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7. Kapitel. Gefangen und frei.

Heiß, eilig, aber mit einem frohen Lachen um die Lippen kam Ellen Leander am Haus der Tante an. Marie empfing sie mit ganz verstörtem Gesicht. Sie tuschelte ihr zu: »Die gnädige Frau ist ganz schrecklich wütend. Sie sollen nur gleich in Ihr Zimmer hinaufgehen, sie käme nach.«

Marie entfloh eilig, Ellen aber stieg ganz verwirrt und tief erschrocken zu ihrem Zimmer empor. Was war geschehen? Hat sie erfahren, daß Friedrich da ist, oder daß ich bei Ursel war? dachte sie. Da tat sich auch schon die Türe auf, und die Hofrätin stand vor ihrer Nichte. Ein zorniger Blick traf das erblaßte Mädchen. Ellen wollte etwas sagen, eine Frage tun, aber da schrillte schon der Tante Stimme auf, messerscharf, hart und kalt. »Du Lügnerin, du Heuchlerin, du!«

Ellen wich entsetzt zurück. Die Frau vor ihr hatte alle Herrschaft über sich verloren, und ein Schwall maßlos heftiger Worte überschüttete das junge Ding. Aus ihnen hörte Ellen heraus, daß man sie und Friedrich zusammen gesehen hätte, aber niemand hielt ihn für ihren Bruder. Eine tiefe Glut stieg in Ellens Gesicht, als die Tante ihr Leichtsinn und allerlei Häßliches vorwarf. Sie wollte rufen: Sei still, es ist ja Friedrich, aber sie preßte plötzlich die Lippen ganz fest zusammen. Nein, ehe der Vormund zurück war, durfte die Hofrätin das nicht wissen. Sie hatte eine dumpfe Ahnung, ein Geständnis würde alles verschlimmern, und so schwieg sie zu allen Vorwürfen, sie sah nur die zornige Frau unverwandt mit ihren ernsten Augen an. Doch das schien diese noch mehr zu reizen, ihre Stimme wurde lauter, schriller, und endlich schrie sie: »Bis mein Sohn kommt, bleibst du eingesperrt, und bis zum Abend magst du hungern!«

Die Türe flog krachend zu, der Schlüssel kreischte, und Ellen strich sich fast betäubt über die Stirn. Sie, Ellen Leander, die immer still und stolz ihren geraden Weg gegangen war, die Klarheit und Wahrheit liebte, war hier eingeschlossen worden wie ein ungezogenes Kind, wie eine Verbrecherin!

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Ellen die erlösenden Tränen fand, und dann weinte und weinte sie und meinte, sie könne nie mehr froh werden in ihrem jungen Leben, könne nie die Schande dieser Stunde verwinden.

Etwas knarrte leise, ein Schritt huschte, und auf einmal tat sich eine nach einer Nebenkammer führende, bis dahin verschlossene Türe auf, und die kleine Marie glitt in das Zimmer. Sie legte den Finger auf den Mund und kam ganz leise zu Ellen heran. »Sie schläft,« flüsterte sie, »und die Köchin schläft auch. Da bin ich in das Kammerfenster eingestiegen, es geht von meiner Kammer aus ganz gut. Da ist was, damit Sie nicht hungern, und soll ich jemand was bestellen?«

Sie schob Ellen ein Päckchen zu, und als die unwillkürlich zurückwich, sagte die kleine Marie treuherzig: »Sie können's nehmen, es ist von meinem Brot.«

Ellen schossen wieder die Tränen in die Augen, zaghaft drückte sie die Hand des Mädchens und stammelte: »Es ist etwas Schreckliches vorgefallen.«

»Ach, ich weiß alles,« sagte Marie gelassen. »Die Köchin hat an der Türe gehorcht und hat mir alles erzählt. Weiß sie nun, daß der junge Herr Ihr Bruder ist?«

Ellen schüttelte glührot den Kopf. »Nein,« murmelte sie, »sie darf es auch nicht erfahren, – bis mein Vormund zurückkommt.«

»Aber übermorgen kommt ja der Herr Direktor, vielleicht früher, ich habe gleich eine Depesche forttragen müssen, darin stand: Komm sofort.«

»Was mache ich nur?« Ellen sah sich ratlos um. Der Gedanke, den Direktor als Richter vor sich zu sehen, war ihr entsetzlich, und die kleine Marie schien ihre Furcht zu erraten. Die sagte sanft, tröstend: »Ich denke, Ursel hilft Ihnen schon. Ich laufe am Nachmittag rasch mal hin, es soll schon niemand merken, und abends komme ich und sage Bescheid. Jetzt muß ich aber gehen, damit niemand was merkt.«

»Danke,« flüsterte Ellen, »danke.« Da drehte sich die kleine Marie nochmals rasch um und sagte heftig: »Für Sie gehe ich durchs Feuer. Verzagen Sie nicht, wenn erst Fräulein Regine wieder da ist, wird alles gut.«

Und wieder knarrte die Türe ein wenig, der huschende Schritt verklang, Ellen Leander war wieder allein mit ihrem Kummer. Freilich ein Lichtschimmer erhellte das Dunkel ihrer Betrübnis, Ursel, Tante Regine. Doch Ursel konnte nichts ausrichten, die war selbst in Acht und Bann getan, und Tante Regine war verreist. Vielleicht kam Direktor Schilling noch vorher an, was tat sie dann?

Das Päckchen, das ihr Marie gebracht, rutschte von ihrem Schoß, es fiel zu Boden, und Ellen bückte sich und packte es aus. Ein paar Schnitten lagen zierlich zurechtgemacht darin und obenauf eine schöne rote Rose. Diese zarte Güte des einfachen Mädchens ergriff Ellen tief, und auf einmal dachte sie an lauter gute freundliche Menschen, die ihr Liebes erwiesen hatten und das tröstete sie. Tapfer scheuchte sie ihre Tränen weg und begann wirklich zu essen. Es schmeckte besser, als sie gedacht hatte. Sie aß ein Brot, noch eins, nahm das dritte, da lag ein Brief darunter. Aus L. kam er, von Frau Bienert, sie erkannte gleich die ungelenke Handschrift. Marie hatte ihn gewiß in Empfang genommen und ihn mitgebracht, damit er nicht in die Hände der Tante fiel.

Ein Brief von Mutter Bienert! Ellen Leander meinte die gute Stimme der dicken Frau zu hören, ihr heiteres, festes: ›Man muß niche die Flinte ins Korn werfen,‹ was sie oft sich und anderen zum Troste sagte. Da kam ein schönes Lächeln in Ellens Gesicht, sie öffnete rasch den Brief, doch plötzlich erschrak sie, lief flink zur Türe und schob den Riegel vor, dann erst begann sie zu lesen. Frau Bienert schrieb:

»Liebes Fräulein Ellen!

Nee ist mich das bange nach Sie beide, ich kann das gar nicht so sagen. Aber wie ich denke Sie sitzen beide mitten ins schöne Wolkenburg, tröste ich mich selbstens immer und sage: Bienerten, gönne den Kindern die Freude und höre auf mit's Geheule. Sonst ist nichts Neues basiert, nur ist mein großer grauer Kocher Entzwei, er hat es mit das Laufen gekriegt und der Klembner sagt, das kann er ihm nicht mehr abgewöhnen. Ja und gestern kommt auf einmal, haste nich gesehen, der Herr Dürekder Schilling an und will sehen, wie das Fräulein Ellen wohnt. Ja du meine Güte, der hat schon seine Augen gegullert und hat gesagt, eine feine Pangschon wär das nu niche, wo ich ihm gesagt habe, bei die Teurung ging's nicht anders und in die Pangschon wär das immer ein Heiden Lärm gewesen nichts fürs Arbeiten und Fräulein Ellen wäre immer für's Fleißige. Ich hab auch gesagt, ich bin schon bei die Großeltern gewesen, da ist er denn abgeschoben aber nich gerade mit 'nem Gesicht wo man sich dran freuen könnte. Ich schreib das nun so, weil daß er noch gesagt hat, er fährt hin und wierde mal Reden. Und das schreibe ich, liebes Fräulein Ellen, damit Ihnen der Schreck nich in die Beine fährt, wenn er kommt und von die unfeine Pangschon redet. Das Herz ist mir recht schwer um meine lieben Kinder und ich bitte den Lieben Gott er möchte alles gut machen. Mit viele Grüße, auch an den lieben Herrn Friedrich die Mutter Bienerten. Ziehen Sie das Weiße Kleid auch oft an? Mich täte das sehr freuen. Nochmals

Mutter Bienerten.«

Ellens Tränen rannen auf den Brief nieder. Eine neue Sorge hatte er ihr gebracht, aber auch viel treue Liebe. Die steifen Schriftzüge, die vielen Fehler, alles schien ihr nur lieb, vertraut. Sie wußte, jetzt saß die gute treue Frau in ihrer Wohnung und dachte voll Sorge an sie beide, sie wußte, ihre Gedanken umkreisten sie immerzu, und sie sah es ordentlich vor sich, wie Mutter Bienert ihre dicken Hände faltete und für sie beide betete.

Plötzlich richtete sich Ellen Leander kerzengerade auf. Jäh war ihr der Gedanke gekommen, morgen trifft vielleicht schon der Direktor ein, und ihr Vormund war noch nicht da, Fräulein Regine Andernach wußte noch nicht, wer ihr Mieter war.

Das ging doch nicht. Der Tante Hofrat alles gestehen? Ellen meinte wieder die harte schrille Stimme der Frau zu hören, so böse hatte die geklungen, und sie wußte, sie würde kein Wort herausbringen, würde nicht sagen können, so ist es gekommen, und meinem Bruder wird unrecht getan. Sie sann und sann, was sollte sie nur tun? Draußen verglühte der schöne Tag, wie gern wäre Ellen Leander hinausgelaufen in die freie weite schöne Gotteswelt, aber sie war ja gefangen, gefangen! Da raschelte es auf einmal draußen an der Türe, und dann kam sacht ein feines rosenrotes Brieflein unten durch. Das lag da und lockte: »Nimm mich, lies mich.« Ellen sprang auf und holte den kleinen Boten. Es kommt von Ursel dachte sie, und es kam auch von Ursel. Kurz war es und offenbar in Eile hingeschrieben. Ellen Leander las: »Herzens-Ellen, Du mußt ausreißen, das geht nicht anders. Marie besorgt alles, folge ihr, Du kommst zu mir, ich freu' mich rasend. Vater wird schon helfen und Tante Regine. Daß sie Dich eingesperrt hat, sieht ihr ähnlich, und hungern sollst Du, pfui! Weine nicht, ich freue mich schrecklich auf Dein Kommen, Deine Ursel.«

Es war, als ginge von dem kleinen rosenroten Brief ein helles Schimmern aus, das sich allmählich auch über Ellens Gesicht verbreitete. Ursel, dachte sie, liebe kleine Ursel! Und ein festes Vertrauen wuchs in ihr auf, daß Ursel ihr wirklich helfen würde. Doch da polterte draußen ein lauter Schritt, Ellen hatte gerade noch Zeit, den verräterischen Brief in ihre Bluse zu schieben, als schon der Schlüssel im Schloß knarrte, die Köchin kam herein. Sie brachte ein Glas saure Milch und ein Stück trockenes Brot und sagte spöttisch: »Da, mehr gibts nicht, und morgen früh käme der Herr Direktor, läßt die gnädige Frau sagen. Na, da wird's eine schöne Aussprache geben.«

Nach dieser freundlichen Rede blieb die Köchin noch eine Weile stehen. Sie erwartete ein lautes Klagegeschrei, doch da Ellen stumm blieb und in den Garten hinabsah, als ginge sie das Gerede nichts an, nahm sie nur brummend Licht und Streichhölzer fort, drehte die elektrische Birne aus und bemerkte dazu: »Die gnädige Frau sagt, Licht brauchten Sie nicht.«

Die unwirsche Person schlurrte hinaus, quietschend drehte sich der Schlüssel im Schloß, Ellen war wieder allein.

Allein, lichtlos, und morgen früh kam des Vormunds gefürchteter Stellvertreter! Ellen kauerte am Fenster und starrte hinaus. Der Tag verglomm sacht. Es wurde dunkler und dunkler. Ellen hörte allerlei Laute von unten heraufdringen; einmal unterschied sie der Tante schrille Stimme, dann gellte ganz spät ein lauter Klingelton durch das Haus, Stimmenwechsel erhob sich und – Ellen preßte plötzlich beide Hände in heißer Angst zusammen, sie hörte eine Stimme aufklingen, vor der sie sich namenlos fürchtete – Direktor Schilling sprach. Es gab dann ein heftiges Hinundherlaufen unten, die Treppe knarrte, Schritte ertönten, jemand lief hinaus und lief hinab, und Ellen kauerte am Fenster, sie maß die Höhe mit ihren Blicken, konnte im Dämmerlicht gerade noch die hellen Kieswege erkennen und dachte, ich springe hinunter, ja sicher, ich tue es.

Da raschelte es draußen, leise, ganz leise, die Kammertür tat sich auf, und Marie flüsterte in das Dunkel herein:

»Kommen Sie schnell, jetzt helfe ich Ihnen hinaus.«

Ellen stand auf. Ihre Knie zitterten. Sie zog sich nur rasch ihren dunklen Regenmantel über, nahm die kleine Tasche, die sie vorher gerüstet hatte, und schlich zur Türe. Marie war lautlos in das Zimmer hereingeglitten. Sie schnappte den Riegel nach dem Flur zu, dann nahm sie ein Taschentuch, das Ellen auf ihrem Stuhl hatte liegen lassen, und warf es in den Garten. So, nun mögen sie denken, was sie wollen, sprach sie und zog Ellen an der Hand vorsichtig durch die Kammer. Von dem Fenster aus gab es einen schmalen Dachrinnenweg in Maries Kammer, den sollte Ellen Leander gehen. »Es ist nicht schwer,« tuschelte Marie. »Die Tasche geben Sie her, die trage ich, ich bin den Weg heute ja schon gegangen. Fürchten Sie sich?«

Ellen schüttelte den Kopf. Sie war ganz mutig, sah auch, daß es nur ein paar Schritte waren, festhalten konnte sie sich auch, und so trat sie freilich herzklopfend den Weg zur Flucht an. Sie trat aus einem Mansardenfenster hinaus, kroch in das andere hinein, dann griff sie nach der Tasche, die Marie ihr reichte, das Mädchen folgte, und in ein paar Augenblicken standen beide in Maries Kammer. »Nun ziehen Sie Ihre Schuhe aus und gehen mit die Hintertreppe runter,« tuschelte Marie. »Denn sonst geht es nicht mehr. Wenn der Hund erst draußen ist, wird es zu spät – und der Herr Direktor ist schon gekommen, man weiß nicht, was dem noch einfällt.«

Ellen Leander wollte Maries Anordnung befolgen, sie zitterte aber so, daß sie sich auf einen Stuhl setzen mußte, sie schluchzte auf, und Marie zündete rasch ihr Licht an und beleuchtete mitleidig das blasse Mädchen. »Wie Sie aussehen,« flüsterte sie, »ach, lieber Himmel, Sie werden noch krank.« Dann aber packte sie die Angst, und sie flehte leise: »Kommen Sie, sonst wird es zu spät. Jetzt hat die Köchin Besuch, sie legen sich die Karten und drinnen trinken sie Tee. Aber wenn ich gerufen werde, muß ich rein, kommen Sie schnell.«

Da raffte sich Ellen auf. Sie schlüpfte aus den Schuhen und folgte herzklopfend Marie die Treppe hinab. Die schloß die Hintertüre auf, und im gleichen Augenblick schrillte die Klingel durch das Haus. »Ursel wartet an der Gartentüre,« flüsterte Marie noch. Sie schob Ellen hinaus, schloß flink die Türe und rief mit lauter Stimme mißmutig in das Haus hinein: »Ich komme ja schon.«

Ellen Leander hörte das noch. Sie stand einen Augenblick wie gebannt auf der Schwelle und starrte die dunkle Straße entlang. Bis es ihr jäh zum Bewußtsein kam, vor ihr lag der Weg zur Freiheit.

Sie atmete tief auf und glitt dann scheu und eilig am Hause entlang, meinte plötzlich jemand rufen zu hören, rannte nun und erreichte nach wenigen Minuten die grüne Gartengasse. Die war völlig dunkel, und schon nach den ersten Schritten stolperte Ellen, sie merkte es, so schnell kam sie hier nicht vorwärts, aber hier war sie jetzt auch den Spürblicken der Tante Caroline verborgen. Sie ruhte ein Weilchen, dann tastete sie sich vorsichtig an der Mauer entlang, strauchelte ein paarmal und erschrak heftig, als plötzlich ein Lichtlein vor ihr aufblitzte. Doch der Schreck wurde rasch zur Freude, denn vor ihr stand Ursel, hielt ihr ein elektrisches Taschenlämpchen unter die Nase, und rief glückselig: »Sie ist es wirklich.«

Ellen nickte. Sie wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus und sank leise aufweinend, völlig erschöpft von der Qual der langen Stunden zu Boden. Das Lämpchen verlöschte, und Ursel Andernach kniete neben der Base und umschlang sie mit beiden Armen. Sie kauerten sich zusammen im nachtstillen dunklen Gartengäßchen, weinten und waren doch froh, bis Ursel auf einmal wie aus tiefem Schlaf heraus sagte: »Das Teewasser kocht noch immer.«

Da lösten sich Ellens Tränen in ein Lachen auf. Jetzt erst fühlte sie sich geborgen, sie tastete nach des Bäschens Hand und flüsterte: »Wie gut, daß du da bist, daß du mir hilfst.«

Das Lämpchen blitzte wieder auf, und in seinem Schein suchten die beiden Mädels Ellens Sachen zusammen und liefen nun sehr rasch die paar Schritte bis zum Gartentürchen. Das schnappte auf, schnappte zu, über ihnen beiden rauschten die großen alten Bäume, unter denen sie dicht aneinandergeschmiegt dem Hause zugingen. Ursel erzählte dabei, ihr Vater wäre zurück, er wüßte schon alles.

»Was hat er gesagt?« fragte Ellen beklommen.

»Er hat gelacht.« Ursel lachte auch. »Vater ist wie Tante Regine,« sagte sie froh, »der versteht auch das Ausreißen, denn weißt du, den Vetter Schilling kann er auch nicht sehr leiden.«

Da fiel einer der vielen Steine, die Ellen Leanders Herz beschwerten, herab, und sie ging viel zuversichtlicher an Ursels Seite durch den stillen dunklen Garten nach dem hellen Hause hin. Zu dem führten ein paar Stufen hinauf, innen gab es einen weiten altmodischen Hausflur, und dann tat Ursel eine Türe auf und rief mit heller Stimme hinein: »Da ist sie!«

»Hat lange genug gedauert,« antwortete jemand. Ein hochgewachsener Herr richtete sich auf, und Ellen Leander sah verwirrt in ein Gesicht, das beinahe dem ihres Vaters glich. Nur gesünder sah der Forstrat Andernach aus, braun gebrannt. Man sah es ihm an, daß er in Wind und Wetter draußen war. »Na, Mädel,« sagte er heiter, »warum starrst du mich denn so entgeistert an, ich will dich nicht aufessen, nicht einsperren.«

»Vater!« stammelte Ellen. Und plötzlich wachte alles in ihr auf, was sie schon erlitten hatte in ihrem jungen Leben. Die Sehnsucht nach dem geliebten Vater überwältigte sie, und sie kniete weinend auf dem Boden nieder. Wie ein Strom flossen ihre Tränen. Eine feste Hand hob sie auf, und der bisher ganz unbekannte Onkel nahm sie gütig in seine Arme. »Du armes Kind,« sagte er nur, dann setzte er sie behutsam wie ein Glasfigürchen in einen Sessel, strich ihr das Haar ein wenig glatt und begann ihr von ihrem Vater zu erzählen. Als junge Burschen wären sie einmal vier Wochen auf dem Lande zusammen gewesen, dann nie wieder. Aber die Erinnerung an diese Tage war hell in dem Forstrat, er sagte: »Unser Ärger war nur, daß sie uns dort immer für Zwillingsbrüder hielten. Keiner wollte dem anderen gleichen und für den anderen gehalten sein. Aber gut leiden mochten wir uns. Und einmal haben wir auch unsere Ähnlichkeit zu einem Spaß benutzt.

Da war ein alter Bauer, der einen prachtvollen Kräuterschnaps zu brauen verstand. Wer hinkam, bekam davon ein Glas, mehr nicht. Dein Vater mochte das Zeug nicht, aber ich, und weil der Alte das Nichttrinken bitter übelnahm, sagte dein Vater, als wir einmal dort wieder eine Bestellung machen sollten: ›Geh allein ins Haus‹. Ich ging, bekam mein Schnäpslein, trank und hätte gern noch eins gehabt, aber das gab es nicht. Mit deinem Vater ging ich dann in ein Nachbardorf, es regnete, und als wir wieder zurückkamen, sagte ich: ›Du, mir lüstet's nach einem Kräuterschnäpslein, ich hol' mir jetzt deins.‹ Nahm flink deines Vaters Hut, zog seine Joppe an, und während er in einer Scheune wartete, ging ich ins Haus und richtig, der Alte hielt mich für deinen Vater und gab mir das Schnäpslein. Ein paar Tage später sind wir zusammen hingegangen und haben ihm den Spaß erzählt, darüber hat er so herzhaft gelacht, daß er mir dann auch an dem Tag deines Vaters Schnäpslein gegeben hat.«

Über dem heiteren Erzählen waren Ellens Tränen versiegt, sie lächelte dankbar zu dem Onkel auf. Der mahnte: »Geht schlafen, Mädels, und du, Urschel-Purschel, schwatz mir nicht wie eine Dachrinne bei Regenwetter. Ellen hat heute den Schlaf nötig. Morgen wird in aller Herrgottsfrühe der Bruder Friedrich angestiegen kommen. Der war nicht daheim, er hat einen Spaziergang gemacht. Ich habe ihm ein Wort geschrieben, damit er weiß, wo er seine Schwester zu finden hat.«

An diesem Abend tat sich Ursel Andernach wirklich Zwang an. Sie befolgte des Vaters Rat, schwätzte nicht wie eine regengefüllte Dachrinne, aber sie umsorgte Ellen liebevoll. Freilich warf sie dabei den Wasserkrug um und polterte arg im Zimmer herum, aber Ellen empfand doch des Bäschens Güte sehr dankbar. Sie sank müde ins Bett mit dem Gedanken: ich werde nicht schlafen können, und schlief dann aber doch bald ein. Draußen rauschten die Bäume des Höhenweges und sangen ihr ein schönes feierliches Schlummerlied, das verscheuchte Sorge und Kummer, lockte heitere Träume herbei, und als Ursel am Morgen zum Wecken kam, sah sie die Base noch im Schlafe lächeln.


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