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11. Kapitel. Wartezeit.

Was in einem der Häuser des Höhenwegs geschah, blieb selten den Nachbarn verborgen. Darum wußten es bald alle, die Schillingsche Nichte war ausgerissen, und der Mieter von Fräulein Regine Andernach war spurlos verschwunden. Und alle bewunderten dies Fräulein Andernach, daß es gleich wieder einen fremden Herrn als Sommerfrischler aufgenommen hatte. So etwas hatte man doch eigentlich am Höhenweg nicht nötig. Es wußte eben niemand, wie leer Regine Andernachs Kasse oft war, weil so viele im weiten Umkreis die Hilfe dieser klugen, warmherzigen Frau in Anspruch nahmen. Von den Sommergästen, die diesmal bei ihr eingekehrt waren, wurde Fräulein Andernachs Kasse freilich nicht voller. Das schaffte ihr keine Sorge, die größere Sorge waren jetzt die beiden Leanders. Der Garten um Forstrat Andernachs Haus war dicht, im Nebenhaus wohnten alte Leute, die nicht gleich jedes Lachen hörten, die beiden Leanders waren also trotz des Höhenweges Neugier noch unentdeckt. Wie lange noch! Sie standen noch unter Vormundschaft, Direktor Schilling war des Geheimrats gesetzlicher Vertreter, er konnte beiden also den Aufenthalt bei den Verwandten verbieten. Fräulein Regine fürchtete, er würde vielleicht rücksichtslos diese seine Macht gebrauchen.

Und der Geheimrat von Thurn kam nicht. Immer noch nicht. Der gute Doktor Berner rannte zu jedem Zug auf den Bahnhof, und da es heiße Sommertage waren, stand er da, schwitzte und stöhnte, und seine einzige Freude war es, daß es dem Direktor Schilling nicht besser erging. Der ärgerte sich noch dazu, das war noch schlimmer. Frau Schilling war bei ihrer Schwester gewesen, und hatte sich bitter beklagt, daß diese den Fremden aufgenommen. Aber Fräulein Regine hatte dazu nur gelächelt. »Warum nicht, er scheint recht nett zu sein, und wenn er auf den Vetter Gerhard wartet, kann er doch hier wohnen.«

Frau Hofrat Schilling hatte das Benehmen einmal wieder unbegreiflich gefunden, aber sie kam, trotz ihrer Drohung, nie mehr zu kommen, doch immer wieder. Sie kam sogar von einer wachsenden Angst getrieben. Wo war Ellen Leander geblieben? Ihres Sohnes Nachforschungen nach ihr, blieben erfolglos, und auch in ihm wuchs und wuchs die Angst. Direktor Schilling ahnte, daß der Mieter bei Fräulein Regine wohl Friedrich Leander gewesen war, was diese dann auch zugegeben hatte, indem sie sagte, sie hätte seinen Namen in seinen Büchern entdeckt, und wolle daher sein Ausbleiben auch nicht melden. Direktor Schillings Verdacht umschlich die beiden Häuser. Ursel aber war wachsam, so wachsam wie ein treuer Hund. Zweimal erwischte sie den Direktor gerade noch im Hausflur, redete ihn sehr laut an und schrie in den Garten hinaus: »Tante Regine, Franz Schilling ist da,« obgleich Fräulein Regine ganz ruhig in ihrem Häuschen war.

Dem Direktor fiel das auf. Er versuchte deshalb die alte Minna auszufragen, aber die war verschwiegen wie sieben Siegel. Sie schloß nachher sogar noch einfach alle Türen, die nach dem Garten führten, ab, und da der Vorgarten durch einen Zaun getrennt war, konnte so leicht keiner in die grüne Schattenstille dringen, in der trotz aller Sorgen drei lustige Vögel ein vergnügtes Sommerleben führten. Sie lachten und schwatzten zusammen, aßen Minnas Speisekammer fast leer, trotzdem sie sagte: »Mehr einkaufen geht nicht, das spricht sich gleich rum.« Die drei lagen auf dem Rasen, lasen schöne Bücher, redeten über das Gelesene, bauten kühne Luftschlösser in die Zukunft hinein und warteten alle Tage sehnsüchtig und ungeduldig auf Onkel Gebhards Heimkunft.

Wo blieb nur der Geheimrat? Doktor Berner wurde ungeduldig, umsomehr da er eine ganz ungewöhnliche Eile hatte. Einmal rannte er schon in aller Herrgottsfrühe davon und kam dann gerade stöhnend und vor Hitze glühend wie ein gutgeheizter Backofen zum Mittagszug auf dem Bahnhof an. Da stand auch bereits der Herr Direktor Schilling, und sah so blaß aus, wie der Doktor rot war. Der Zug kam. Menschen stiegen aus, stiegen ein, aber kein Geheimrat war dabei.

Während Direktor Schilling wütend davonraste, mußte Doktor Berner erst noch ein paarmal nach Luft schnappen und ächzte dazu: »Oh, ist das aber heiß!« Da sagte eine recht behäbige Frau, die mit einer altmodischen Reisetasche in der Hand neben ihm stand: »Sie ist es wohl sehr heiß, mich nämlich auch!«

Der gute Doktor, der gar nicht für Gespräche eingenommen war, knurrte nur, aber die Fremde ließ sich nicht abweisen, sie fragte sehr freundlich nach dem Höhenweg, erklärte, sie wäre fremd hier und hätte eine weite Reise unternommen. Sie tat dabei einen kellertiefen Seufzer und wischte sich gleich ein paar Tränen aus den Augen. Die Reiseursache schien also sehr rührend zu sein.

»Da ist der Höhenweg!« Doktor Berner fuchtelte mit der Hand durch die Luft, und wenn einer wollte, konnte er annehmen, der Höhenweg läge in den Wolken.

»Gehen Se auch hin?« Die Fremde blieb an seiner Seite, und als der Doktor brummte: »Ja,« erklärte sie, mit ihm gehen zu wollen. Und kaum waren sie drei Schritte gegangen, da fragte sie: »Kennense hier ne' Frau Hofrätin Schilling?«

»Was wollen Sie denn da?« Der Doktor blieb stehen und sah die dicke Frau prüfend an, nein, von dem Geheimrat konnte sie doch keine Nachricht bringen.

»Den Marsch will ich ihr blasen, aber ordentlich!« Die Fremde sah sehr unternehmungslustig aus, und der Doktor nickte zufrieden. Das konnte der Frau Hofrat seiner Meinung nach nicht schaden. Und da sie inzwischen beide am Haus der Dame angelangt waren, sagte er: »Da wohnt sie,« und gleich darauf fügte er hinzu: »Da kommt sie.« Er selbst trat rasch ein paar Schritte zurück, um von der feierlich einherschreitenden Frau Hofrat Schilling nicht gesehen zu werden. Er war ein wenig neugierig und blieb deshalb stehen, das Marschblasen interessierte ihn. Die dicke Frau verstellte der Hofrätin sehr energisch den Weg und sagte laut und deutlich: »Ich bin Mutter Bienerten.«

»Wer?« Die Hofrätin hob ihr Stilglas empor und musterte hochmütig die Frau, doch damit kam sie ganz und gar an die Unrechte. Die sagte sehr bestimmt: »Die Mutter Bienerten bin ich, Berta Bienert geborene Drillhase, und Sie hab' ich schon gekannt, als Sie noch bei meiner Frau Professor Leander selig ihren Eltern in die Himbeeren gegangen sind. Und nu will ich wissen, wo die Kinder sind, die Leanderschen, mich hat die Angst hergejagt!«

Frau Hofrat Schilling war erblaßt bei dieser Rede, sie schielte scheu zur Seite, und als sie da einen Durchschlupf sah, rannte sie, die vornehme gelassene Dame, die alle Hast unschicklich fand, blitzschnell in ihr Haus hinein und ließ Frau Bienert stehen, wo sie stand. Die besann sich aber nicht lange, sie rannte ihr sogleich nach und zog an der Klingel, zog und zog, hörte die schrille Glocke innen immer wieder bimmeln, es öffnete ihr aber niemand die Tür. Das Haus blieb fest verschlossen.

Da ließ sich von ferne eine Stimme vernehmen: »Bitte, folgen Sie mir, Frau Bienert.« Und als sich die dicke Frau Bienert erstaunt umdrehte, erkannte sie den Herrn, mit dem sie vom Bahnhof heimgekommen war. Er schritt den Höhenweg entlang, sah sich dabei um und winkte ihr. Und Frau Bienert besann sich nicht lange, sie trippelte hinter ihm her. »Warten Sie doch,« rief sie ihm nach, aber er wartete nicht, sondern ging in ein Haus hinein, wohin ihm alsbald auch Frau Bienert folgte. Im Hausflur angekommen, stand sie dann auf einmal vor Fräulein Regine Andernach und Doktor Berner sagte: »Hier, das ist die berühmte Mutter Bienert.«

Jemine, so etwas hatte ja Frau Bienert noch gar nicht erlebt! Sie wurde in die ›gute Stube‹ genötigt, und dort frischte sie mit Fräulein Regine alte Jugenderinnerungen auf. Sie erfuhr, wo Ellen und Friedrich waren, sie freute sich kindlich an dem Geheimnisvollen, sagte, es wäre wie im Kino und erklärte zuletzt: »Ich setz' mich vor dem Geheimrat seine Türe. Wenn er Ihnen und dem Herrn Doktor durchgeht, erwisch' ich ihn da. Und sei'n Se versichert, Fräulein Re– Fräulein Andernach, ich, die Mutter Bienerten, sag' ihm die ganze Wahrheit. Nischt wird ihm geschenkt, und wenn er Ohrenschmerzen kriegt, ist mir ganz einerlei.«

Fräulein Regine war gegen den Plan. Der Doktor Berner aber war für ihn. »Je mehr Hilfstruppen wir haben, je besser ist es,« meinte er, und hatte viel Spaß an der kleinen Verschwörung. Auch beschloß man, Frau Bienert sollte nicht erst Friedrich und Ellen begrüßen, weil Fräulein Regine befürchtete, daß deren Freudengeschrei zu durchdringend aus der grünen Schattenstille heraustönen könne.

Also trank Mutter Bienert erst reichlich Kaffee, was sie als die beste Stärkung nach so langer Fahrt ansah, und wanderte dann den Höhenweg hinauf, um des Geheimrats Haus zu bewachen. Sie öffnete dort ganz gleichmütig die Gartentüre, ging bis zur ersten Bank, von der sich der Weg wie das Haus gut übersehen ließ, und setzte sich da breit und behaglich hin. Sogleich kam der Diener des Geheimrats angelaufen, um zu fragen, was dies sonderbare Beginnen eigentlich bedeuten solle. Doch Frau Bienert nickte ihm gleichmütig zu und sagte heiter: »Ich bin die Mutter Bienerten und warte auf den Herrn Geheimrat. Den kenn' ich schon von annodazumal.«

»Das wird Sie nichts nützen, denn der Geheimrat ist –«

»Nicht zu Hause, weiß ich, aber er kommt wieder, und ich bleibe hier und warte.« Und bei diesen Worten zog Frau Bienert eine lange, lange Strickerei aus ihrem Beutel. »Ich will für meine alten Tage für Wärme sorgen,« sagte sie. Diese Arbeit nahm sie immer vor, wenn sie sich selbst zur Geduld mahnen wollte; sie hatte auf der langen Fahrt daran gestrickt und strickte jetzt wieder daran, der Diener mochte reden so viel er wollte. »Ich bleibe,« sagte sie, und sie blieb, und der Diener ging endlich brummend in das Haus zurück.

Mutter Bienert saß im Sonnenschein, stöhnte über die Hitze, strickte und wartete; Fräulein Regine Andernach saß oben im Waldesschatten, fand es auch recht heiß und wartete auch. Der Doktor Berner aber lief wieder einmal stöhnend und schwitzend auf dem Bahnsteig des kleinen Bahnhofs hin und her. Er wartete auch, und sah zu seiner großen Freude, daß auch der Herr Direktor Schilling wieder wartete, und es ihm dabei nicht minder heiß war.

Auf einem Rasenfleck im Schattenwinkel aber lagen Ursel, Ellen und Friedrich, jedes hatte ein Buch, und jedes schaute nicht hinein. Sie warteten eben auch, denn die kleine Marie, die mittags auf einen Husch bei Andernachs gewesen, hatte verkündet: »Heute soll er bestimmt kommen.«

»Wenn es nur glückt,« meinte Ursel zum dritten Male ungeduldig. Sie sprang auf, sie konnte dies Warten kaum noch ertragen, und sie las in den Gesichtern von Vetter und Base die gleiche bange, zitternde Ungeduld. »Ich schau mal in die grüne Gasse, weil Marie gesagt hat, wenn sie etwas merkt, so komme sie gleich,« rief sie. Friedrich und Ellen waren sehr damit einverstanden, und es kam wie aus einem Munde. »Ach ja, sieh nach!«

Jetzt rannte Ursel zur kleinen Pforte, und die Geschwister folgten ihr, sie wollten dort auf einer Bank warten. Sehnsüchtig sahen sie der Ursel nach, wie die hinausschlüpfte. So schön dies stille heitere Miteinander in dem Andernachschen Haus und Garten auch war, so geheimnisvoll sein Reiz, an diesem Nachmittag hatten die beiden doch ein wenig das Gefühl, gefangen zu sein. Draußen lag die weite Welt, draußen gab es Waldwege und Straßen in das Land hinein, aber sie durften nicht an das Wandern denken.

Ursel war auf die schmale Gasse hinausgetreten, auf der Sonne und Schatten wechselten und sah sie sehnsüchtig entlang. Schmal, fast immer einsam führte sie an allen Gärten des Höhenweges entlang, und lief oben über ein Stück Wiese in den Wald hinein. Und wie Ursel so das Gäßchen auf- und abblickte, da sah sie auf ihm von unten einen Herrn kommen. Er ging rüstig einher, war hoch und schlank, sah von weitem noch aus wie ein ganz junger und war doch – der Geheimrat von Thurn.

Er war es wirklich. Ursels Herz schlug auf einmal schwer und bang. Sie dachte einen Augenblick daran, in den Garten zurückzufliehen. Aber dann ging sie ein paar Schritte das Gäßlein hinab, blieb dann stehen und sah dem Geheimrat mit großen Augen ernst entgegen.

»Ei, Urschel-Purschel, da bist du ja,« rief der. »Das muß ich sagen, ein seltener Anblick, Kind. Ich glaube, ich habe dich seit Monaten nicht gesehen.«

Ursel knixte wie ein kleines Schulmädel ganz tief. Ihre Stimme zitterte wie ein Blatt im Winde, als sie antwortete: »Ich – ich durfte doch nicht zu – dir kommen!«

»Durftest nicht! Aber, Kind, wer hat dir das verboten?«

»Tante Schilling hat doch gesagt – du – du wolltest mich – nie mehr – bei dir sehen,« stotterte Ursel.

Der Geheimrat hatte ihre Hand genommen, und fühlte das Zittern dieser kleinen braunen Hand. Er blickte mitleidig in das erregte junge Gesicht. »Du kleines Närrchen,« sagte er milde, »Tante Schilling muß mich falsch verstanden haben, du kannst allzeit zu mir kommen. Also besuche mich bald.« Er wollte gehen, da hielt Ursel ihn plötzlich fest, und ihre Stimme war ganz heiser vor Aufregung: »Komm mit hinein!« flehte sie.

»Zu euch in den Garten? Du willst mir wohl Kaffee kochen!« Der Geheimrat lachte ein wenig, sah aber dabei in Ursels große, weit zu ihm aufgeschlagene Augen. Bitte lag darin und Angst und ein gläubiges reines Kindervertrauen. Da ließ er sich gern in den Garten führen, und dachte dabei, wie lieb ist sie doch, die kleine Ursel Andernach, ich kann mir gar nicht denken, daß sie so ein Unband ist, wie die Base Schilling sagt.

Die kleine Pforte ging auf, der Geheimrat schritt hindurch, und da sah er zwei schöne junge Menschen vor sich, die ihn betroffen und fragend anstarrten. Ellen Leander wurde totenbleich, sie umklammerte Friedrichs Hand und Friedrich, der nicht wußte, wer da vor ihm stand, blickte fragend zu Ursel hin. »Das sind Leanders,« stieß diese heraus, und dann verließ die kleine törichte Ursel alle Fassung, sie kauerte plötzlich auf dem Boden nieder und brach in jämmerliches Schluchzen aus.

Der Geheimrat sah erstaunt drein und erkannte Ellen gleich wieder. »Das sind Leanders,« diese Worte Ursels klangen ihm noch im Ohr, da trat auch Friedrich vor, der den Zusammenhang ahnte und sagte einfach: »Ich heiße Friedrich Leander!«

»Also – mein ungehorsames Mündel!« Der Geheimrat krauste die Stirn, aber die schluchzende Ursel, Ellens zitternde Angst und Friedrichs freimütiger Blick ließen keinen Groll in ihm aufkommen. »Erklärt mir einmal, was das alles zu bedeuten hat?« fragte er ruhig.

Friedrich sah, daß von den Mädels keine Redehilfe zu erwarten war, er sprach daher selbst. Mit etwas benommener Stimme, doch ganz frei und offen sagte er alles, erzählte von seinem heimlichen Herkommen, Ellens Flucht und vom Schutz, den die Andernachs ihm geboten.

Ein paarmal schüttelte der Geheimrat den Kopf, irgend etwas schien ihm nicht klar zu sein, und als Friedrich einmal schwieg, sagte er: »Aber ganz ohne Fehl seid ihr doch nicht, lebt heimlich in einer anderen Pension, als Schilling für Ellen ausgesucht hat?«

»Es reicht doch sonst nicht für beide,« rief Ellen.

»Wie – es reicht nicht für beide?«

»Nun ja – Friedrich erhält doch kein Monatsgeld mehr,« stammelte Ellen.

»Freilich nicht, weil er ja ganz selbständig seines Vaters Sammlung verkauft hat,« erwiderte der Geheimrat. Seine Stimme grollte jetzt, seine Stirn hatte sich finster gefurcht, er kam aber nicht dazu, ein Wort zu sagen, denn die beiden Leanders riefen stürmisch: »Vaters Sammlung verkauft? Nein, nein, das ist doch nicht wahr – Sie haben sie doch – für uns –«

»Ich?« Der Geheimrat war so verdutzt, daß er wirklich nur ein paarmal wiederholen konnte: »Ich – ich? Ich soll die Sammlung haben?«

»Ja,« antwortete Friedrich und ganz verstört Ellen auch.

»Na, das konnte ich mir denken, daß da etwas nicht stimmt.«

Sehr rot, sehr heiß, in diesem Augenblick aber strahlend vor Freude tauchte Doktor Berner zwischen den Büschen auf. Er schrie laut: »Grüß Gott, Herr Geheimrat, na, das ist 'ne Überraschung, seit vier Tagen stehe ich zu jedem Zuge auf dem Bahnhof, und auf einmal stehen Sie hier.«

»Berner!« rief der Geheimrat verwundert, »ja, wie kommen Sie denn hierher?«

»Bin anscheinend extra vom Himmel ausersehen, um in diesem Durcheinander etwas mitzuspielen,« sagte der Doktor. »Ich erzähle Ihnen alles, nur müssen Sie sich setzen, Herr Geheimrat.« Und ehe er recht wußte wie, saß der Geheimrat schon auf der Bank. Doktor Berner neben ihm, während die beiden Leanders still dabei standen, Hand in Hand, und Ursel auf der Erde hockte und weinte.

Der Doktor wollte gerade mit seinem Bericht anfangen, als zwei Frauen durch den Garten kamen, und die eine von diesen – Regine Andernach schon von weitem zu rufen anfing: »Kinder, wie schade, er ist leider wieder nicht gekommen.« Im selben Augenblick bemerkte sie aber auch schon den einstigen Freund auf der Bank sitzen und wurde blaß vor Erregung.

Der Geheimrat dagegen sprang von seinem Sitz auf, streckte ihr die Hand entgegen und sagte, »Regine, gute Regine, was bedeutet das alles, bitte erkläre du es mir.«

Und nun hörte man einen Freudenschrei: »Mutter Bienert!« erscholl es aus Ellens Mund, die ihre Augen weit öffnete und sich nicht genug darüber wundern konnte, wo diese treue Freundin nun auf einmal auch hergekommen war.

»Ja, ja, die bin ich,« erwiderte Mutter Bienert, drängte sich neben die beiden schlanken Menschen und rief fast drohend: »Die Bienerten läßt euch nicht im Stich, da mögen hundert Geheimräte ankommen.«

Geheimrat von Thurn hielt Fräulein Regine Andernach an der Hand und führte sie zu der Bank. Es war ihm anzumerken, wie froh er war, daß seine Jugendfreundin wieder einmal neben ihm saß. Die hatte frohe Augen bekommen, sie sah zwar, hier waren schon ernste Worte gefallen, aber sie hatte doch die Hoffnung: nun wird alles gut enden. Und klar und knapp begann sie zu erzählen, was sich zugetragen. Doktor Berner nickte dazu, der Geheimrat aber sah ernst drein, und als Fräulein Andernach mit Erzählen fertig war, sagte er gelassen: »Ellen ist offenbar unrecht geschehen. Friedrichs Schuld aber bleibt, trotzdem er vorhin geleugnet hat, daß er seines Vaters Sammlung heimlich verkauft habe. Ich habe Beweise, habe heute erst Stücke davon gesehen.« – »In Schloß Weiler,« unterbrach ihn Doktor Berner, aber sein Wort verhallte in dem Schrei, den Friedrich Leander ausstieß: »Das ist nicht wahr, Vaters Sammlung – Sie – Sie haben sie doch übernommen.«

»Man ruhig, Herr Friedrich!« Mutter Bienert legte ihre Hand sachte auf Friedrichs Arm. »Sie haben se nich verkauft, das kann ich beschwören, der Herr Geheimrat hatse auch nich gekriegt, die Kisten sind alle nach Hamburg gegangen, und ich glaube, der Herr Direktor Schilling hatse alleine verkauft.«

Ein tiefes Schweigen herrschte, alle sahen erstaunt auf die Frau, die eine so ungeheuerliche Anklage so gelassen vorbrachte. Frau Bienert kam aber nicht aus ihrer Ruhe, sie erzählte breit, mit einem gewissen Behagen, sie wäre kürzlich bei dem Spediteur gewesen, bei dem die Leanderschen Sachen lagerten, und dabei hätte sie gefragt, wohin denn damals die Kisten geschickt worden wären. Aus Gefälligkeit hätte der Mann nachgeschlagen und ein großes Hamburger Haus genannt, das gleiche, bei dem Direktor Schilling damals angestellt war.

Konnte das denn sein! Der Geheimrat schüttelte immer wieder den Kopf, und murmelte vor sich hin: »Unmöglich,« aber Doktor Berner sagte: »Ich glaube, es stimmt!« Er erzählte nun von seinen Nachforschungen, zweimal war er noch im Schloß Weiler gewesen, der Graf hatte die seltenen Stücke von einem großen Kunsthändler erworben, der wieder hatte auch die Hamburger Firma genannt. Aber der Geheimrat entgegnete: »Unmöglich, ich habe ja das Erziehungsgeld angewiesen – wie sollte er da zu dem Verkauf kommen!«

Er blickte um sich und sah die beiden Leanders eng zusammenstehen, Hand in Hand, und erkannte in Friedrichs Gesicht allmählich die Züge von dessen Vater wieder. So freimütig, so offen war auch dessen Gesicht gewesen, konnte das täuschen? Aber da war noch vieles aufzuklären. Direktor Schilling hatte sich doch stets als vollständig zuverlässig erwiesen. Warum sollte er eine Sammlung verkaufen, an der er kein Interesse hatte!

Der Geheimrat stand jäh auf. »Ich werde mir Klarheit verschaffen,« sagte er. »Du, Ellen, magst mit in mein Haus kommen und vorläufig bei mir bleiben.«

Ellen hielt noch immer die Hand ihres Bruders, den sie ganz ruhig ansah, auch ihre schöne warme Stimme klang ruhig, als sie sagte: »Ich verlasse Friedrich nicht.«

Da runzelte der Geheimrat die Stirn. »Du hast mir zu gehorchen,« streng kam das aus seinem Munde. Und wieder sah Ellen immer nur ihren Bruder an, und wieder sagte sie, mit bebenden Lippen: »Ich verlasse Friedrich nicht.«

Dem Onkel wollte ein rasches zorniges Wort entschlüpfen, da fiel sein Blick auf Ursel, die weinend zu der Geschwister Füßen hockte, und es kam ihm in den Sinn, daß sie gesagt, er hätte ihr sein Haus verboten. Hatte da seine Base Schilling nicht gelogen, und bei Ellen –! Er sah die beiden jungen Menschen stehen, Hand in Hand, wie verkettet miteinander, und er sah, Friedrich hatte seines Vaters freie hohe Stirn, seine klaren Augen, konnte der so lügen?

Seine Stimme hatte allen Unmut verloren, als er weiter fragte: »Du trotzt mir, Ellen, was tust du aber, wenn ich mich nun auch von dir wende?«

»Mit Verlaub, da bin ich auch noch da, ich, die Mutter Bienerten. Die Leanderschen lasse ich nicht im Stich, nääh, was ich der Frau Professorn gelobt habe, das halte ich.« Mutter Bienert schob sich ein wenig vor, und unwillkürlich drängte sich Ellen an sie heran, und die sonst so gutmütigen Augen der dicken Frau blitzten den Geheimrat ordentlich feindselig und kampfbereit an.

Darüber lächelte der Geheimrat ein wenig. Er bückte sich und hob Ursel vom Boden auf. »Kleine Urschel-Purschel,« sagte er gütig, »warum weinst du so?«

»Weil – weil Friedrich und Ellen ganz gewiß unschuldig sind. Ich habe sie so lieb,« flüsterte Ursel.

Also auch Ursel war für die beiden. Der Geheimrat sah seinen Vetter, seine Base an, sein Blick traf mit dem des Doktor Berner zusammen, und der Doktor sagte gemütlich: »Es ist schon so, Herr Geheimrat. An Friedrich Leanders Schuld glauben wir alle nicht, eher an die des – anderen.«

»Wir werden sehen.« Der Geheimrat überblickte noch einmal den Kreis. »Ich hoffe, es wird sich alles klären, es wird schon alles gut,« sagte er.

»Soweit es die Leanderschen betrifft, ganz sicher,« ließ sich Mutter Bienert vernehmen, und in ihrer Stimme grollte noch der Ärger.

Diese Worte hallten dem Geheimrat noch nach, als er wieder zu der kleinen Pforte zurückging, wobei ihm Regine Andernach das Geleite gab, während die anderen zurückblieben. »Wie denkst du darüber?« fragte am Ausgang der Geheimrat seine Base, die ihn klar und gütig ansah. »Daß Friedrich Leander unschuldig ist, ob der andere schuldig, das wirst du schon erkennen.«

»Nein, nein, es muß ein Irrtum sein,« erwiderte der alte Herr: »Ich habe ihm immer vertraut.«

Die Pforte klappte hinter ihm zu, und Regine Andernach kehrte wieder zu den anderen zurück. Sie fand alle still, sogar ein wenig bedrückt, und Frau Bienert zog gelassen ihr ungeheures Strickzeug heraus und begann zu stricken: »Man muß die Zeit ausnützen,« sagte sie, »warten macht sonst dösig.«


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