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Philosophie und Religion

Wer keine Ungerechtigkeit vertragen kann, gelangt selten zu Ansehen in der Gegenwart, und wer es kann, verliert den Charakter für die Zukunft.

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Ob die Menschen Vernunft haben, ist mir entsetzlich problematisch; ich habe wenigstens in ihren politischen, philosophischen und öffentlichen moralischen Vorkehrungen sehr wenig davon wahrgenommen. Am meisten Vernunftähnliches findet man noch im Häuslichen.

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Wer den ersten Gedanken der Gerechtigkeit hatte, war ein göttlicher Mensch: aber noch göttlicher wird der sein, der ihn wirklich ausführt.

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Die meisten Menschen haben überhaupt gar keine Meinung, viel weniger die eigene, viel weniger eine geprüfte, viel weniger vernünftige Grundsätze.

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Es ist schade, daß man keinen Prophetenglauben mehr hat, sonst könnte Rousseau der Begründer eines sehr schönen Systems werden. Wenn er nur nicht zu viel geschrieben hätte! Seine Schwärmerei geht doch zuweilen mit seiner Vernunft durch. Der »Contrat social« und Voltaires kleines Gedicht »La loi naturelle« sind vielleicht das Größte, was die französische oder irgendeine andere Literatur hervorgebracht hat.

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Wer sich beständig ausschlußweise mit den Büchern beschäftigt, ist für das praktische Leben schon halb verloren. Der weise Salomon hat viel Narrheit und Plato viel Unsinn. Die beste Philosophie ist der geläuterte Menschenverstand; das beste Mittel dazu, die Welt sehen, die Geschichte lesen und selbst denken, in gleichen Verhältnissen. Werden die Verhältnisse nicht beobachtet, so kommt das Resultat unkosmisch.

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Meine Seele ist ein Tummelplatz vieler Leidenschaften gewesen. Mit Hilfe des Stolzes hat immer die Vernunft gesiegt, vielleicht zuweilen auch nur mit Hilfe des Zufalls. Nur Haß und Verachtung sind nie in meine Seele gekommen; daher bin ich geneigt zu glauben, daß diese beiden Gefühle unphilosophisch seien.

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Nur der Bürgersinn kann über Ehre bestimmen. Nun ist dieses Geistes überall sehr wenig; also ist nur sehr wenig wahrhaft gewürdigte Ehre.

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Treibet die Furcht aus! Dann ist Hoffnung, daß der gute Geist einziehen werde.

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Alle saueren Moralisten hielten ihr Zeitalter für das Schändlichste, und sie haben alle recht: denn die gegenwärtige Schande ist immer die größte.

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Die Vergebung der Sünden ist der Vernunft ein Widerspruch: aber unser ganzes Leben ist doch fast weiter nichts als eine fortgesetzte praktische Vergebung der Sünden. Wir können unmöglich ohne sie sein. Wenn man sie nur ordentlich menschlich nähme und nicht den Himmel darein mischte!

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Ich kann nicht leugnen, ich habe zuweilen Furcht gehabt: aber die Furcht hat mich nie gehindert, auch mit Gefahr meines Lebens etwas zu tun, was ich mit Gründen wollte. Und dieses errungene Gefühl der bewußten gesammelten Stärke wird endlich zur größern Festigkeit als die natürliche Furchtlosigkeit.

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Die Theokratie des Moses wäre allerdings eine schöne Erfindung, wenn immer ein gerechter, weiser Mann an der Spitze stände; sie gibt aber der Gaunerei zuviel Handhabe.

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Trotz meiner kalten Besinnung, mit der ich neulich in meiner Septuaginta die Bücher Moses durchlas, konnte ich mich eines warmen ehrfurchtsvollen Schauers nicht erwehren, als der Mann am Ende starb. Trotz aller Verirrung und Unheilbarkeit seines Systems bleibt er ein großer Geist für sein Volk und für den Menschenforscher.

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Wo die Menschen mit ihrer eigenen unbefangenen Vernunft sprechen, urteilen sie meistens ohne Tadel; wo sie aber unter einer Leidenschaft liegen oder an einer fremden Form ziehen, kommt selten etwas Gutes zum Vorschein.

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Wenn ich von jemand höre, er sei sehr fromm, so nehme ich mich sogleich sehr vor seiner Gottlosigkeit in acht.

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Wo Geheimnisse sind, fürchte ich Gaunerei. Die Wahrheit kann und darf vor Männern das Licht nicht scheuen. Es gibt keine Wahrheit, die man vor Vernünftigen verbergen müßte. Einweihung ist Entweihung des Menschensinnes. Der Staat hat also großes Recht, keine geheimen Gesellschaften dulden zu wollen, so wie er großes Unrecht hat, die helle Untersuchung der wichtigen Punkte des Gesellschaftsrechts zu untersagen.

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Aus Gefälligkeit werden weit mehr Schurken als aus schlechten Grundsätzen.

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Die beste Verwahrung gegen Leidenschaft aller Art ist nahe und gründliche Bekanntschaft mit dem Gegenstand.

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Unbedingter Gehorsam ist kein Gedanke unter vernünftigen Wesen. Wo mich jemand nach seiner Willkür brauchen kann, bin ich ihm keinen Gehorsam schuldig, das geht aus der moralischen Natur der Menschen hervor.

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Wenn wir nicht von vorne anfangen, dürfen wir nicht hoffen weiterzukommen.

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Wer den Tod fürchtet, hat das Leben verloren.

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Daß ein Narr zehn andere macht, ist freilich schlimm genug; aber weit schlimmer ist es noch, daß auch ein Schurke zehn andere macht. Nur die Vernunft macht wenig Proselyten.

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Wenn ich die kleinen, feinen, zierlichen Menschengestalten unserer Zeit, und vorzüglich meines Vaterlandes, ansehe, kommt mir die ganze Erscheinung recht drollig vor. Die ganzen Geschöpfe haben nicht viel über vier Fuß und sind doch durchaus fertig, so daß nichts mehr von ihnen zu erwarten ist. Da habe ich denn in meinen Gedanken auf den Spaziergängen oft einen Traktat über die Verniedlichung des Menschengeschlechts.

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Die Schurken gehören an den Galgen, die Tollen nach Bedlam, die Narren läßt man laufen: und die Vernünftigen – sind schon zufrieden, wenn man sie läßt, wie sie sind.

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Das Schild der Humanität ist die beste, sicherste Decke der niederträchtigsten, öffentlichen Gaunerei.

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Wer nichts fürchtet, kann leicht ein Bösewicht werden; aber wer zuviel fürchtet, wird sicher ein Sklave.

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Innere Furchtsamkeit führt zur Sklaverei; äußere Besorgnis hält die Freiheit.

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Kein Mann ist so groß als sein Name, weder im Guten, noch im Schlimmen.

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Wenn man menschlich fühlte und dachte, fand man das Wort Sklave zu hart; man sagte Leibeigener, dann Erbmann, dann Fröner, dann Bauer: von der Sache selbst suchte man immer so viel als möglich zu behalten.

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Wenn die Menschen endlich vernünftig sein werden, wird die Erde vielleicht am Marasmus senilis sterben.

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Für Vernunft und Freiheit und Gerechtigkeit ist jetzt bei unsern Zeitgenossen nichts zu tun; wir brüten zu sehr in lethargischer Indolenz. Jede Kraftäußerung ist weggeworfen und die Perlen sind noch vor die Säue geschüttet. Das einzige Ersprießliche ist Denken für die Zukunft, der es vielleicht gelingt, glücklicher von dem Todesschlaf aufzustehen.

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Das Zwielicht ist der Raum des Dichters und der Kunst überhaupt. «Wo die Vernunft an die Sinnlichkeit und die Sinnlichkeit an die Vernunft grenzt, ist der Mensch in seinem schönsten Spiele. Vernunft ohne Sinnlichkeit scheint nicht mehr menschlich zu sein, und Sinnlichkeit ohne Vernunft ist es gewiß nicht. Stimmung für die Kunst und Genuß in derselben ist also der Stempel der Humanität. Die Sinnlichkeit mag darin herrschen; aber die Vernunft hat ihr die Herrschaft übertragen, und sie herrsche so, daß ihre Kommittentin die Vollmacht nicht zurücknimmt!

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Wo die Sinnlichkeit an die Vernunft grenzt, ist sie gewiß immer schön.

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Gott ist allerdings das letzte, höchste, vollkommenste Urideal; aber wir haben von ihm nicht mehr, als er uns von sich in der Sinnenwelt gegeben hat. Alles ist also einigermaßen Anthropomorphismus. Der Gott des Phidias ist göttlicher, weil er menschlicher ist. Zu dem Gotte des Plato erhebt sich kaum der Gedanke mit seiner größten Anstrengung und begreift am Ende von ihm fast nur die postulierte Notwendigkeit. Gott ist a priori das Prototyp alles Guten in der Natur; aber das Güte in der Natur ist a posteriori wieder für uns das Prototyp des Göttlichen. Jeder macht allerdings seine Welt und seinen Gott und einigermaßen sich selbst: aber wer wollte eine so scholastische Sprache unter den Menschen reden, da sie kaum von den Jüngern der Mystik verstanden wird?

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Die moralischen Wahrheiten sind das Einzige, was wir mit Sicherheit in uns tragen. Denn sobald man unsere Ansicht der faktischen Dinge merkt, trägt man Sorge, daß wir ihre wahre Beschaffenheit und ihren wahren Zusammenhang nur selten erfahren.

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Ein gewöhnlich großer Mann hat sein Vergnügen, alle rund um sich her mit der Allmacht seiner Kraft niederzudrücken und eine Welt vor sich auf den Knien zu sehen; ein rein großer Geist sucht so viel als möglich, alle mit sich auf gleichen Fuß zu setzen, und fühlt sich dann in seiner größten Würde, wenn alle in dem Gefühl der ihrigen neben ihm stehen. Wer einen Baum aufrichtet und hält, ist stärker, als wer ihn niederschlägt. Wer nur auf Kosten der Vernunft und des Menschenwerts herrschen kann, hat das System der Ohnmacht ergriffen. Wo sich die Kleinen vor den Großen bücken, sind gewiß die Großen vor den Kleinen nie gehörig sicher. Der Mensch gibt seine Würde auf; aber er wird nie der Freund dessen, der sie ihm abnimmt.

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Ob die Weiber soviel Vernunft haben als die Männer, mag ich nicht entscheiden; aber sie haben ganz gewiß nicht soviel Unvernunft.

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Die Hälfte der Armen und überhaupt die Hälfte der Menschen ist immer leidlich, ehrlich und gut; aber die Bosheit ist meistens energischer im Ganzen als im Einzelnen.

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Gewisse sogenannte Verbrechen sind das Heiligste, was die Natur des Menschen aufzuweisen hat, z. B. Ketzerei, Empörung, Selbstmord. Was die Vernunft und das Göttliche in uns als groß bezeichnet, hat der Despotismus und die Dummheit zu Schande und Tod verurteilt. Die Menschheit hat sich das ewige Licht, dessen sie genießt, durch Unglauben und Forschergeist errungen. Die Gerechtigkeit wird nur durch kühnen Widerstand gegen die Selbstsüchtler festgesetzt. Wo ich, in der Würde meiner Natur, ohne Beeinträchtigung des Heiligsten, nicht mehr leben darf, verlasse ich das Gewühl der Verworfenheit, der Sklaverei und Tyrannei.

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Der Ruhm ist gewöhnlich das Grab der Ehre, und die Ehre selten der Weg zum Ruhm. Aber wer den Ruhm und die Macht in Beschlag nimmt, stempelt die Ehre nach Gutdünken und macht Goldmünze aus Glockenspeise.

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Bis jetzt ist zur Erziehung des Menschengeschlechts nichts getan. Die Franzosen fingen an, hörten aber bald auf.

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Ehre entsteht aus philosophischer Würdigung reinen Verdienstes; Ruhm ist der Widerhall der Stimme der Menge. Ehre hat Aristides und vielleicht Miltiades; Ruhm haben Cäsar und Alexander der Mazedonier. Wo nicht Vernunft, Gerechtigkeit und Freiheit ist, kann zwar großer Ruhm sein; aber von Ehre ist nicht die Rede.

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Wenn man sich einmal über die Vernunft, echte Freiheit und Liberalität weggesetzt hat, kann man mit Klugheit und Kühnheit einen weiten Weg machen.

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Ich teile die Menschen ein in Narren, Schurken und Vernünftige. Sechs Zehntel sind Narren und eins vernünftige Leute. Die Einteilung ist sehr liberal, wenn man allemal den zehnten Mann die Probe halten läßt. Die Narren flattern von dem Vernunftschimmer zur Schurkerei und wieder hin und wieder her. Die meisten sind die Instrumente der Bosheit.

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Es ist oft nichts unphilosophischer als die Philosophen und nichts dümmer als die Gelehrten. Daß man sich dumm lernt und närrisch philosophiert, sind ziemlich gewöhnliche Erscheinungen.

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»Die Sache ist oft dagewesen, ist eine alte Weisheit!« schreit man, wenn man etwas nicht hören will. Freilich! Aber hat sie schon gewirkt? Ist sie befolgt? Die Wahrheiten müssen laut alle Tage wiederholt werden, bis ihre allgemeine Befolgung die Wiederholung überflüssig macht.

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Des Glaubens Sonde ist der Zweifel.

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Mit dem Degen kann man wohl zuweilen beweisen, daß man Mut hat, aber nie, daß man Ehre besitzt; oft geht daraus das Gegenteil hervor. Ehre und Recht werden nur durch Vernunft dokumentiert, nie durch Waffen. Ehre kann man mit den Waffen behaupten, aber nie erwerben: dadurch erwirbt man nur Ruhm – oft das Gegenteil von Ehre.

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Sobald ich das Wort Gnade höre, fahre ich sogleich zurück; denn da hat die Vernunft ein Ende, und es hat nur unter Verbrechern und Dummköpfen Sinn.

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Man wird zum Gotteslästerer und Vernunftleugner beim Blick auf die Welt: und doch ist dieser Gedanke an Gott und Vernunft das einzige Heilige und Große, was wir haben. Der Rest ist Schlamm und Sumpfluft. Wo sich der ehrliche Mann zu fürchten anfängt, hört meistens der Schurke zu fürchten auf, und umgekehrt.

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Das Wort Herr, von Menschen zu Menschen, ist Begriff. Man ist nur Herr, wo man unbedingt zwingen kann, und dieses liegt gar nicht in der menschlichen Natur.

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Wer von der Gleichheit des Rechts etwas fürchtet, steht unter den Pleonekten und gehört schon mit zu den Krebsgeschwüren der Gesellschaft.

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Mißtrauen kommt nie zu früh, aber oft zu spät.

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Die Gelehrten haben meistens die abgeschliffenste Gleichgültigkeit gegen Recht und Unrecht und vermieten ihr bißchen erbärmliche Dialektik für den schmutzigsten Gewinn an den Meistbietenden; aber die Staatsverweser und Religionsvorsteher tun auch alles Mögliche, um aus rechtlichen, vernünftigen Leuten Indifferentisten zu machen.

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Es ist weit schwerer, die Wahrheit von seinen Freunden zu sagen als von seinen Feinden, und es gehört vielleicht mehr reiner Mut dazu, den Fehler eines Freundes freimütig zu rügen, als dem Dolch eines Feindes entgegenzugehen.

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Der Vorzug des Dichters ist das schöne, warme, heiße, glühende Gefühl für Schönheit und Recht und Tugend und Freiheit. Hat er dieses nicht, so gehört er unter die Blendlinge und Hypokriten, und er und sein Name sind ohne Wert. Der Mann mit hohem Enthusiasmus, als Held und Dichter und Märtyrer, kann das Nämliche fühlen; aber dann ist er in dem Momente Dichter. Ein schlechter Dichter ist ein Widerspruch: denn kein Dichter ist schlecht als Dichter, sondern nur, insofern er es nicht ist.

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Man darf nur die meisten Menschen bestimmt nötig haben, um sogleich ihre Bösartigkeit zu wecken.

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Wenn unser Charakter ausgebildet ist, fängt leider unsre Kraft an zusehends abzunehmen.

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Die meisten Menschen beschäftigen sich damit, zu grübeln, wie es die anderen besser machen sollten, und sehen sehr scheel, wenn man an ihrer eigenen Unfehlbarkeit zweifelt..

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Reißt den Menschen aus seinen Verhältnissen, und was er dann ist, nur das ist er. Zuweilen können die Verhältnisse etwas von seinem Selbst zutage fördern.

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Haß und Neid müssen bessern Seelen fremd sein. Ich habe nie gehaßt und selten geliebt. Etwas Neidähnliches regte sich in mir nur beim Anblick schöner großer Handlungen; also auch nur selten. Das Gefühl war nie schmerzlich niederdrückend; also war es vielleicht mehr Eifer als Neid.

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Vor mehreren Jahren habe ich eine Diatribe über die Nase geschrieben, und es ist noch jetzt eine meiner gewöhnlichen unwillkürlichen Beschäftigungen, die Nasen zu belugen und zu ordnen. Den Familienstoff abgerechnet, bin ich immer noch der Meinung, daß jeder Mensch so ziemlich seine Nase selbst macht. Daher haben die Kinder fast durchaus unbestimmte Nasen. Zu der Nase, als der festen Prominenz, rechne ich zu psychologischem Behufe auch alle angrenzenden Muskelpartien, vorzüglich die Nasenwinkel und Augenwinkel und Mundwinkel, die sich sogar bis zum Kinn herabziehen. Auch die Maler nennen diese ganze Partie, wenn ich nicht irre, die Leidenschaftsmuskeln, und das mit Recht. Aber die Nase scheint vorzugsweise das Aushängeschild des herrschenden Charakters zu sein, wovon jeder ziemlich viel lesen kann, dem die Natur ein ordentliches Rhinoskop gegeben hat. Ich klassifiziere dann mit vieler Gewißheit alle meine Nasen. Da ist die stolze Nase, die vornehme Nase, die impertinente Nase, die tyrannische Nase, die listige Nase, die sklavische Nase, die dumme Nase, die bigotte Nase, die fromme Nase und viele andere Nasen. Zur besseren Bestimmung muß man die oben angeführten Winkel mitnehmen. Ich sehe jedes Gesicht als eine Grenzfestung der Seele an, von welcher die Nase den Kavalier und das Hornwerk macht. Vor andern zeichnen sich noch aus die vorwitzige und die geile Nase. Unschuldige Nasen oder vielmehr Näschen findet man auch; aber ich erinnere mich nie, eine vernünftige Nase gesehen zu haben. Sehr selten sind die rein schönen, ganz charakterlosen Nasen, und wo man sie trifft, gehört viele artistische Beschauung dazu, sie auch reizend zu finden. Die Vernunft scheint mit und auf dem Gesichte wenig zu tun zu haben, wie überhaupt mit dem Menschen. Bei vielen ist es sehr unterhaltend zu untersuchen, wie kommt der Mensch zu der Nase? Die besten Nasen haben im allgemeinen die Frauen, ausgenommen die vielen verdrießlichen und spöttischen Nasen, welche den Trägerinnen nicht weniger als den Beschauern zur Last fallen. Die vernünftigsten Nasen haben noch die Lazzaroni in Neapel. Der geizigen Nase tut man zuviel Ehre, wenn man sie Nase nennt; sie nähert sich an Gestalt und Bewegung dem Rüssel.

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Ich habe bemerkt, daß auf den Gütern der reichsten Leute immer die schlechtesten Häuser, die verfallendsten Mauern und die meisten Bettler sind. Das gibt mir ein Recht, die reichsten Leute für die seelenlosesten Menschen zu halten.

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Vor einigen Stunden sprach ich von einer liquiden Schurkerei nur eine Minute mit solcher Heftigkeit, daß mir das Blut schmerzlich wallend zu Kopfe stieg, und ich hätte mich gewiß um den Kopf selbst gesprochen, wenn es der Moment gewesen wäre. Das gibt mir einiges Zutrauen zu meiner moralischen Natur.

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Die Menschen sind durch die täglichen Erscheinungen um sich her so an Schändlichkeiten gewöhnt, daß sie alle Augenblicke von einer künftigen Infamie mit aller Unbefangenheit wie von einer Sache sprechen, die zu der sogenannten guten Ordnung der Dinge gehöre.

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Die Philosophen mögen streiten über die Natur der Wahrheit. Für das Gute haben wir nur ein einziges haltbares Kriterium: daß es nütze; nicht zuweilen und einzeln, sondern immer und allgemein. Der Probestein des Guten ist Allgemeinheit und Dauer des Nutzens, nicht Vorteils. Der Vorteil zerstört den Nutzen. Diese Allgemeinheit nannten die Alten Eudämonie; Kant nennt sie allgemein Harmonie. Dieser Probestein ist auch zugleich der Bestimmungsgrund. Kalte Vernunft kann Regel, aber nie Bestimmungsgrund werden. Wenn das Gute aufhört zu nützen, hört es auf gut zu sein: seine Natur ist, daß es nütze. Eine Tat kann mir den Tod bringen, aber ihr Beweggrund, allgemein und immer befolgt, würde allgemeinen Segen schaffen; folglich ist die Tat gut. Nicht die einzelne zufällige Erscheinung, die ganze Folge notwendiger Wirkung muß beachtet werden. Kleine Seelen ziehen ins Einzelne und werden selbstsüchtig; große tragen mit Aufopferung ins Ganze und helfen die Harmonie reiner stimmen.

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Dem Himmel darf man Hohn sprechen, der duldet's; denn er ist groß und seiner Allmacht und Weisheit gewiß. Der Menschen Dünkel und äffische Göttlichkeit antasten, bringt Ketten und Tod; denn sie sind klein und fühlen den Ungrund ihrer Anmaßungen. Sie schützen also Torheit mit Laster und Laster mit Verbrechen.

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Selbstüberwindung ist ein falscher Ausdruck, ist Täuschung; was wir in gutem Sinne so nennen, ist Selbstfassung, Selbststärkung. Ebenso ist der Ausdruck Aufopferung. Die genauere Forschung findet keine; ich bekomme immer etwas Besseres für das Geopferte; am meisten erhält der Harmoniephilosoph für seine anscheinenden Aufopferungen. Ganz reine Aufopferung läßt sich nicht denken, oder sie wäre Torheit. Schöne Seelen, deren Wert mehr im Empfinden als Denken besteht, sind sich des Lohns ihrer Güte am wenigsten bewußt und genießen ihn doch noch am reinsten.

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Wo gemeine schwache Menschen in Bewunderung ausbrechen und die Huldigungen anfangen, da gerät der Mann von Sinn und Stärke in Mißtrauen, und wo kurzsichtige Menschen mit Unzufriedenheit zu tadeln beginnen, fängt sehr oft des Weisen bessere Billigung an.

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Wer mit einem guten Gedanken stirbt, ist immer glücklicher, als wer als Sieger über ein Schlachtfeld zieht.

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Den Ruhm soll der Weise verachten, aber nicht die Ehre. Nur selten ist Ehre, wo Ruhm ist, und fast noch seltener Ruhm, wo Ehre ist. Gewisse Dinge glaube ich sogleich, wenn ich sie höre, so sehr haben sie den Stempel der Wahrheit; gewisse Dinge muß ich sehen und hören, um sie zu glauben, und gewisse Dinge glaube ich nicht, wenn ich sie auch sehe und höre.

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Den russischen Johannistag – wann dies nach unserm Kalender ist, magst Du selbst nachsehen, denn ich bin in diesem Punkte nicht sehr taktfest – war ich mit meinem Wirt und alten Freunde, dem Etatsrat Beck, in Pawlowsk, vorzüglich um Storch zu besuchen. Beck führte mich zur Oberhofmeisterin der kaiserlichen Familie, der Gräfin Lieven, deren Sohn, der General, von Polen aus mein alter Freund war, und es hoffentlich noch ist, ob ich ihn gleich sehr lange nicht gesehen habe. Die Dame hat sich durch die Erziehung der liebenswürdigen Töchter des kaiserlichen Hauses billig die beste Meinung im Reiche und im Auslande erworben, und ich fand in ihr so viel schönen, freundlichen, reinen weiblichen Charakter, daß ich fast den Hof vergaß und nur das Ideal einer guten Matrone sah. Die Erscheinungen des Tages waren natürlich, sobald wir allein waren, der Gegenstand des Gesprächs, und die Gräfin klagte, wie es schien mit wahrhaft tiefem Gefühl, über die traurigen Aussichten in die Zukunft von mehreren Seiten und schrieb sie vorzüglich mit dem Verfall der Sittlichkeit und der Vernachlässigung aller Religion zu. Nichts ist mehr heilig, und überall behandelt man die Religion verächtlich. »Gnädige Frau«, antwortete ich, »der Grund dieser Erscheinung liegt aber auch vorzüglich mit darin, daß man den Nationen überall Dinge als das Wesen der Religion aufdringt, die damit nur in sehr entfernter oder in gar keiner Verbindung stehen. Kalte, sich oft widersprechende und vernunftwidrige Dogmatik, leere Formeln und nicht bedeutende Zeremonien werden den Völkern überall als etwas Wesentliches vorgehalten, während man die ersten heiligen Grundsätze der Vernunft, die unwidersprechlich die festeste Base aller Religion ausmachen, nichts achtet. Die Lehre von Gott und Vorsehung und Tugend und Laster, vorzüglich von Recht und Pflicht und Glückseligkeit und Elend, wird nur insofern berührt, als man es seinen Absichten gemäß findet. Was dem Menschen am nächsten liegt und ewig liegen muß, seine Obliegenheiten und seine Befugnisse, darüber läßt man ihn absichtlich in Unwissenheit und hält ihm Dinge vor, von denen er durchaus nichts verstehen kann und die ihm in die Länge nicht ehrwürdig bleiben können, weil sie von der Vernunft nicht genehmigt werden. So machen es alle christliche Parteien, an der Tiber und bei uns und bei Ihnen. Was wirklich rein wahr und echt ehrwürdig ist, kann nie verächtlich werden. Ich habe selbst noch nie von einem Bösewichte gehört, der die Tugend offenbar verachtet hätte.« In diesen oder ähnlichen Worten sprach ich mit Wärme und Teilnahme, vielleicht länger und heftiger, als wohl schicklich gewesen wäre. Die Gräfin schien indessen mit Aufmerksamkeit und sogar mit einiger Rührung zuzuhören.


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