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Warum die Blaumeise einmal im Jahre den Verstand verliert.

Vor langer, langer Zeit, als es noch keinen Winter im Norden gab, lebten die Blaumeisen lustig in den Wäldern mit ihrer ganzen Sippe und dachten an nichts, als sich ihr tägliches Leben im dichten Gebüsch so angenehm wie möglich zu machen. Aber am Ende sandte ihnen allen Mutter Sorge die warnende Botschaft, sie müßten nach dem Süden ziehen, denn arger Schnee und Frost kämen in ihr Gebiet und in ihrem Gefolge Hunger und Elend.

Die Spechtmeisen und andere Verwandte der Blaumeisen nahmen sich die Warnung zu Herzen und suchten Weg und Stunde des Südflugs zu erkunden. Tomtit aber, wie man die Blaumeise nach dem Klange ihres Liedchens nannte, der Führer seiner Brüder, lachte nur und schlug ein Dutzend Räder um einen Zweig, der ihm als Trapez diente.

»Nach dem Süden gehen?« sagte er. »Ich nicht; mir gefällt's hier sehr gut; und was Frost und Schnee betrifft, die hab' ich nie gesehen und glaube nicht daran.«

Aber die Spechtmeisen und die Goldhähnchen waren so geschäftig, daß schließlich auch die Blaumeisen von der Unruhe etwas angesteckt wurden, und oft unterbrachen sie ihr Spiel eine Weile, um ihre Freunde zu befragen. Was sie aber erfuhren, gefiel ihnen nicht, denn es schien, sie sollten alle eine Reise machen, die sollte viele Tage dauern, und die kleinen Goldhähnchen seien gar schon auf dem Wege bis hin zum Meerbusen von Mexiko. Dazu sollten sie, um ihren Feinden, den Habichten, zu entgehen, zur Nachtzeit fliegen, und das Wetter war zu dieser Jahreszeit sicher stürmisch. So sagten die Blaumeisen, das sei alles Unsinn, und flogen allesamt davon mit lustigem Singsang und einander munter durch die Wälder jagend.

Aber ihren Vettern war es ernst. Geschäftig rüsteten sie sich zur Reise und suchten fürs erste das Notwendigste zu erfahren, das sie vom Wege wissen mußten. Der große weite Strom, der südwärts läuft, der Mond da oben und das Trompetengeschrei der Gänse sollten sie führen, und sie sollten auf ihrem Fluge in der Dunkelheit singen, um nicht voneinanderzukommen.

Die schwatzhaften, übermütigen Blaumeisen wurden immer lärmender, je weiter die Vorbereitungen für die Reise gediehen, und machten sich lustig über ihre Verwandten, die sich jetzt in großen Scharen in den Wäldern am Strom sammelten; und schließlich, als die rechte Zeit des Mondwandels gekommen war, erhoben sich die Vettern in einem einzigen Geschwader und flogen davon in dem gleißenden Dunkel. Die Blaumeisen sagten, ihre Vettern seien sämtlich verrückt, machten ein paar schlechte Witze über den Meerbusen von Mexiko, und dann ging's wieder in munterem Jagen hintereinander her durch die Wälder, die übrigens jetzt allmählich immer einsamer zu werden schienen, während auch das Wetter zweifellos merklich kühl wurde.

Am Ende traten Frost und Schnee wirklich ein, und die Blaumeisen befanden sich in einer leidvollen Lage. Ja, sie wußten jetzt vor Schreck nicht aus noch ein, huschten hin und her und suchten vergebens nach einem, der sie über den Weg nach dem Süden belehren könnte. Wild flogen sie in den Wäldern umher, bis sie tatsächlich den Verstand verloren. Ich denke mir, es wird kein Eichhornnest und keinen hohlen Ast in der Nachbarschaft gegeben haben, worein nicht eine Blaumeise gekrochen wäre, um anzufragen, ob das der Meerbusen von Mexiko sei, oder ob man ihr den Weg dahin sagen könne. Aber niemand wußte darüber Bescheid, niemand ging den Weg, und der große Strom verbarg sich unter Eis und Schnee.

Um diese Zeit kam ein Bote von Mutter Sorge vorüber, den sie mit einer Botschaft an die Karibu im fernen Norden abgesandt hatte; aber auch er konnte den Blaumeisen nichts weiter sagen, als daß er nicht ihr Führer sein könne, da er keine Weisung dazu habe, und unter allen Umständen jetzt in anderer Richtung gehen müsse. Auch sei ihnen ja dieselbe Botschaft geworden, wie ihren Vettern, und die hätten sie »verrückt« genannt; und soweit er Mutter Sorge kenne, würden sie es hier wahrscheinlich in all dem Schnee aushalten müssen, nicht nur diesmal, sondern in jedem folgenden Winter; so müßten sie nun zusehen, wie sie sich damit, so gut es eben gehe, abfänden.

Das waren traurige Nachrichten für die Tomtits, aber sie waren tapfere kleine Kerle, und da sie erkannten, es ließe sich nun einmal nichts ändern, so sahen sie auch zu, wie sie sich damit aufs beste abfänden. Ehe eine Woche herum war, zeigten sie sich wieder guter Dinge, turnten um die Zweige oder jagten einander wie zuvor. Immer waren sie noch der sicheren Überzeugung, der Winter werde bald aufhören. So voll waren sie von diesem Gedanken, daß sie sogar bei seinem Anfang, wenn ein frischer Schneesturm kam, fröhlich zueinander bemerkten, es sei ein »Frühlingszeichen«, und einer oder der andere aus der Schar erhob seine Stimme zu dem süßen kurzen, uns allen so wohlbekannten Liedlein:

Lenz kommt

Ein anderer nahm es auf und sang:

Lenz erscheint

Und sie antworteten einander und wiederholten das Lied, bis die trübseligen Wälder von der guten Kunde widerhallten, und die Menschen lernten den tapferen kleinen Vogel liebhaben, der sein schweres Geschick so heiter zu tragen versteht.

Aber bis auf diesen Tag scheinen die Blaumeisen, wenn der eisige Wind durch die vereinsamten Wälder fährt, kurze Zeit ihren Verstand zu verlieren und sich in sinnloser Hast an allen möglichen sonderbaren und gefährlichen Plätzen zu verirren. Man kann sie dann in großen Städten oder mitten in der Prärie, in Kellern, in Schornsteinen und hohlen Stämmen finden, und triffst du wieder einmal einen von den Flüchtlingen an einem solchen Platze, so vergiß nicht, daß Tomtit einmal im Jahre den Verstand verliert und in diesen sonderbaren Schlupfwinkel geriet – auf der Suche nach dem Meerbusen von Mexiko.


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