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6. Kapitel. Urschel-Purschels Abenteuer.

Als Ellen Leander, nachdem sie der Tante Gute Nacht gesagt, ihr Zimmer betrat, blieb sie mitten darin stehen und sagte halblaut vor sich hin: »So geht es nicht.« Als eine neue Last war ihr das Wort von des Direktors Kommen auf die Seele gefallen. Wenn er früher kam als Onkel Gerhard, wenn er Friedrich entdeckte – und wie konnte der ungesehen bleiben, hier am Höhenweg, wo einer den anderen kannte.

Ursel! Ellens Gedanken huschten zu der Base hin, und sie freute sich morgen auf das Wiedersehen. Und dabei kam es ihr zum Bewußtsein, wie wenig sie eigentlich von dem Bäschen wußte. Nicht einmal, was ihr Vater war, seit wann ihre Mutter nicht mehr lebte, nichts wußte sie, und darum fragte sie unwillkürlich, als die kleine blasse Marie noch kam, um ihre Schuhe zu holen: »Wissen Sie vielleicht etwas von meiner Base Ursel Andernach?«

»Ach du lieber Himmel, Ursel!« Marie blieb an der Türe stehen, und in ihre Augen kam ein ganz helles Leuchten. »Ursel,« sagte sie fast zärtlich, »ja freilich, ich kenn' sie doch, wir waren – Freundinnen.«

»Freundinnen?« wiederholte Ellen und sah die kleine Marie fragend an. Aber diese nickte stolz. »Ja, richtige Freundinnen,« antwortete sie. »Ich komme gleich wieder und erzähle Ihnen alles, aber erst muß ich noch einmal sehen, ob die gnädige Frau etwas braucht.« Und husch flitzte Marie hinaus, Ellen hörte sie die Treppe hinablaufen, hörte unten Stimmen, auch eine Tür wurde zugeschlagen. Dann blieb alles wieder still. Sie setzte sich, neugierig geworden, auf ihr Bett und lauschte. Kam Marie nicht wieder? Längere Zeit erklang kein Schritt, doch dann tat sich leise die Türe auf und leise, leise huschte Marie auf Strümpfen herein, die Schuhe trug sie in der Hand. »Sie schimpft sonst, wenn sie hört, daß ich in Ihr Zimmer gehe,« flüsterte sie und schnappte vorsichtig die Türe zu. Auch das Fenster schloß sie, obgleich von draußen eine erfrischende Luft hereinströmte. Ihr Tun war ordentlich geheimnisvoll. Ellen fragte auch deshalb: »Ist's denn ein solches Geheimnis, daß Sie meine Base kennen?«

Marie kam näher, schüttelte ernsthaft den Kopf und sagte still: »Nein, vor Ihnen ist es kein Geheimnis, aber die Frau Hofrat soll es nicht wissen. Sie kann Ursel nicht leiden, hat auch ihre Mutter nie leiden mögen, und daß alle Leute hier in Wolkenburg so schlecht von der Ursel reden, daran ist sie schuld.«

»Aber Marie,« sagte Ellen vorwurfsvoll, »das ist doch gewiß nicht so. Sie tun meiner Tante unrecht.«

Marie wurde rot. »Schelten Sie nicht, Fräulein Ellen,« bat sie, »ach, Sie wissen ja nicht, wie schwer ich's habe.« Und dabei rollten ihr ein paar große Tränen über das blasse Gesicht. Ellen ergriff sanft ihre Hand, von jähem Mitleid erfaßt und zog das blasse Ding zu sich auf den Bettrand nieder. »Erzählen Sie mir doch einmal, Marie, woher Sie sind und woher Sie Ursel kennen?«

»Von zu Hause kenn' ich sie!« Maries Augen leuchteten wieder, und dann erzählte sie, ihr Vater wäre in einem Dorf, einige Stunden tiefer ins Gebirge hinein, Lehrer. Dort war Ursel Andernachs Vater Oberförster gewesen, ehe er als Forstrat nach Wolkenburg gekommen war. Die beiden Mädchen hatten zusammen als Kinder gespielt, und Marie hatte sogar manche Schulstunden mit Ursel geteilt. »Ich lerne so gern,« sagte sie und schaute nach Ellens Bücher hin, die diese zur Ferienarbeit mitgenommen hatte. »Vater hat auch immer gesagt, ich solle, wenn möglich, einmal Lehrerin werden. Doch wir sind acht Kinder daheim, Mutter war lange krank, da gab es Sorgen genug, und ich habe gesagt, ich geh' in die Stadt und diene, da kann ich denn zu Hause etwas helfen.« Marie senkte tief den Kopf. Ellen sah sie wieder mit den Tränen kämpfen, und sie strich ihr tröstend über das blasse Gesicht.

Da richtete sich Marie rasch auf und sagte tapfer: »Das Dienen ist's nicht, Fräulein Ellen, drüben bei Fräulein Regine Andernach möchte ich gleich dienen. Aber hier im Hause, da – da – werde ich schlecht, werde verlogen, ich fühl's. Immer werde ich gezankt, immer ist Ihre Frau Tante mißtrauisch. Und dann – ich kann's gar nicht ertragen wie sie von der Ursel redet. Und gesehen habe ich Ursel auch noch nicht, nur einmal auf der Straße, aber da – da hat sie mich – nicht erkannt.«

Marie schwieg. Ihre Lippen zitterten, und plötzlich stieß sie heftig hervor: »Vielleicht hat sie mich auch nicht kennen wollen, weil ich nur ein –«

»Das glaube ich nicht,« unterbrach Ellen das erregte Mädchen, »so sieht die Ursel nicht aus. Haben Sie ihr denn geschrieben, daß Sie hier sind?«

»Ach nein,« stammelte Marie, »das habe ich nicht gewagt – aber kennen Sie denn Ursel schon? Frau Hofrat hat doch gesagt, den Verkehr leidet sie nicht.«

Ellen lachte etwas verlegen, und dann erzählte sie der kleinen Marie, wie sie Ursel Andernach kennen gelernt hatte, erzählte ihr von aller sie bedrückenden Heimlichkeit, sie spürte es, das Mädchen da neben ihr verstand sie.

Sie saßen zusammen auf dem Bettrand und redeten miteinander wie längst vertraute Kameradinnen. Die kleine Marie sagte auch: »Das mit der Heimlichkeit geht nicht. Es ist auch hier in Wolkenburg unmöglich, wenn Sie dreimal den Weg zur Grüngasse gegangen sind, dann erfährt es die Frau Hofrat sicher. Es ist auch gut, daß Ihr Bruder noch heute dem Fräulein Andernach alles sagen will, sie wird schon helfen.«

Das Wort gab Ellen eine frohe Zuversicht. Ja, die Tante Regine, sie sah ganz so aus, als könne sie verwirrte Fäden lösen und manche schlimme Sache im Leben ausgleichen und zu einem guten Ende führen. Und der Onkel Gerhard sah auch nicht drein, als würde er nicht den Bruder verstehen können. Sie fragte Marie nach ihm. Doch die wußte nicht viel von dem berühmten Gelehrten. »Er ist ja auch erst seit März wieder hier,« sagte sie.

»Erst seit März hier? Wo war er denn?« fragte Ellen.

»Ach irgendwo, weit weg, ich glaube eine Weltreise hat er gemacht. Die Frau Hofrat hat einmal gesagt, ihr Sohn müsse so viel für ihn tun!«

Da war es auf einmal, als erblicke Ellen Leander ein fernes Licht, das ein sie umgebendes Dunkel allmählich erhellte. Wenn der Onkel auf einer Forschungsreise gewesen war, dann hatte er sich freilich nicht viel um Friedrich und sie kümmern können, dann –

Ellen umfaßte jäh die kleine Marie und mit einem verhaltenen Jubel in der Stimme rief sie: »Ach, ich glaube, es wird noch alles gut.«

»Das wird es sicher,« antwortete Marie zuversichtlich. »Und jetzt muß ich gehen; wenn's die Köchin merkt, wo ich bin, wird es schlimm.« Sie tuschelten noch ein paar Minuten zusammen, dann öffnete Marie behutsam die Türe und schlich die Treppe hinab. Ellen löschte nun das Licht, öffnete das Fenster und sah noch eine Weile zudem schönen tiefblauen Nachthimmel empor. Er war klar, keine Wolke schattete darüber hin, und Ellen Leander sah zu ihm auf mit frohem Hoffen. Jetzt wußte die Tante Regine Andernach schon von ihrer Not, und sie vertraute fest darauf, daß sie ihr eine Helferin werden würde. Und der Onkel, nein, der würde auch nicht lange zürnen, daß Friedrich seinen Weg gegangen war. Plötzlich kam Ellen ein Gedanke, ein leises Lachen huschte über ihr Gesicht, ach, vielleicht hatte er nur den Bruder prüfen wollen, ob er auch verstand, für seinen Beruf, sein Ziel zu kämpfen.

Es war zwar schon sehr spät geworden, ehe Ellen in ihr Bett stieg, aber sie fand am anderen Morgen doch früh genug den Weg wieder aus den Federn. Freilich, ihr half jemand anders dazu. Marie war es, die sie zur rechten Zeit weckte. Die schlug kräftig an die Türe, gerade als Ellen von einem wunderlichen Traum umfangen war. Sie ging auf dem Höhenweg entlang, sah in der Ferne glänzende Bergspitzen, und jemand sagte zu ihr: »Es ist schwer, dahin zu kommen.« In diesen Traum hinein tönte Maries Stimme, und Ellen sprang eilig und sehr vergnügt aus dem Bette. Draußen glänzte der Morgen. Der schöne goldene Sonnenschein und die Hoffnung, daß alles sich zum Guten wenden würde, machte Ellen im tiefsten Herzen so froh, daß sie zu singen begann. Ihre Stimme tönte voll und warm in den Garten hinab, es war etwas von Orgelklang in dieser jungen Stimme und unten horchte die Hofrätin auf. Sang da Ellen Leander? Sie nickte beifällig, das Singen gefiel ihr, und sie saß an diesem Morgen mit einem viel freundlicheren Gesicht als gestern der Nichte am Kaffeetisch gegenüber.

Es geht aber nicht jeder Tag in Glanz zu Ende, der mit Sonnenschein und Gesang beginnt. Dies sollte Ellen gerade an diesem Tage erfahren. Bald, nachdem die Tante das Haus verlassen hatte, lief sie frohgemut weg, um den Bruder zu treffen. Auf halbem Wege begegnete sie ihm auch, und in der Freude ihres Herzens ergriff sie seine beiden Hände und drehte ihn rundum. Wie Kinder drehten sie sich so ein paar Augenblicke lachend im Sonnenschein, und dann liefen sie Hand in Hand in das grüne Gäßchen hinein.

Dort stand Ursel Andernach schon wartend an einer kleinen schmalen Türe, die halb verborgen von einem Baum überschattet wurde. »Kommt herein,« rief sie froh, »ich warte schon auf euch.« Sie zog die beiden hinein in die grüne Dämmerung eines großen schattigen Gartens. In der Ferne, am Ende eines langen Laubganges stand ein gelbes Haus, davor blühte es so bunt im Sonnenschein, wie im Garten von Regine Andernach.

Die Geschwister schauten sich still um, wie friedlich und behaglich waren doch die Heimstätten ihrer Verwandten. Da sagte Ursel: »Das ist das alte Andernachsche Familienhaus, aus dem auch eure Großmutter Leander stammt. Das Haus, das Tante Regine bewohnt, gehörte auch einem Andernach, sie hat ihn gepflegt und hat dann das Haus zu eigen bekommen. Darüber hat sie sich arg geärgert.«

»Wer? Tante Regine? Ja warum denn?« fragte Friedrich erstaunt.

»Ach, nicht doch, Tante Regine! Sie!« Ursel sagte das mit solcher Betonung, daß die Geschwister nun wußten, sie meinte die Hofrätin. Und auf die Frage, warum diese sich geärgert hatte, erzählte sie, diese hätte früher nicht am Höhenweg gewohnt und es gegen ihre Schwester als Zurücksetzung empfunden, nicht auch ein Haus am Höhenweg zu besitzen.

»Ja, wohnt ihr denn am Höhenweg?« fragte Ellen erstaunt, die aus diesem Gewirr von Häusern und Gärten ringsum sich noch nicht herausfand.

Die Base belehrte sie, die Vorderseite des Hauses läge am Höhenweg. »Ich gehe aber immer hinten hinaus,« sagte sie trotzig, »ich mag keine Menschen sehen, bei allen hat sie mich schlecht gemacht. Es kann mich niemand leiden.«

»Doch, Frau Oberst Baumüller kann dich leiden,« rief Ellen, »es tut ihr leid, daß du nicht mehr zu ihr kommst, – trotz der Weingläser.«

Ursel sah halb lachend, halb verlegen zu der Base auf, und während sie diese langsam zu einer weißen Gartenlaube zog, die hell aus dem Grün herausleuchtete, murmelte sie bedrückt: »Die Gläser, das war schlimm. Es geht mir aber immer so, immer mache ich Dummheiten. Als wir hierherzogen, Vater wollte so gern im alten Hause wohnen, dachte ich, nun wird's fein, nun gibt's Freundinnen haufenweise.«

»O ja,« sagte Friedrich lachend, »das gäbe ein schönes Gerede und Geschwätze. Freundinnen haufenweise zu haben und mit ihnen zu verkehren,« fuhr er fort, »das denke ich mir ein wenig anstrengend – aber sollte es wirklich von diesen edlen Geschöpfen in Wolkenburg gar keine geben? Das wäre doch sonderbar!«

»Ja, lacht nur, für mich gibt's keine Freundinnen.« Ursel sah tief traurig aus, und Ellen streichelte mitleidig die kleine Base. Und die froh, einmal ihr Herz ausschütten zu können, erzählte treuherzig: »Als wir hergezogen sind, hat Vater gesagt, jetzt gehst du noch ein bissel zur Schule. Hei, da war ich froh. Aber sie hat gesagt, das ist nicht so fein, da gibt's einen Privatzirkel, der ist feiner. Also mußte ich da hinein. Einige Mitschülerinnen haben mir gefallen, einige waren Ekel. Eine war sehr nett, die Nelly Bauer, sie tat schrecklich freundlich zu mir, und dann – dann – hat sie mich verklatscht!«

Ursels Augen sprühten vor Zorn. Sie war ganz dunkelrot geworden, und Ellen und Friedrich mußten erst eine Weile trösten und beruhigen, ehe sie in ihrer jammervollen Geschichte fortfuhr. Nelly Bauer hatte sie gefragt, wie die und die von ihren Mitschülerinnen ihr gefielen und Ursel hatte gesagt, was sie dachte, sehr offen und unverhohlen. Von Gerdi Schmidt hatte sie gesagt: Sie schreibt ab, und sie liest ab. Und Nelly Bauer hatte alles, alles den anderen wiedererzählt.

»Und Gerdi Schmidt hat gesagt, ich hätte gelogen, und ich habe nicht gelogen!« Die ganze kleine Ursel erbebte noch vor Aufregung. »Ich lüge nie. Aber Gerdi Schmidt war Fräulein Biermanns Liebling, da hat sie ihr mehr geglaubt als mir, und ich – ich mußte aus dem Kurs raus. Sie hat gesagt, ich wäre eine Schande für den Zirkel, sie schäme sich wegen mir. Da bin ich zu ihr gegangen und habe ihr sagen wollen, daß ich nie lüge, und da – da hat sie immerzu geschrien, kein Wort hab' ich sagen können – und – und – ach, du lieber Himmel, ich schäme mich ja so!«

Ellen Leander nahm das zitternde junge Ding in ihre Arme, und Friedrich sagte gutmütig: »Nur raus damit, Urselein, aussprechen erleichtert, so arg schlimm wird's schon nicht sein.«

»Doch, es ist schlimm, sehr schlimm!« Ursel seufzte bekümmert, und dann sagte sie ganz, ganz leise: »Da hab' ich ihr die – Zunge rausgestreckt – ganz lang – und gerade sind zwei Damen ins Zimmer gekommen, die haben geschrien: Pfui, o pfui! und da bin ich fortgelaufen!« – Die Wirkung dieser Beichte war etwas anders, als Ursel sie sich gedacht hatte. Es gab keine Entrüstungsrufe, nichts, sondern Friedrich brach in ein herzhaftes Lachen aus. Auch Ellen lachte, und dies Lachen der Geschwister klang so jung, so froh und gut, daß Ursels bekümmertes Gesichtchen sich wieder aufhellte. »Ihr lacht,« sagte sie, halb dankbar, halb bekümmert, »es ist doch aber sehr schlimm.«

»Hast du denn nicht versucht, es wieder gutzumachen?« fragte Ellen teilnahmsvoll.

»Schon!« Ursel nickte. »Es ist aber erst recht schlimm rausgekommen. O!« Ursel kämpfte plötzlich mit einem aufsteigenden Lachen, dann umschlang sie Ellen und rief atemlos: »Sie ißt so gerne einen Pfefferkuchen, wie ihn unsere Line bäckt. Und zu ihrem Geburtstag haben wir zusammen den Kuchen backen wollen, weil Tante Regine gemahnt hat, mach's gut'. Wie der Teig beinahe fertig war, fällt der Line ein, der Zimt fehlt. Sie holte ihn und streute ihn darüber. Ich fand wohl, daß was komisch riecht. Sie meinte aber: ›Du hast 'ne komische Nase‹, rührt und rührt und tut flink den Teig in die Form. Der Kuchen ist schön geworden, und ich hab' ihn hingetragen und um Verzeihung gebeten. Weil sie gern Kuchen ißt, war sie ganz freundlich. Wie ich heimkomme, wirtschaftet die Line in der Küche herum, sucht und sucht etwas, und auf einmal, ich hatte gerade mein weißes Kleid ausgezogen, kommt sie und schreit: ›Jetzt, du lieber Himmel, haben wir Rhabarber statt Zimt in den Kuchen getan!‹«

Friedrich lachte so jungenhaft vergnügt auf, daß er beinahe von der Bank gefallen wäre, und auf einmal gab es einen jauchzenden Dreiklang in dem grünen Winkel, bis Ellen endlich schluchzend vor Lachen fragte: »Und wie ist's geworden?«

»Ja, ich bin hingerannt. Erst haben Line und ich ein Weilchen gestritten, wer hingehen soll, dann hab' ich mich flink wieder angezogen und bin hingelaufen, in die Stube hinein und hab' gerufen: Nicht essen, es ist Rhabarber drin!« Ursel atmete tief, dann sagte sie dumpf: »Fünf Damen sind dagewesen, und alle haben sie von dem Kuchen gegessen. Erst haben sie gedacht, ich mach' einen schlechten Witz, auf einmal hat aber Fräulein Biermann geschrien: Ich schmeck's, es ist wahr, und ich habe das – dritte Stück gegessen.«

Wieder jauchzte das Lachen auf im grünen Winkel, und auch Ursel berichtete nun mit Lachen, daß alle sehr böse geworden wären, niemand hätte ihr geglaubt, daß es ein Versehen gewesen wäre, »nur Tante Regine, die war gut,« schloß sie.

»O, diese Tante Regine!« Friedrich seufzte. »Gut mag sie schon sein, lieb dazu, aber daß sie gerade verreist, wenn ich ihr sagen will, ich heiße Friedrich Leander und nicht Müller, das ist schlimm.«

»Verreist?« riefen Ursel und Ellen wie aus einem Munde, und in Ursels Augen traten gleich Tränen: »Und hat es mir nicht gesagt,« klagte sie.

»Es ist ein Wagen aus Rautendorf gekommen, der hat sie geholt. Das Mädchen sagte, dort wäre jemand krank,« berichtete Friedrich.

»Das ist der alte Herr Pfarrer Klinger, noch ein Freund von Tante Regines Vater,« rief Ursel. »O, wenn sie nur in Rautendorf ist, kommt sie bald wieder!« Sie atmete auf. »Es ist auch gut, ohne Tante Regine wäre ich hier ganz verloren und verlassen. Zu ihr geh' ich immer, wenn ich mir nicht zu helfen weiß. Dann sag' ich: ›Erzieh mich doch‹, na, und dann spricht sie nur: ›Das will ich tun.‹«

»Sie erzieht dich? Ja, wie geht denn das so in aller Geschwindigkeit?« fragte Friedrich verdutzt.

»Das ist so: ich setz' mich auf eine Fußbank zu ihren Füßen, oder draußen irgendwo im Garten hocke ich neben ihr. Dann erzähle ich, was ich wieder angerichtet habe, die Frau Kommerzienrat Meyer auf der Straße angerannt oder dem Herrn Pfarrer alle meine Pakete vor die Füße geworfen, na, was es so gibt, dann sagt Tante Regine: Dumme liebe kleine Urschel-Purschel!«

»Und das ist dann erzogen?« rief Friedrich vergnügt, »potz Wetter, das geht flink!«

»Dumme liebe kleine Urschel-Purschel!« wiederholte Ellen und schwapp! wäre sie beinahe samt der Bank umgefallen, so stürmisch flog Ursel Andernach ihr um den Hals. »O du,« jauchzte sie stürmisch, »wie gut, daß du gekommen bist. Ach, nun habe ich doch eine Freundin. Gelt, das bist du doch?«

»Ja,« sagte Ellen und dachte bei sich, ich liebe sie ja schon wie eine Schwester. »Aber du hast eine Freundin,« sagte sie, »ganz nahe, sie heißt Marie, ist eine Lehrerstochter und –« »Marie, hurra, meine Marie, wo ist sie?«

»Sie dient bei Tante Caroline!« Ellen wurde es beinahe schwer, das Wort auszusprechen, und Ursels bewegliches Gesichtchen wurde jäh totenbleich. »Meine Marie dort,« stammelte sie, »muß bei ihr dienen, aber –"

Ellen erzählte nun rasch, was ihr Marie anvertraut hatte, und da sagte Ursel ganz ernsthaft und überlegend: »Sie muß dort weg, ihr muß geholfen werden, ich frage Vater, ob sie zu uns kommen darf, dann lernen wir wieder zusammen, denn lernen tut sie arg gern. Und dann kann sie Lehrerin werden, und ich studiere.«

»Ursel, du?« Friedrich sah das Bäschen sehr verwundert an, dies schien ihm doch ein etwas abenteuerlicher Gedanke, aber Ursels Gesichtchen wurde ernst und besinnlich, als sie antwortete: »Ja ich will viel wissen von den Pflanzen, wie sie wachsen, wie sie alle heißen und verwandt miteinander sind. Von Vögeln und Insekten, von den Steinen, von unserer Erde, viel, viel will ich lernen.«

»Also eine kleine Naturforscherin willst du werden?« fragte der lange Vetter, nun doch etwas ehrfürchtig.

Ursel nickte, und dann erzählte sie von ihren Stunden, die sie nahm, allein, immer allein, aber der alte Lehrer, der sie unterrichtete, war gut und klug, sehr klug, sogar der Onkel Gerhard von Thurn lud ihn oft zu sich. Und wieder glitt ein Schatten über Ursels Gesicht. »Ihr wißt es wohl schon, was ich bei dem für eine Geschichte gemacht habe. Ach Gott, immer passiert mir auch was, und dann will niemand mehr etwas von mir wissen. Mit euch wird's vielleicht auch mal so gehen.«

Und als ihr die Geschwister lebhaft versicherten, sie würden ihr nichts übelnehmen, erzählte sie mit etwas froherem Ausdruck, einmal wäre sie bei Onkel Gerhard gewesen, bald nach seiner Heimkehr, da hätte sie sich das Museum ansehen wollen, und weil sie nasse Schuhe gehabt hätte, wäre sie ausgerutscht, gefallen und hätte dabei eine wertvolle Vase umgerissen. Der Onkel wäre bitterböse geworden. Da bin ich ausgerissen,« schloß Ursel, »und nachher hat ›sie‹ gesagt, er ließe mir sagen, ich dürfte nie mehr zu ihm kommen.«

Da sagte Ellen Leander wieder: »Dumme liebe kleine Urschel-Purschel,« und Ursel Andernach sah die Base ernsthaft an und flüsterte: »Du bist wie Tante Regine. Du siehst ihr auch ähnlich, komm, ich zeige dir ein Bild von ihr.«

»Ein anderes Mal,« antwortete Friedrich, der nach der Uhr gesehen hatte. »Es ist besser, wir gehen jetzt, Ellen, sonst hast du Ärger.«

»Alle guten Geister,« schrie Ursel, »schon so spät, und ihr solltet doch frühstücken. So feine Brote hab' ich für euch geschnitten. Die müßt ihr erst essen. Dort auf die Bank habe ich sie – Nero!« kreischte sie entsetzt und raste auf ein niedriges Bänkchen zu, neben dem faul und satt ein schwarzer Hund lag. Der sprang aber eiligst auf, als er seine kleine Herrin anstürmen sah, er hatte ein äußerst schlechtes Gewissen. »Er hat sie gefressen, alle, alle aufgefressen,« klagte Ursel schluchzend. »Seht ihr, so geht es immer, immer passiert mir etwas, und ich kann doch nichts dafür!«

Diesmal sagte auch Friedrich, obgleich er einen großen Appetit spürte: ›Dumme liebe kleine Urschel-Purschel‹ und er tröstete mit der Schwester zusammen das weinende Bäschen, bis dessen Augen wieder hell strahlten. Ursel erbot sich dann sehr eifrig, sie wolle noch Kuchen aus dem Hause holen. Doch Friedrich überlegte, wie lang sich der Weg dehnte, sah wieder auf seine Uhr und sagte: »Vielleicht das nächste Mal, hoffentlich gibt es morgen schon ein Wiedersehen!«

»Ach, wenn sie doch alle Tage eine Sitzung hätte,« rief Ursel stürmisch, und nachher klang noch lange, lange ihre helle Stimme den Geschwistern in den Ohren, als die wieder durch das grüne Gäßchen liefen. Und als sie sich trennten, sagten sie beide wie aus einem Munde: »Ursel,« lachten sich an und nickten sich froh zu wie zwei, die miteinander einen köstlichen Fund gemacht haben.


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