs und ihre Sachen in Ordnung zu halten, da kam sie nicht zu den hübschen bunten Stickereien, an denen sie doch so viel Freude hatte. Als sie wieder in den Garten steigen wollte, huschte Marie die Treppe hinauf. Sie sagte mit leisem Lachen: »Die gnädige Frau schläft jetzt so anderthalb Stunden. Ich zeig' dem Fräulein, wo's zur Seite aus dem Garten hinaus geht, da, hier ist der Schlüssel. Ja, ja, man will doch ein bißchen spazieren gehen.«

Da ging Ellen durch den Garten, legte ihr Buch auf einen Tisch, suchte die kleine Pforte, schloß auf und war draußen, war frei. Sie ging langsam mit gesenktem Kopf das Stück Höhenweg hinab. War es ein Unrecht, was sie tat? Dies Heimlichtun, dieser Zwang, in den das Wesen der Tante sie hineinpreßte, bedrückte sie wieder namenlos, und am liebsten wäre sie zur Tante Regine gelaufen, ja auch zu ihrem Vormund, beiden hätte sie die volle Wahrheit sagen können. Die hatten beide klare Augen, vor denen hätte sie keine Scheu gehabt. So tief war sie in ihren Gedanken versunken, daß sie Friedrich gar nicht gewahrte, der in der schmalen Gasse an einer grauen Mauer lehnte und ihr wartend entgegensah. Auch er war bedrückt, und als die Schwester ihn erblickte, als sie sich beide die Hände entgegenstreckten, da sagten sie beide wie aus einem Munde: »So geht es nicht.«

»Nein, so geht es nicht,« sagte Friedrich Leander noch einmal, »diese Heimlichkeit ist nichts für uns, wir müssen es anders machen! Hast du den Onkel Gerhard heute gesehen?«

Ellen nickte, und an die graue Mauer geschmiegt, dicht neben dem Bruder unter den tief herabhängenden Ästen einer Trauerweide stehend, erzählte sie von den Morgenbesuchen. Als sie den Oheim beschrieb, klang Bewunderung in ihrer Stimme auf, und Friedrich sagte: »Ich gehe zu ihm und sage ihm alles, vielleicht ist's ein Mißverständnis.«

»Ja, sicher, das ist es,« rief Ellen, »aber ach, er verreist ja!«

»Er verreist?« Friedrich sah bestürzt drein, da riet ihm Ellen: »Sage der Tante Regine alles. Ich glaube, ihr darf man wohl die Wahrheit sagen – freilich, sie ist – böse mit dem Onkel.«

»Alle guten Geister, Ellen,« schrie Friedrich lauter, als es gerade für einen heimlichen Fleck geeignet war, »in was für ein Durcheinander sind wir da hineingekommen! Die Tanten vertragen sich nicht, der Onkel und die Tante sind miteinander böse, der Onkel verreist zudem, es wäre wirklich besser, wir säßen bei Mutter Bienert.«

»Ach ja,« antwortete Ellen, »ich habe schon große Sehnsucht nach ihr. Diese Tante Hofrat ist – ach Friedrich – ich liebe sie gar nicht.«

»Ich auch nicht,« klang plötzlich hinter den beiden eine heitere junge Stimme auf, und über die Mauer schauten lachend ein paar dunkle Augen. Dann kam ein Kopf, ein Oberkörper zum Vorschein, und im ersten Augenblick wußten die Geschwister nicht, war es ein Bub oder ein Mädel, was da hinter der grauen Mauer stand. Es war aber ein Mädel, ein sehr hübsches dazu, das in die Höhe kletterte und sich zuletzt geschickt auf den Mauerrand schwang. »Ich habe das ganze Gespräch gehört,« sagte sie so stolz, als wäre Lauschen eine große Heldentat. »Nun weiß ich auch, wer ihr seid. Du,« sie deutete auf Ellen, »bist Ellen Leander, du – Sie –« sie sah Friedrich zögernd an, die Anrede schien ihr einige Schwierigkeiten zu machen.

»Ich bin Friedrich Leander,« ergänzte der heiter, »und möchte wissen, wer diese junge Dame ist, die nicht weiß, ob ich ein Du oder ein Sie für sie bin.«

»Ich heiße Ursel Andernach und bin eure Base, denn mein Vater ist der Bruder eurer Tanten, also werdet ihr ihn wohl als Onkel anerkennen.«

»Ursel, mit der ich nicht verkehren soll, weil – weil –« Ellen stockte, und das Fräulein auf der Gartenmauer schrie empört: »Weil ich ein Unband bin, ein unnützes Ding, hat sie das nicht gesagt, das sagt sie nämlich immer!«

Ellen lachte, und Ursel schlug mit der kleinen Faust zornig auf die Gartenmauer: »So ist sie nun, ach, und ich habe mich doch so sehr auf dich gefreut!«

»Auf mich?« Ellen hatte bislang vom Dasein dieser Base überhaupt keine Ahnung gehabt, und sie wiederholte darum noch einmal: »Auf mich, ja, was wissen Sie –"

»Du, du, du!« schrie Ursel Andernach dazwischen, und Ellen fuhr eifrig fort: »Was weißt du denn von mir?«

»Was ich weiß? Ha, daß du jung bist wie ich, meine Base bist und – auch keine Mutter mehr hast.«

Über das bewegliche Gesichtchen lief ein Schatten, in die dunklen Augen traten Tränen, und Ellen ergriff unwillkürlich die Hand der anderen und sagte sanft: »Arme kleine Ursel!«

Da schlang Ursel ihre Arme um Ellens Hals, sie purzelte dabei beinahe von der Mauer herunter, und Friedrich griff erschrocken zu: »Hallo, nicht fallen, teures Bäschen!« Aber Ursel lachte dazu, doch dann klang's wieder wie Weinen, als sie rief: »Ich wußte es doch, nun werde ich endlich einmal zu einer Freundin kommen.«

»Hast du denn keine?« fragte Ellen, die sich ordentlich an die Mauer stemmen mußte, um nicht unter Ursels heftiger Umarmung umzufallen.

»Nicht eine einzige hier!« Ursel Andernach richtete sich auf, in ihren Augen blitzte es zornig, als sie sagte: »Daran ist sie auch schuld!«

Die Geschwister fragten gar nicht, wer es sei, der die Schuld daran trage. Sie ahnten beide, daß Ursel die Hofrätin meinte. Sie kamen übrigens auch gar nicht dazu, etwas zu fragen, denn Ursel redete, ununterbrochen weiter: »Wißt ihr was, kommt mit in unseren Garten, da erzähle ich euch alles, und ihr erzählt mir alles und warum Friedrich mit ist, der so schlimm sein soll und doch gar nicht so aussieht.«

»Schlimm? Friedrich ist doch nicht schlimm!« rief Ellen entrüstet.

»Gelt, das ist er nicht?« Ursel sah den Vetter zutraulich an, nickte ihm zu und sagte dann sehr bestimmt: »Das hat sie auch wieder nur so aufgebracht, ganz sicher, das muß ich noch herausbringen. Also nun kommt herein, hier haben auch die Gärten Ohren, sagt Vater immer, und wenn sie es erfährt, daß wir zusammen waren, dann ist der Krach da.«

Das war schon möglich. Aber wenn ich zu spät komme, gibt es auch Krach, dachte Ellen. Sie sah auf ihre Uhr und sagte erschrocken: »Ich muß zurück, ich – bin heimlich davongelaufen, und wenn sie erwacht, dann –«

»Geht es los!« vollendete Ursel. Friedrich runzelte aber seine Stirne, denn daß seine Schwester, die trotz ihrer Jugend schon so tapfer und selbstsicher ihren Weg ging, heimlich davonlaufen mußte, um ihn zu sehen, das gefiel ihm gar nicht.

»Du mußt es sagen, daß du spazieren gehen willst,« erklärte er, »du bist doch kein Kind und bist auch nicht in Gefangenschaft bei ihr.«

»Morgen komme ich wieder,« erklärte Ellen.

»Ja, wieder hierher, und dann kommt ihr in unseren Garten, und dann erzählen wir uns alles. Komm morgen früh, da geht sie nämlich in eine Sitzung, das weiß ich, da kann sie dich nicht mitnehmen.«

»Gut,« versprach Ellen, »dann komme ich morgen früh, und Friedrich kommt auch, du mußt mir noch manches erklären.«

»Wo wohnt denn Friedrich?« Ursel sah die Geschwister fragend an, und Friedrich erzählte ihr heiter das sonderbare Zusammentreffen. Ursel riß ihre Augen weit auf. »Bei Tante Regine,« sagte sie erstaunt, und ein nachdenklicher Zug kam in ihr hübsches Gesicht. »Das geht nicht,« sagte sie ernsthaft, »daß du da wohnst, ohne Tante Regine die Wahrheit zu sagen. Ihr muß man alles sagen, vor ihr darf man keine Heimlichkeiten haben. Sag' es ihr bitte gleich, wenn du heimkommst, wer du bist, sage ihr alles, versprich es mir!« Ursel sah Friedrich so ernsthaft dringend an, daß er ihr über die Mauer hinweg seine Hand gab. »Ich will es tun, gleich tun,« versprach er, »es ist mir ohnehin schon sehr ungemütlich gewesen, dies Wohnen unter einem falschen Namen in dem Hause der Tante.«

»Ich muß aber jetzt gehen.« Ellen hatte Eile fortzukommen, und mit einem festen Händedruck trennten sich nun die Geschwister von der Base, die ihnen noch froh zurief: »Auf Wiedersehen!« und den rasch Davongehenden nachsah, solange sie im grünen Gäßchen sichtbar waren.

Am Ausgang der kleinen Gartengasse trennten sich die Geschwister dann vor einem kleinen Haus; daß aus demselben aber jemand herausschaute, beachteten sie nicht. Sie schüttelten sich die Hände und lachten sich an, denn die kleine, neu entdeckte Base hatte ihnen beiden gut gefallen, und beide sagten sie zueinander: »Ich freue mich auf morgen!«

Ellen lief dann davon, und kam heiß und atemlos am Haus der Tante an, als sie eben seitwärts einbiegen wollte, sah sie Marie an der Haustüre stehen, die winkte lebhaft und rief ganz laut: »Die gnädige Frau wartet schon mit dem Kaffee!«

Erschrocken lief Ellen in das Haus hinein. Ehe sie aber noch ein Wort mit Marie reden konnte, trat ihr schon die Tante entgegen und fragte streng: »Wo warst du, warum bist du fortgelaufen, wie bist du zum Hause hinausgekommen?«

Ellen schwieg, sie fühlte sich verletzt und betroffen. So hatte sie noch nie jemand über ihre Wege ausgefragt, am liebsten hätte sie der Tante die volle Wahrheit entgegengerufen, aber da sagte Marie bescheiden, sie hätte den Pförtchenschlüssel Ellen gegeben, damit die gnädige Frau nicht gestört würde. Das Fräulein, das aus einer großen Stadt komme, wolle doch gewiß recht viel spazieren gehen, was wohl zu begreifen sei. Es wäre doch auch so schönes Wetter.

Auf diese Einwendung hin verstummte die Hofrätin. Sie besann sich plötzlich, daß Ellen ja schon ein paar Jahre allein in einer Pension in der großen Stadt lebte und da wohl viele Wege schon allein machen mußte. Sie schämte sich etwas, denn sie war, als Ellen nicht gleich da gewesen, ziemlich heftig geworden. Nun redete sie etwas freundlicher als vorher und schlug der Nichte vor, sie solle mit ihr zu Frau Oberst Baumüller gehen. Dieser wären Nachmittagsbesuche lieber, sonst müßte man freilich am Vormittag seine Besuche machen, und leider ginge es morgen nicht, da wäre eine sehr wichtige Vereinssitzung. »Ziehe wieder dein weißes Kleid an,« fügte die Tante noch hinzu. »Ich hoffe, du hast dir einige weiße Kleider mitgebracht, das viele Waschen mag ich nicht sehr leiden.«

Ach du lieber Himmel, dachte Ellen, als sie wieder ihr weißes Festgewand anzog, wie wird es mir ergehen mit meinem einen Kleid. Morgen werde ich der Tante einmal meine ganze Kleiderpracht vorführen, etwas enttäuscht wird sie dann schon sein.

Ein Weilchen später ging Ellen wieder mit der Tante den Höhenweg entlang. Sie fürchtete sich etwas vor den fremden Menschen, weil sie das dumpfe Gefühl hatte: Tantes Freunde können nicht deine Freunde sein. Aber dann fand sie, diese Freunde waren zwei gütige alte Menschen, freundlich, heiter, etwas altmodisch, von liebenswürdiger Gesprächigkeit. Das alte Ehepaar schien ein rechtes Wohlgefallen an Ellen zu finden, und der wurde es so wohl wie am Morgen in Tante Regines Haus.

»Da wird die Ursel Andernach sich freuen, so eine liebe Base einmal hier zu haben,« sagte Frau Baumüller. Sie nickte Ellen zu. »Sie kennen doch ihr Bäschen schon?«

Ellen wurde rot, sie brauchte aber nicht zu antworten, denn Tante Caroline kniff wieder die Lippen zusammen und sagte sehr abwehrend: »Leider ist Ursel kein Umgang für Ellen. Nun, Sie wissen ja, Frau Oberst, wie sie ist!«

»Lieber Gott,« sagte die alte Dame behaglich, »so schlimm ist sie nicht, und ich bedauere, daß sie seit damals nicht mehr zu mir kommt. Das arme Ding hat es ja nicht böse gemeint!« Und dann erzählte sie Ellen, daß man vor einem Jahre im Hause die Hochzeit ihrer jüngsten Tochter gefeiert hätte. Das ganze Haus wäre damals festlich geschmückt gewesen und zum Kränzewinden wäre auch Ursel Andernach gekommen. Sie habe fleißig mitgeholfen, aber dann, als ein langes Kranzgewinde fertig gewesen sei, habe sie es sich umgeschlungen und wäre damit durch's Haus gerast. Dabei hätte sie den alten Silbermann, den Wolkenburger Lohndiener, zu Fall gebracht, der gerade ein Brett voller Weingläser getragen hätte, wovon keines ganz geblieben sei. »Nun, Scherben sollen ja Glück bedeuten, meine Trude ist auch wirklich sehr glücklich geworden,« sagte Frau Baumüller, »also trag' ich der Ursel den Streich nicht mehr nach, und ich sage es noch einmal, es tut mir leid, daß sie nie mehr kommt.«

»Wer weiß, was sie dann noch angestellt hätte, es ist schon besser so,« erwiderte die Hofrätin kurz und redete dann von etwas anderem. Ursel war vergessen. Weil aber das fernere Gespräch Wege ging, die ihr unbekannt waren, konnte Ellen ihre Gedanken wandern lassen. Die gingen zu der kleinen übermütigen Base, und Ellen fühlte auf einmal ein tiefes Mitleid mit ihr, sie wußte selbst nicht warum, auch Freundschaft trotz des kurzen Sehens, und sie gab sonst nicht leicht jemand ihre Freundschaft. Sie sann darüber nach, wie wunderlich es eigentlich war, daß sie von all diesen Verwandten so wenig wußte. Es mußte wohl durch des Vaters Krankheit gekommen sein, da hatte die Mutter nie Zeit gehabt, an die Verwandten zu schreiben. Nur an den Onkel Gerhard hatte der Vater selbst bis zuletzt geschrieben. Warum hatte der sich nur nie um sie und Friedrich gekümmert, nie geschrieben? Und dabei sah er doch so gütig aus, er hatte so liebevoll von ihrem Vater gesprochen, wie seltsam war das doch alles?

»Aber Ellen, schläfst du?«

Der Tante Stimme rief sie aus ihren Träumen, sie sah, die Tante wollte gehen, und verwirrt stand sie auf. Frau Baumüller lud sie freundlich zum Wiederkommen ein, sie sprach noch allerlei von Ferienfreude und daß die Tante wohl alles tun würde, damit es recht vergnügte Ausruhtage für die Nichte würden. Dazu machte die Hofrätin ein etwas säuerliches Gesicht, sie war nämlich gar nicht der Meinung, daß Nichten auf Ferienurlaub sonderlich verwöhnt werden müssen. Nachher gab sie sich aber doch Mühe, Ellen zu unterhalten. Sie erzählte dieser viel von ihrem Sohn. Rühmte seine Klugheit und seinen rasch erworbenen Reichtum, sie erzählte von dem schönen Hause, das er bewohne, aber von einer besonderen Güte gegen andere wußte sie nichts zu berichten. Vielleicht vergaß sie das auch. Doch für Ellen wurde durch diese Erzählung das Bild des Direktors nicht freundlicher, ja alles, was sie hörte, paßte zu dem des kalten, selbstherrlichen Mannes.

Die Hofrätin nahm Ellens Schweigen für Ehrerbietung, sie wurde immer liebenswürdiger und holte nach dem Abendessen kleine Kuchen für Ellen herbei. Da sie selbst sehr gerne sprach, entging Ellen wieder dem sehr von ihr gefürchteten Ausfragen. Nur einmal erkundigte sich die Tante nach Frau Bienert, sie nahm ohne weiteres an, diese wäre eine höchst gebildete Dame, und als nun Ellen lebhaft ihre Güte rühmte, sagte sie herablassend: »Ich werde ihr einmal, während du hier bist, eine Karte schreiben.«

Ellen erschrak. Mutter Bienerts Stil und Orthographie waren etwas sonderbar; wenn sie antwortete, würde sich die Tante wohl sehr verwundern. Es geht nicht, dachte sie, sie muß alles vorher erfahren, muß bald die Wahrheit wissen, o, warum mußte Onkel Gerhard nur jetzt verreisen!

»Tante,« fragte sie darum plötzlich, »wissen Sie, wann Onkel Gerhard zurückkommt?«

Die Hofrätin sah die Nichte erstaunt an, dann lächelte sie hochmütig. »Denke nur nicht, mein Kind, daß sich der Geheimrat viel um dich bekümmern wird. Übrigens, ich denke, er kommt bald, mein Sohn wollte ihn sprechen, der kommt Anfang nächster Woche, und bis dahin wird wohl der Geheimrat auch zurück sein. So, nun gehe aber schlafen, und morgen vormittag mußt du dich schon allein etwas in unserem Wolkenburg umsehen, obgleich ich dies Alleingehen eigentlich nicht liebe.«


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