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Jochen Bär.

I.

Jochen war ein drolliges kleines Bärenjunges, das mit Brumme, seiner Mutter, im Yellowstonepark lebte. Wie viele andere ihresgleichen hatten sie unweit des Quellenhotels in jenem Park ein erwünschtes Heim gefunden.

Der Hotelkoch ließ den gesamten umfangreichen Küchenabfall regelmäßig in einer Lichtung des nahen Waldes niederlegen, so daß die Bären, solange das Hotel geöffnet war, täglich an jener Stelle den Tisch für sich gedeckt fanden. Auch hatte sich seit Geltung des Gesetzes, demgemäß der Park ein Zufluchtshafen sein sollte, wo dem Wild kein Harm geschehen dürfte, ihre Zahl von Jahr zu Jahr vermehrt. Gern haben sie von dem friedlichen Anerbieten des Menschen Gebrauch gemacht, und viele von ihnen sind den Leuten im Hotel so gut bekannt geworden, daß diese ihnen je nach ihrem Aussehen oder ihrer Art und Weise Namen gaben. Spinne war ein auffällig langbeiniger magerer Schwarzer Bär, Gilbert einer, der aussah wie versengt, Fettchen ein sehr dicker fauler Bursche, der nie genug zu fressen kriegen konnte, die Zwillinge zwei halbausgewachsene zottige Exemplare, die immer zusammen kamen und gingen. Am besten bekannt waren aber Brumme und klein Jochen.

Sein ganzes Aussehen ließ auf einen verdorbenen Magen schließen.

Brumme zeichnete sich vor allen anderen ihrer Art durch Größe und Wildheit aus, und Jochen, offenbar ihr Einziger, war ein merkwürdig mißlauniges Junges, denn er hörte eigentlich nie auf, zu murren oder zu winseln. Daraus mußte man schon schließen, daß er krank sei, denn ein gesunder kleiner Bär pflegt so wenig beständig verdrossen zu sein wie ein gesundes Kind. Und in der Tat sah Jochen krank aus; kein anderes Tier im ganzen Park machte einen kläglicheren Eindruck als er. Sein ganzes Aussehen ließ auf einen verdorbenen Magen schließen, und darüber wunderte ich mich auch nicht, als ich das schreckliche Gemengsel sah, das ihm in dem Küchenabfall vorgesetzt wurde. Von allem aber, was er sah, wollte er versuchen, und seine Mutter ließ ihm hierin ganz seinen Willen. Es war daher eigentlich ihre Schuld, denn sie hätte ihm dergleichen nicht erlauben sollen.

Jochen hatte nur drei gesunde Beine, sein Fell sah schäbig und fleckig aus, seine Gliedmaßen waren dünn, seine Ohren und sein Wanst unverhältnismäßig groß. Dennoch war er seiner Mutter ein und alles. Offenbar war sie davon überzeugt, daß er ein Adonis und die Perle aller Bären sei; so verwöhnte sie ihn natürlich sehr. Immer war sie bereit, die Suppe auszuessen, die er eingebrockt hatte, und am Einbrocken ließ er es nie fehlen. Aber obwohl solch ein kleines Jammergebilde, war Jochen keineswegs ein dummes Geschöpf, denn meist wußte er recht gut, was er wollte, und auch, wie er dazu käme, wenn er es nämlich durch Quälen der Mutter erreichen konnte.

Die alte Brumme schritt den Abhang herunter, und Jochen humpelte neben ihr her.

II.

Es war im Sommer 1897, als ich die Bekanntschaft der beiden machte. Ich hielt mich damals im Park auf, um das Familienleben der Tiere zu erforschen, und man hatte mir mitgeteilt, daß ich in den Wäldern beim Quellenhotel zu jeder Zeit Bären sehen könnte, was ich natürlich nicht glauben wollte. Als ich aber fünf Minuten nach meiner Ankunft aus der Hintertür trat, stand ich einer großen Schwarzen Bärin und ihren beiden Jungen gegenüber.

Nicht wenig betroffen blieb ich stehen. Auch die Bären machten halt und setzten sich, mich neugierig anblickend, auf den Boden. Dann stieß Mutter Bär ein sonderbares kurzes Koff Koff aus und deutete nach einem nahen Tannenbaum hin. Die Jungen schienen zu wissen, was sie sagen wollte, denn sie liefen zum Baum und krochen hinauf wie zwei Affen. Als sie oben sicher angekommen waren, machten sie's wie zwei kleine Buben, das heißt, sie hielten sich mit den Vorderfüßen und ließen ihre Hinterbeine in der Luft baumeln; so warteten sie, was da unten vor sich gehen würde.

Mutter Bär kam auf ihren Hinterbeinen langsam auf mich zu, und es wurde mir in der Tat schon etwas schwül zumute, denn sie stand aufrecht in voller Höhe ihrer sechs Fuß vor mir und hatte offenbar nie von der magischen Kraft des menschlichen Auges gehört.

Nicht einmal einen Stock hatte ich zu meiner Verteidigung bei mir, und als sie ein dumpfes Heulen hören ließ, war ich drauf und dran, mich ins Hotel zu flüchten, obwohl man mir vorher versichert hatte, die Bären hätten stets den mit den Menschen abgeschlossenen Waffenstillstand gehalten, Aber da machte gerade die Alte halt, die jetzt nur noch zehn Meter von mir entfernt war, und fuhr fort, mich ruhigen Blickes zu mustern. Eine Minute lang schien sie in Zweifel zu sein, dann aber kam sie allem Anschein nach zu dem Schluß: »Mit dem Menschengeschöpf da hat es vielleicht seine Richtigkeit, aber ich kann's meiner Jungen wegen nicht darauf ankommen lassen.«

Hierauf warf sie ihren beiden Hoffnungsvollen einen Blick hinauf und gab ein eigentümlich winselndes Er–r–r, Er–r von sich, worauf jene wie artige Kinder beim Befehl der Mutter hinabeilten. In ihren Bewegungen zeigte sich nichts Plumpes oder Bärenmäßiges – was man gewöhnlich hierunter versteht; leicht schwangen sie sich von Ast zu Ast, bis sie sich auf den Boden fallen ließen, worauf sich alle drei in den Wald davontrollten. Großen Spaß bereitete mir der stramme Gehorsam der kleinen Bären. Sobald ihnen die Mutter etwas befahl, taten sie es augenblicklich; nicht einmal einen Einwand machten sie. Aber ich fand auch, daß sie guten Grund dazu hatten; denn würden sie nicht getan haben, was ihnen geheißen war, so hätten sie Späne bekommen, daß sie hätten heulen müssen.

Das war ein köstlicher Blick in das Familienleben der Bären und wäre schon für sich allein die Reise wert gewesen. Aber meine Bekannten im Hotel sagten mir, das sei noch nicht die beste Stelle, um Bären zu treffen. Ich sollte zu dem Abfallhaufen auf dem Futterplatze gehen, vierhundert Meter tief im Wald. Dort, meinten sie, könnte ich so viele Bären sehen, als ich nur Lust hätte (was dumm von ihnen war).

In einer Morgenfrühe begab ich mich daher am nächsten Tage zu der Banketthalle der Bären im Tannengehölz und versteckte mich im nahen Gebüsch.

Es dauerte nicht lange, so kam ein großer Schwarzer Bär ruhig aus dem Walde heraus, ging auf den Haufen zu und fing an, in ihm nach Futter zu wühlen. Er war aufgeregt, denn beim geringsten Laut schaute er sich ängstlich um und lief ein paar Meter weg, wenn ihm irgendeine Kleinigkeit auffiel. Schließlich spitzte er die Ohren und galoppierte zwischen die Fichten hinein, als ein zweiter Schwarzer Bär auftauchte. Auch dieser zeigte die gleiche Ängstlichkeit und lief am Ende davon, als ich das Buschwerk, in dem ich stand, etwas bewegte, um besser sehen zu können.

Im Anfang war ich selbst nicht frei von Erregung, denn es darf natürlich niemand Waffen im Park tragen; aber die Ängstlichkeit dieser Bären flößte mir das Gefühl der Sicherheit ein, und von nun an vergaß ich bei dem Reiz, den für mich dieser Blick in das Leben der großen zottigen Geschöpfe hatte, alles andere.

Bald sagte ich mir aber, ich könnte den genauen Einblick, den ich wünschte, von dem Gebüsch aus, das noch siebenundfünfzig Meter vom Müllhaufen entfernt war, nicht gewinnen. In größerer Nähe gab es keinen Busch, so blieb mir eben nichts weiter übrig: ich ging zu dem Haufen selbst, grub mir dort ein Loch, groß genug, um hineinzukriechen und mich zu verstecken, und blieb dort den ganzen Tag mitten zwischen duftenden Haufen von Kohlstrünken, alten Kartoffelschalen, Tomatenbüchsen und fauligem Fleisch. Entgegen der Ansicht zahlloser Fliegen war es kein anziehender Fleck; ja der Geruch war so durchdringend, daß ich abends, als ich ins Hotel zurück wollte, nicht hineingelassen wurde, ehe ich nicht im Walde meine Kleider gewechselt hatte.

Es war eine schwere Feuerprobe, aber Bären habe ich jedenfalls an dem Tage gesehen. Nehme ich an, daß es jedesmal, wenn einer kam, ein neuer Bär war, so mußte ich mehr als vierzig gesehen haben. Aber so war es natürlich nicht, denn die Bären gingen ab und zu. Und doch ist eins gewiß: es waren mindestens dreizehn Stück, denn so viel waren einmal zu gleicher Zeit um mich herum.

Den ganzen Tag lang hatte ich Arbeit für mein Skizzenbuch und mein Journal. Jeder Bär, der kam, wurde regelrecht zu Papier gebracht, und gerade dadurch gewann ich mehr und mehr Einsicht in ihre Art und ihre Persönlichkeit.

Oberflächliche Beschauer meinen und sagen wohl, alle Neger, alle Chinesen und ebenso alle Tiere derselben Art seien einander gleich. Aber so gewiß sich jeder Mensch von allen übrigen unterscheidet, so sicher ist auch jedes Tier von den andern seinesgleichen verschieden; wie würden auch sonst die Alten, Männchen und Weibchen, einander erkennen oder die Jungen ihre Mutter, wie sie es doch sicher tun? Die schmausenden Bären gaben mir auch hierfür einen guten Beweis, denn jeder hatte eine bestimmte Individualität, nicht zwei waren einander in der äußeren Erscheinung oder in ihren geistigen Eigenschaften gleich.

Auch fiel mir folgendes auf: Ich konnte die Spechte in einer Entfernung von mehr als hundert Meter picken, die Schwarzkopfmeise und den Blauhäher ihre bekannten Noten singen, selbst die Eichhörnchen über den laubbedeckten Boden raschelnd huschen hören, und doch hörte ich nicht einen von den Bären herankommen. Ihre mächtigen gepolsterten Pfoten gingen genau am richtigen Fleck auf den Boden, ohne ein Stöckchen zu brechen oder das Laub rascheln zu lassen; so vorzüglich hatten sie die Kunst erlernt, leise durch den Wald zu schreiten.

III.

Den ganzen Morgen hindurch kamen und gingen die Bären oder schritten unweit meines Verstecks vorüber, ohne mich zu entdecken, und von ein paar Zusammenstößen abgesehen, kam nichts Aufregendes für mich vor. Aber so um drei Uhr nachmittags gewann die Sache etwas mehr Leben.

Zu dieser Zeit suchten sich vier große Bären ihr Futter auf dem Haufen. In der Mitte saß Fettchen, seine Hinterbeine beim Fressen in ihrer vollen Länge ausspreizend, das Bild eines befriedigten Bärenepikuräers. Nur schnaufte er manchmal ein wenig, wenn er sich jede anstrengende Bewegung sparen wollte, indem er seine Zunge wie eine lange rote Schlange ausstreckte, weiter und immer weiter den Leckerbissen nach, die seine Klauen nicht mehr bequem erreichen konnten.

Hinter ihm befand sich Spinne, der die Anatomie und das Drum und Dran eines verflossenen Hummers anstaunte. Seine Erfahrung half ihm dabei nichts, aber der Grundsatz »Im Zweifelsfalle muß man's wagen« ist bei den Bären weit verbreitet und behob die Schwierigkeit.

Die anderen beiden leerten mit wunderbarer Geschicklichkeit Fruchtkonservenbüchsen. Während eine weiche Pfote die Büchse festhielt, tauchte die lange Zunge immer wieder durch die enge Öffnung, deren scharfe Ecken sie geschickt zu vermeiden wußte, tief hinein und säuberte das Gefäß aufs gründlichste bis auf den letzten Rest von Süßigkeit.

Diese idyllische Szene dauerte lange genug, um mir eine Skizzierung zu gestatten, aber plötzlich wurde sie abgebrochen. Auf der kleinen Erhöhung, von der alle Bären gekommen waren, erhaschte mein Auge eine Bewegung, und heran kam ein sehr großer Schwarzer mit einem schmächtigen Jungen. Es waren Brumme und Jochen.

Eilig, aber lautlos kam die Alte auf den Vorratshaufen zugeschritten, und Jochen humpelte, immer knurrend, ihr zur Seite, während die Mutter ihn so ängstlich im Auge behielt, wie nur je eine Henne ihr einziges Küchlein. Als sie etwa noch dreißig Meter von dem Haufen entfernt waren, wandte sich Brumme zu ihrem Sohn und sagte etwas zu ihm, das, aus dem Erfolg zu schließen, bedeuten mußte: »Jochen, mein Kind, du bleibst besser hier, während ich hingehe und die Burschen da wegjage.«

Gehorsam blieb Jochen zurück, aber sehen wollte er wenigstens; so setzte er sich mit großen Augen und gespitzten Ohren auf die Hinterbeine.

In würdiger Haltung kam Brumme heran und stieß beim Näherkommen ein warnendes dumpfes Geheul aus. Aber die vier Schmausenden waren zu sehr in ihre Beschäftigung vertieft, um auf den neuen Ankömmling groß zu achten, bis Brumme, die jetzt nur noch fünf Meter entfernt war, in schneller Folge kurze hustende Töne ausstieß und auf die vier Schmauser eindrang. Sonderbarerweise ließen sie es auf keinen Kampf ankommen, sondern stoben, sobald sie sahen, mit wem sie es zu tun hätten, auseinander und gaben Fersengeld.

Spinne konnte sich getrost auf seine langen Gliedmaßen verlassen, und die andern beiden hielten so ziemlich Schritt mit ihm; nur das arme Fettchen kam bei seiner Dickleibigkeit prustend und watschelnd nur langsam vorwärts, und zu seinem Unheil floh es gerade in der Richtung, wo sich Jochen befand. So holte Brumme den Dicken mit wenigen Sätzen ein und versetzte ihm ein paar gesunde Schläge auf seine Hinterseite, die seinen Paß nicht beschleunigen konnten, ihn aber laut aufheulen ließen und zu seinem Glück in eine andere Richtung brachten. Jetzt wandte sich Brumme, die nun alleinige Herrin des Kampfplatzes war, mit wimmerndem Er–r–r, Er–r–r, Er–r–r ihrem Sprößling zu, und Jochen ließ sich nicht zweimal einladen. »Hoppele, hop« kam er auf seinen drei gesunden Beinen, so schnell er nur konnte, herbeigehumpelt, und beide ließen sich's nun so wohl sein auf dem köstlichen Haufen, daß Jochen wirklich aufhörte zu murren. Offenbar war er nicht zum erstenmal hier, denn er wußte mit den verschiedenen Arten von Leckerbissen gut Bescheid, und solange er noch eine Büchse mit Marmelade auftreiben konnte, ließ er alles andere liegen. Manche Konservenbüchsen machten ihm viel Not, weil er zu gierig oder zu ungeschickt war, um sich nicht an den scharfen Kanten zu ritzen. Eine verführerische Fruchtbüchse hatte ein so großes Loch, daß er wirklich seinen Kopf hindurchstecken konnte, und ein paar Minuten genoß er eine ungemischte Freude, da sich auf diese Weise bequem die entferntesten Winkel auslecken ließen. Aber als er seinen Kopf zurückziehen wollte, da fing das Leid an, denn er sah sich gefangen. Er konnte nicht heraus und kratzte und kreischte, wie es ein verwöhntes Kind in ähnlicher Lage getan hätte, und ließ seiner Mutter keine ruhige Minute, obwohl sie nicht wußte, wie sie ihm helfen sollte. Als er schließlich den Zinnhelm wieder herunterstreifen konnte, ließ er seine Bosheit an der Büchse aus und hämmerte mit seinen Pfoten darauf los, bis sie ganz flach war.

Eine große Sirupbüchse machte ihn eine lange Weile glücklich. Sie hatte oben einen kleinen abschraubbaren Deckel gehabt, so daß das Loch rund und glatt war; aber es war nicht groß genug, um seinen Kopf durchzulassen, und mit der Zunge konnte er nicht an die süßen Reste kommen, wenn er sie auch noch so lang ausstreckte. Doch er fiel bald auf einen rettenden Gedanken. Er streckte seinen kleinen schwarzen Arm hinein, drehte ihn herum, zog ihn dann heraus und leckte ihn rein; und während er einen leckte, bereitete er den anderen zum Ablecken vor, und dieses Spiel setzte er so lange fort, bis die Büchse inwendig sauber und blank war wie zur Zeit, als sie in den Handel kam.

Eine zerbrochene Mausefalle schien ihm Rätsel aufzugeben. Er hielt sie zwischen seinen Vorderpfoten fest, um dem Dinge genau auf den Grund zu gehen. Der Käsegeruch daran war entschieden etwas Gutes, aber als die Feder zufällig zuschnappte und die eine Pfote etwas zusammendrückte, konnte er einen Hilferuf nur durch Aufwendung einer ganz ungewöhnlichen Selbstbeherrschung unterdrücken. Nachdem er die Falle einer nachdrücklichen Besichtigung unterworfen hatte, wobei er den Kopf erst auf diese und dann auf jene Seite brachte und seine Lippen zu einer schmalen Röhre zuspitzte, behandelte er sie ärgerlich ebenso »gründlich« wie vorher die aufsässige Büchse und fand nun seinen Lohn in Gestalt eines hübschen Stückchens Käse gerade im Zentrum des nichtsnutzigen Dinges.

Als er mit den Marmelade- und Fruchtvorräten fertig war, wandte er seine Aufmerksamkeit den Hummer- und Sardinenbüchsen zu und scheute nicht einmal vor den Armeekonserven zurück. Sein Wanst schwoll sichtlich an wie ein Ballon, und von dem vielen Ablecken sahen seine Arme so dünn und glänzend aus, als trüge er schwarze Seidenhandschuhe.

Es kam mir der Gedanke, daß meine Lage jetzt tatsächlich nicht ungefährlich sei oder es doch leicht werden könne. Denn es ist ein großer Unterschied, ob man einen Bären überrascht, auf dem keine Verantwortlichkeit für das Wohl von Familiengliedern lastet, oder ob man eine übellaunige alte Bärin in Harnisch bringt, weil man ihr Junges erschreckt hat.

»Sollte zufällig,« sagte ich mir, »dieser milzsüchtige kleine Jochen an dieses Ende des Haufens kommen und mich in dem Loch finden, so wird er sofort ein Geschrei erheben; seine Mutter wird natürlich denken, ich hätte ihm etwas getan, sie wird vielleicht, ohne sich auf Erklärungen einzulassen, die Parkvorschriften vergessen, und die Geschichte kann höchst ungemütlich werden.«

Glücklicherweise befanden sich die Konservenbüchsen sämtlich auf Jochens Seite; von diesen trennte er sich nicht, und Brumme trennte sich nicht von ihm. Auf einmal bemerkte er, daß seine Mutter eine bessere Büchse hätte, als er sie irgend finden könnte, und als er winselnd auf sie zulief, um ihr diese wegzunehmen, blickte er zufällig den Abhang hinauf. Dort sah er etwas, das ihn veranlaßte, sich aufzusetzen und ein sonderbares kurzes Koff Koff Koff Koff hören zu lassen.

Schnell wandte sich seine Mutter nach ihm hin und setzte sich ebenfalls auf, um zu sehen, »was das Kind hätte«. Ich folgte ihrem Blick, und – o Schrecken – ich erkannte einen mächtigen Grislybären. Es war ein Ungeheuer, das sich wie ein mit Pelzen bedeckter Omnibus durch den Wald bewegte.

Jochen verkroch sich hinter seiner Mutter.

Jochen stieß ein Gewinsel aus und verkroch sich hinter seiner Mutter. Sie gab ein dumpfes Geheul von sich, und alle ihre Hinterhaare richteten sich auf. Meine ebenfalls, aber ich verhielt mich so still wie möglich.

Mit stattlichen Schritten kam der Grisly näher. Seine mächtigen Schultern flossen an den Seiten hernieder, und sein silberschimmernder Mantel, der bei jedem Schritt wie die Schabracke auf dem Rücken eines Elefanten hin und her schwang, machte einen überwältigenden Eindruck von Macht.

Jochens Gewinsel wurde jetzt lauter, und er hatte dabei meine volle Sympathie, wenn ich auch nicht mitmachte. Nach einem Augenblick des Zögerns wandte sich Brumme ihrem heulenden Jungen zu und sagte etwas zu ihm, das für meine Ohren klang wie drei kurze gehustete Koff Koff Koff. Aber ich denke mir, sie wollte zu ihm sagen: »Mein Kind, mir scheint, du begibst dich besser auf den Baum dort, während ich gehe und das Untier wegtreibe.«

Jedenfalls handelte Jochen demgemäß und sie machte sich auf, der furchtbaren Erscheinung entgegenzutreten. Aber Jochen war nicht gewillt, sich ein Schauspiel entgehen zu lassen; er wollte sehen, was weiter geschah. So begnügte er sich nicht mit einem versteckten Platze hinter den dichten Tannenzweigen, sondern verband die Rücksicht der Sicherheit mit der der Neugierde, indem er auf den obersten Zweig kroch, der ihn noch trug; dort, scharf vom Himmel sich abzeichnend, pendelte er herum und quietschte laut vor Aufregung. Der Zweig war so dünn, daß er sich unter der Last bog und bei den lebhaften Bewegungen des Kleinen hin und her schwankte; jeden Augenblick wartete ich, das Ästchen würde abbrechen. »Sollte es brechen,« sagte ich mir, »während es nach mir zu schwingt, so fällt Jochen sicher auf mich, was voraussichtlich zu einer Mißstimmung zwischen seiner Mutter und mir führen muß.« Aber der Zweig war zäher, als er aussah, oder Jochen besaß in dieser Beziehung Erfahrung genug, denn weder ließ er sich los, noch brach das Holz.

Inzwischen schritt Brumme vor, um dem Grisly entgegenzutreten. Bald richtete sie sich mit gesträubten Haaren in voller Höhe auf, heulte, fletschte die Zähne und trat ihm in den Weg.

Soweit ich es beobachten konnte, schenkte ihr der Graue keine Beachtung; er schritt auf den Futtertrog zu, als wäre er ganz allein. Als Brumme aber nur noch drei bis vier Meter von ihm entfernt war, stieß sie schnell hintereinander ein abgebrochenes Geheul aus, stürzte sich auf den Grisly und versetzte ihm einen fürchterlichen Schlag aufs Ohr. Er war überrascht, antwortete jedoch durch eine Bewegung mit der Linken, die sie wie einen Strohsack zu Boden warf.

Durchaus nicht eingeschüchtert, sondern mit verdoppelter Wut sprang sie auf und stürzte sich zum zweiten Male auf ihn.

Dann packten sie einander und überkugelten sich, hauend und stoßend, schnaufend und heulend, und unendlichen Staub aufwirbelnd. Aber allen Lärm, den sie machten, übertönte deutlich Jochens Stimme, die sich in den gellendsten Tönen lautmachte und seine Mutter anfeuerte, es mit dem greulichen Grisly gleich ganz auszumachen.

Warum der Graue seinerseits ihr nicht den Garaus machte, konnte ich nicht begreifen. Aber nach einem Ringen von wenigen Minuten, während deren ich nichts sehen konnte als Staub und die unbestimmten Umrisse fliegender Gliedmaßen, lösten die beiden ihre Umarmung wie mit gegenseitigem Einverständnis – vielleicht war die festgesetzte Frist verstrichen –, und eine Zeitlang standen sie da, einander anstarrend und – Brumme zum mindesten – atemlos.

Der Grisly hatte jetzt die Sache sofort ruhen lassen; er hatte keine Lust zum Kämpfen. Es kam ihm auch gar nicht in den Sinn, sich irgendwie um Jochen zu kümmern; nichts als eine ungestörte Mahlzeit lag ihm im Sinn. Doch nein! Sobald der Graue einen Schritt nach dem Haufen zu machte, das heißt nach Brummes Meinung auf Jochen zu, ging sie wieder auf ihn los. Aber diesmal war er für sie bereit. Mit einem Schlage schleuderte er sie beiseite und gegen eine mächtige in die Luft starrende Tannenwurzel. Das brachte sie einigermaßen aus der Fassung. Die Gewalt des Schlages und der ungehobelte Empfang seitens der Wurzelsprossen schienen ihr alle Kampflust zu rauben. Sie rappelte sich auf, kroch auf die andere Seite und wollte sich davonmachen. Aber der Grisly war nun wütend; er wollte sie züchtigen und eilte um die Wurzel herum. Doch Brumme war schneller und gelenkiger als er, und es gelang ihr immer, so oder so die Wurzel zwischen sich und ihren grimmigen Gegner zu bringen, während Jochen, in der Sicherheit seiner Tanne, die Jagd um die Wurzel mit brennendem Eifer verfolgte.

Als der Graubär schließlich sah, er könnte sie so nicht einholen, setzte er sich auf seine Hinterbacken und sann offenbar auf einen neuen Plan. Brumme aber nahm die Gelegenheit wahr, stürzte plötzlich von der Wurzel fort auf den Baum zu, auf dem Jochen sich befand, und kletterte hinauf.

Der Kleine kam ein Stückchen herunter, um bei ihr zu sein, vielleicht auch, um zu verhüten, daß der Ast unter dem doppelten Gewicht breche. Diese interessante Gruppe konnte ich von meinem Versteck aus photographieren, dachte aber, ich müßte, koste es, was es wolle, ein genaueres Bild haben. So verließ ich zum ersten Male im aufregenden Verlaufe dieses Tages mein Versteck, sprang aus der Vertiefung heraus und lief unter den Baum. Das war ein großer Mißgriff, denn hier traten die dicken niederen Äste dazwischen, und ich konnte überhaupt nichts von den Bären oben zu Gesicht bekommen.

Ich befand mich dicht am Stamm und schaute emsig nach einer Gelegenheit aus, meinen Apparat zu gebrauchen, als Brumme sich anschickte, den Baum herunterzukommen, wobei sie die Zähne bleckte und ihr bedrohliches Husten hören ließ. Während ich noch dastand und überlegte, was am besten zu tun sei, hörte ich eine Stimme hinter mir aus der Ferne rufen: »Sie, Herr, passen Sie auf! Die Alte sieht ganz so aus, als würde sie Ihnen an den Kragen gehn.«

Ich drehte mich um und sah den Cowboy vom Hotel auf seinem Pferde. Er war nach dem Vieh ausgewesen und kam zufällig in dem Moment vorüber, als die Entwicklung der Dinge sich überstürzen zu wollen schien.

»Kennen Sie diese Bären?« fragte ich, als er näher ritt.

»Ich denke wohl,« sagte er. »Das Junge da auf der Spitze ist Jochen; er ist nicht recht gescheit. Und die Große ist Brumme, mit der ist's auch nicht ganz richtig. Sie ist schon so unzuverlässig, aber wenn Jochen so heult, wird sie geradezu eklig.«

»Ich möchte gern ihr Bild haben, wenn sie 'runterkommt,« sagte ich.

»Wissen Sie, was ich tun will? Ich will auf dem Pony hier bleiben, und sollte sie Ihnen was am Zeuge flicken wollen, so denk' ich, kann ich sie fortkriegen.«

So hielt er neben mir, als Brumme langsam von Ast zu Ast, heulend und drohend, herabkam. Aber als sie sich dem Erdboden näherte, hielt sie sich auf der abgewendeten Seite des Stammes, rutschte dort hernieder und lief eiligst davon, dem Walde zu, ohne auch nur im geringsten daran zu denken, ihre Drohungen wahrzumachen. So war Jochen wieder allein gelassen. Er kletterte zu seinem alten Standpunkt empor und nahm sein eintöniges Winseln wieder auf: »Wah, Wah, Wah!« (Ach Mutter, ach Mutter, ach Mutter!«)

Ich machte die Kamera zurecht und wollte sein Bild in seiner Lieblingshaltung da oben nehmen, als er auf einmal wieder anfing, seinen Hals zu verdrehen und gellende Töne auszustoßen, wie er es während der Kampfszene vorhin getan hatte.

Als ich der Richtung folgte, nach der seine Nase deutete, sah ich den Grisly gerade auf mich zukommen, zwar nicht wie mit feindlichen Absichten, aber doch in einem Schritte, als wollte er bis zu mir vorschreiten.

»Kennen Sie diesen Bären?« fragte ich meinen jungen Freund.

»Freilich,« versetzte er, »kenn ich ihn. Er ist der größte Bär im Park. Gewöhnlich läßt er andre in Ruhe, aber fürchten tut er sich vor nichts, und heute, wo er sich mit andern gekratzt hat, da könnt' er leicht unangenehm werden.«

»Auch sein Bild möcht' ich gern haben,« sagte ich, »und wenn Sie mir helfen, so will ich gern ein Risiko auf mich nehmen.«

»Gut,« sagte er grinsend. »Ich bleibe auf dem Pferde neben Ihnen, und wenn er Sie angreift, so werde ich ihn auch angreifen; und einmal kann ich ihn zwingen, nicht aber zweimal. Sie werden daher besser tun, sich immer einen Baum auszusuchen.«

Da sich nur ein einziger Baum in der Nähe befand und dies Jochens Baum war, so war die Aussicht nicht eben lockend. In aller Eile malte sich meine Phantasie das Bild aus, wie ich hinaufkroch bis in Jochens Gebiet, und wie dann seine Mutter hinter mir her kletterte, während der Grislybär unten stand, um mich aufzufangen, wenn Brumme mich hinunterwarf.

Der Graue kam auf mich zu, und ich knipste, als er vierzig Meter von mir entfernt war, und dann in einem Abstand von zwanzig Metern noch einmal; aber er kam unbeirrt näher. Ich setzte mich auf den Abfallhaufen und machte mich bereit. Achtzehn Meter – sechzehn Meter – zwölf Meter – acht Meter, und immer rückte er noch näher, während Jochens gellende Proteste dementsprechend noch kreischender wurden. Am Ende blieb er in einer Entfernung von fünf Metern stehen und schwang sein bärtiges Haupt nach einer Seite, um zu sehen, woher der herzzerreißende Lärm im Baumwipfel komme. Dabei bot er mir seine Profilansicht, und ich knipste zum dritten Male. Bei dem leisen Tick wandte er sich mit einem donnernden dumpfen Geheul mir zu, und ich saß still und bebend und dachte, ob wohl mein letzter Augenblick gekommen sei. Eine Sekunde starrte er mich an, und ich konnte in jedem Auge die kleine grüne elektrische Lampe wahrnehmen. Dann wandte er sich langsam beiseite und langte sich – eine Tomatenbüchse.

»Himmel, dachte ich, »will er mir die an den Kopf werfen?« Aber er leckte sie bedächtig aus, warf sie weg und nahm eine andere, ohne sich weiter um mich oder Jochen zu kümmern; offenbar hielt er uns beide seiner ferneren Beachtung für unwürdig.

Langsam und ehrerbietig entfernte ich mich aus dem Bereich seiner majestätischen Person und ließ ihn im ungestörten Besitz des Müllhaufens, während Jochen von seiner sicheren Kabine aus weitergrölte.

Wo Brumme geblieben war, kann ich nicht sagen. Jochen aber, der bald merkte, daß keine sympathische Seele seines Gewinsels achtete, hörte klugerweise damit auf. Da jetzt keine Mutter sich um ihn sorgte, so fing er an, selbst für sich zu sorgen, und bald zeigte er, daß er klüger war, als es den Anschein hatte. Nachdem er mit einem außerordentlich schlauen Ausdruck auf seinem kleinen schwarzen Gesichte einen Augenblick erlauert hatte, wo der Grislybär gerade etwas weiter weg war, rutschte er lautlos hinter dem Stamm zu Boden und rannte trotz seiner Dreibeinigkeit äußerst hurtig zum nächsten Baum und gönnte sich keinen Augenblick zum Atemholen, bis er auf der höchsten Spitze dieses Baumes angekommen war. Er war nämlich völlig überzeugt, daß der Grisly kein anderes Ziel verfolge, als ihn umzubringen, und er schien ganz genau zu wissen, daß sein Feind nicht auf Bäume klettern konnte.

Nachdem er sodann den Koloß, der ihm in Wahrheit nicht die geringste Beachtung schenkte, aufs neue lange und gespannt beobachtet hatte, wagte er eine neue Expedition nach dem nächsten Baum und machte dabei noch hin und wieder den Versuch, den Riesen durch eine Finte irrezuführen. So eilte er von Baum zu Baum und kletterte jedesmal bis in den Wipfel, wenn er auch nur drei Meter zum nächsten zu laufen hatte, bis er im Walde verschwunden war. Nach Verlauf von zehn Minuten etwa trug der Wind wieder seine Stimme herbei, und zwar sein gewöhnliches Winseln, ein Beweis, daß er seine Mutter wiedergefunden hatte und sein altes Spiel von neuem begann.

IV.

Bei den Bären ist es Sitte, die Jungen, wenn sie es nötig haben, zu züchtigen, und wenn Brumme ihren Jochen nach dieser Methode aufgezogen hätte, so würde sie sich und ihm viel Plage erspart haben.

Es wird kaum ein Tag in jenem Sommer vergangen sein, ohne daß Brumme um Jochens willen leiden mußte. Aber das Schlimmste war doch das, was sich kurz nach der Geschichte mit dem Grislybär zutrug.

Zuerst erzählten mir drei abgehärtete Bergjäger die Geschichte. Da sie gegen jeden Zweifel an ihrem Wort sehr empfindlich und dabei ganz vorzügliche Revolverschützen waren, so glaubte ich alles, was sie mir mitteilten, aufs Wort; in der Tat wurde mir später alles von den Parkbeamten bestätigt.

Von allen Konservenbüchsen in dem Haufen schienen Jochens Geschmack diejenigen am besten zu entsprechen, die mit einer großen purpurnen Pflaume gezeichnet waren, ein Schluß, zu dem er erst nach den gründlichsten Forschungen gekommen war. Schon der Geruch von diesen Pflaumen versetzte Jochen in Begeisterung. Als nun einmal der Hotelkoch Pflaumenkuchen buk und der Wind die Kunde davon weit fort in den Wald trug, gelangte sie auch in des lüsternen Jochen Nüstern.

Natürlich jammerte Jochen wieder, und da seine Mutter gerade bei seiner Toilette war, so glaubte er doppelte Veranlassung zum Wimmern zu haben. Aber der Duft des Pflaumenkuchens riß ihn fort; er sprang auf, und als ihn seine Mutter halten wollte, schrie er und war sogar so unartig, sie zu beißen. Dafür hätte sie ihm eins geben sollen; sie tat es aber nicht, sondern begnügte sich mit einem mißbilligenden Gebrumm und folgte ihm, damit ihm kein Leid geschehe.

Seine kleine schwarze Nase am Wind, fand Jochen den geradesten Weg zur Küche, gebrauchte jedoch dabei die Vorsicht, von Zeit zu Zeit auf die Spitze einer Tanne zu klettern und Umschau zu halten, während Brumme unten Wache hielt.

So kamen sie bis dicht zur Küche; da aber verließ Jochen der Mut, weiter voranzugehen. Er blieb daher in der Krone des letzten Baumes und drückte seinen Appetit nach Pflaumenkuchen durch ein klägliches Geheul aus.

Wahrscheinlich wußte Brumme sehr genau, wonach ihrem Sohne der Sinn stand. Als sie sich aber trotzdem in den Wald zurückbegeben wollte, protestierte Jochen durch ein so maßloses und herzzereißendes Jammern, daß sie es nicht fertigbrachte, von ihm wegzugehen, und er seinerseits zeigte nicht die geringste Neigung, herunterzukommen und sich fortführen zu lassen.

Übrigens war Brumme selbst keine Verächterin von Pflaumenmarmelade. Natürlich war der Duft jetzt auch sehr stark und demgemäß lockend; so folgte ihm Brumme vorsichtig bis zur Küchentür.

Darin liegt an sich nichts Erstaunliches. Der Grundsatz »leben und leben lassen« gilt im Park so uneingeschränkt, daß sich die Bären oft an der Küchentür einstellen, und haben sie dort ein paar Brocken erhalten, so gehen sie ruhig in den Wald zurück. So ist anzunehmen, daß auch in diesem Falle Jochen und Brumme zu einem Stück Pflaumenkuchen gekommen wären, wäre nicht ein neuer Faktor in Wirksamkeit getreten.

In jener Woche hatte sich der Hotelinhaber eine neue Katze aus dem Osten schicken lassen. Sie war zwar noch ziemlich jung, hatte aber doch schon eine eigene Brut, und gerade, als Brumme zur Küchentür kam, sonnten sich die Katze und ihre Jungen auf der obersten Stufe. Als Mieze einmal ihre schläfrigen Augen aufmachte, sah sie das mächtige zottige Ungeheuer vor sich.

Bis dahin hatte sie noch nie einen Bären gesehen, ja, wußte nicht einmal, was ein Bär war. Was ein Hund war, wußte sie natürlich, und hier sah sie einen größeren und schrecklicheren stutzschwänzigen Hund, als sie nur je einen in ihren Träumen hatte auf sich zukommen sehen. Ihr erster Gedanke war, ihr Leben durch die Flucht zu retten. Aber sogleich fielen ihr die Jungen ein. Die darf sie nicht im Stich lassen und muß mindestens ihren Rückzug decken, so reckte sie sich als tapfere kleine Mutter auf der Schwelle, spreizte ihren Rücken, ihre Krallen, ihren Schwanz und alles, was sich spreizen ließ, und miaute ihm ein nicht mißzuverstehendes Halt zu.

Wenn ihr die Mundart auch neu war, so verstand Brumme die Bedeutung doch vollkommen, denn die Zuschauer behaupten steif und fest, Brumme habe nicht nur halt gemacht, sondern zum Zeichen der Ergebung nach Landessitte sogar die Hände, das heißt die Vorderpfoten, hochgehoben.

Während sie aber so dastand, machte die Katze ihr gegenüber einen so winzigen Eindruck, daß Brumme sich vor sich selber schämte. Sie war vor einem Grislybär nicht zurückgewichen, und nun sollte sie sich von so einem jämmerlichen kleinen spinnenschwänzigen Kerl, nicht größer als ein ordentlicher Bissen, abhalten lassen? Dazu kam, daß Jochens verlangendes Winseln aufs neue ihr Ohr traf und sie anfeuerte.

So ließ sie sich auf die Vorderfüße nieder, um weiterzugehen. Wieder miaute die Katze: Halt! Aber Brumme kehrte sich nicht an das Gebot. Da stärkte das erschreckte Miauen eines Jungen den Mut der Katze, und sie schleuderte dem Angreifer ihr Ultimatum entgegen, und dieses Ultimatum war sie selbst. Achtzehn scharfe Krallen und ein Maul voll scharfer Zähnchen ließ Mieze mit verzweifelter Energie auf der unbehaarten empfindlichen Nase Brummes landen, das heißt, gerade an der Stelle, wo ein Bär es am wenigsten vertragen kann, und dann sprang sie schnell nach hinten, so daß sie außerhalb des Bereichs der Bärenklauen war. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die gesteckte Furie abzuschütteln, wurde es Brumme denn doch zu viel, und sie tat, was wohl die meisten Geschöpfe unter solchen Umständen getan haben würden: sie machte kehrt und nahm Reißaus, bis sie aus dem Gebiet des unheimlichen Feindes in ihren gewohnten und sicheren Wald gelangt war.

Aber Miezes Kampfbegierde war jetzt erregt. Sie begnügte sich nicht damit, den Feind zu vertreiben, sie wollte ihm eine vernichtende Niederlage bereiten, um den Triumph vollständig und endgültig zu machen. Und so schnell Brumme auch laufen mochte, es half alles nichts, die Katze ließ nicht locker und gebrauchte ihre Zähne und Krallen wie ein kleiner Teufel. Brumme wurde nun vor panischem Schrecken wie besessen. Die Spur des sonderbaren Paares bezeichneten Haarbüschel, und auch an Blutvergießen (im fünfzigsten Grade) fehlte es nicht. Den Forderungen der Ehre war nun zwar sicher genug getan, aber Mieze war noch nicht befriedigt. In tollem Kreise bewegte sich der wilde Lauf. Brumme war wie von Sinnen und hätte sich gern auf alle Bedingungen ergeben. Aber Mieze war taub gegen all ihr hustendes Angst- und Wutgeheul, und wer weiß, wie lange die Katze ihren Ritt fortgesetzt hätte, würde nicht Jochen durch sein allerschönstes Gewinsel von der Spitze seines letzten Baumes aus seine Mutter auf einen neuen Gedanken gebracht haben. Sie stürzte auf diesen Baum zu und fing an hinaufzukriechen.

Da hielt es die Katze, die sich jetzt ganz in Feindes Land fühlte und sah, daß dieser jetzt bald Verstärkung erhalten mußte, für geraten, vom Feinde abzulassen. Sie sprang vom Rücken der den Baum hinaufkletternden Brumme auf den Boden und stellte sich hier als Schildwache auf, indem sie mit steil erhobenem Schwanz um den Stamm herumging und dem Bären eine stolze Herausforderung hinaufwarf, er solle nur herunterkommen. Auch die kleinen Kätzchen waren inzwischen herbeigehüpft, setzten sich um den Stamm herum und freuten sich königlich über den Spaß. Und die Bären würden – so versicherten mir die Bergjäger, denen ich diesen Teil meiner Geschichte verdanke – auf dem Baum geblieben sein, bis der Hunger sie umgebracht hätte, wäre nicht der Hotelkoch herausgekommen und hätte die Katzen ins Haus gerufen.

V.

Als ich Jochen zum letztenmal sah, saß er auf einer Baumspitze und jammerte wie gewöhnlich über sein unglückseliges Geschick, während seine Mutter unten unter den Bäumen herumlief und jemand – irgend jemand – suchte, den sie um ihres Jochen willen zur Rechenschaft ziehen könnte – natürlich durfte es kein großer Grislybär und keine Katzenmutter sein.

Es war dies früh im August, und es traten zu dieser Zeit nicht mißzuverstehende Anzeichen hervor, daß Brumme nicht mehr die alte war. Sie galt von jeher bei denen, die sie am besten kannten, als nicht zuverlässig, und selbst ihre Zärtlichkeit gegen Jochen, die bisher so beständig gewesen war, schien jetzt infolge dieser Charaktereigentümlichkeit wankend zu werden. So kamen für Jochen, als der Monat vorrückte, böse Zeiten, und er mußte Ende August manchmal halbe Tage oben im Baum, in Einsamkeit, Jammer und völliger Verlassenheit zubringen.

Der letzte Akt in seiner Lebenstragödie spielte sich ab, als ich schon die Gegend verlassen hatte. Eines Tages in aller Herrgottsfrühe zottelte er hinter seiner Mutter her, als sie sich in der Nähe des Hotels herumtrieb. Eine Irländerin, die eben erst in Dienst getreten war, machte sich schon in der Küche zu schaffen. Wie sie einmal hinausblickte, glaubte sie ein Kalb zu bemerken, das sich aus dem Stalle entfernt hatte, und lief, um es zurückzuscheuchen. Die offene Küchentür erweckte aber in Brumme so entsetzliche Erinnerungen, daß sie in panischem Schrecken davonrannte. Der von ihrer Furcht angesteckte Jochen war nicht imstande, mit ihr Schritt zu halten; er eilte daher dem nächsten Stamm zu, der sich aber, als er schon im Klettern begriffen war, als ein Pfahl erwies, dessen Spitze er bald – nur zu bald erreicht hatte. Dort, nur etwa sieben Fuß über dem Erdboden, ergoß er sein Weh in der gewohnten Weise in die frostige Morgenluft hinaus, während Brumme ungehemmt ihre Flucht allein fortsetzte. Als die Magd näherkam und sah, daß sie ein wildes Tier aufgespürt habe, war sie nicht weniger erschreckt als ihr Opfer. Aber andere Mitglieder des Küchenstabes waren inzwischen herbeigekommen, und als sie den tönereichen Jochen erkannten, beschlossen sie, ihn lebendig zu fangen.

Ring und Kette wurden herbeigebracht, und nach einem kurzen Kampfe, der verschiedenen vom Küchenpersonal böse Kratzer eintrug, war dem armen Jochen der Ring um den Hals gelegt und die Kette am Pfahl festgemacht.

Als er sich gefangen fühlte, gebärdete sich Jochen wie toll und konnte vor Wut keinen Ton hervorbringen. Er biß, kratzte und riß, bis er vor Müdigkeit nicht mehr konnte. Dann erhob er seine Stimme zu ihren höchsten Tönen, um seine Mutter zu Hilfe zu rufen. Sie ließ sich auch ein paarmal in der Ferne sehen, konnte es aber nicht über sich gewinnen, noch einmal in den Bereich der Katze zu kommen; so wandte sie sich wieder weg und überließ Jochen seinem Schicksal.

Den größten Teil des Tages verbrachte er abwechselnd mit Toben und Schreien. Gegen Abend hatte er sich völlig erschöpft und nahm gern das Fressen an, das ihm Nora, das irische Dienstmädchen, brachte; denn sie fühlte sich getrieben, selbst die Mutterrolle bei Jochen zu übernehmen, nachdem sie seine natürliche Mutter fortgetrieben hatte.

Abends wurde es recht kalt, aber Jochen erfror fast auf der Spitze des Pfahls, ehe er sich dazu verstand, herunterzukommen und von der warmen Lagerstätte Gebrauch zu machen, die man ihm unten auf dem Boden bereitet hatte.

In den folgenden Tagen fand sich Brumme öfters auf dem Futterplatz ein, vergaß aber offenbar bald ihren Sprößling völlig. Dieser wurde von Nora wohl versorgt, die ihm alles brachte, was er zur Leibesnahrung nötig hatte. Sie brachte ihm aber noch mehr; denn eines Tages kratzte er sie, als sie ihn fütterte, und sie prügelte ihn darauf gehörig ab, bis er schrie. Ein paar Stunden lang schmollte er, denn solche Behandlung war er gar nicht gewöhnt. Aber der Hunger machte ihn kirre, und hinfort bewies er seinem neuen Vormund die gebührende Achtung. Nora ihrerseits fühlte sich zu dem kleinen, elenden, mutterlosen Geschöpf immer mehr hingezogen, und nach zwei Wochen schon fing Jochen an, viel artiger zu werden. Er machte viel weniger Lärm. Wenn er hungrig war, so wimmerte er immer noch leise: Er–r–r, Er–r–r, Er–r–r, aber er heulte nur noch selten, und seine Tobsuchtsanfälle hatten ganz aufgehört.

In der dritten Septemberwoche war der Umschwung noch merklicher. Von seiner Mutter ganz im Stich gelassen, fühlte er sich nun völlig zu Nora hingezogen, die ihn genährt hatte und unter deren Leitung er anfing, ein ganz manierlicher kleiner Bär zu sein. Hin und wieder ließ sie ihn jetzt eine Weile frei, und er benutzte diese Freiheit nicht, um in den Wald davonzulaufen, sondern um ihr in die Küche zu folgen und ihr dort immer auf den Hinterbeinen nachzugehen. Hier machte er auch die Bekanntschaft jener schrecklichen Katze; aber da Jochen jetzt eine mächtige Freundin hatte, so söhnte sich Mieze endlich mit dem schwarzen zottigen Eindringling aus.

Da das Hotel im Oktober geschlossen werden sollte, so war die Rede davon, Jochen freizulassen oder ihn in den Zoologischen Garten in Washington zu geben; aber Nora hatte Ansprüche, auf die sie nicht verzichten wollte.

Als die letzten Septembertage Nachtfrost brachten, war Jochen viel artiger geworden, er hatte sich aber auch einen bösen Husten geholt. Eine gründliche Untersuchung seiner Lahmheit hatte schon vorher ergeben, daß die Schwäche nicht im Fuß, sondern in der Hüfte lag, was auf eine schwache und zärtliche Konstitution deutete.

Er wurde nicht fett, wie es bei den Bären im Herbst die Regel ist, im Gegenteil, seine Magerkeit nahm noch zu. Sein kleiner runder Wanst sank ein, sein Husten wurde immer schlimmer, und eines Morgens fand man ihn sehr krank und fiebernd auf seinem Lager neben dem Pfahl. Nora brachte ihn ins Haus, wo ihm die Wärme sehr wohl tat, und von nun an blieb er immer in der Küche.

Ein paar Tage lang schien es besser zu gehen, und seine frühere Neugierde und Lust am Zuschauen erwachte von neuem. Das lodernde Herdfeuer hatte es ihm besonders angetan und ließ ihn sich in seiner alten Lieblingsstellung aufsetzen, wenn die Öffnung der Herdtür das Wunder zu Gesicht brachte. Nach einer Woche hatte aber auch das keinen Reiz mehr für ihn, und er wurde von Tag zu Tag gleichgültiger. Schließlich konnten auch die aufregendsten Geräusche und Szenen um ihn her ihn nicht mehr aufmuntern.

Sein Husten wurde stärker, und er fühlte sich offenbar sehr elend, außer wenn ihn Nora auf dem Schoß hatte. Hier rollte er sich behaglich zusammen und winselte dann zum Erbarmen, wenn sie ihn wieder in seinen Korb weglegen mußte.

Wenige Tage vor Schluß des Hotels wies er sein gewohntes Frühstück zurück und wimmerte leise, bis ihn Nora auf den Schoß nahm; dann schmiegte er sich leicht an sie, und sein weiches Er – r – r, Er – r – r wurde schwächer, bis es ganz aufhörte. Als sie ihn eine halbe Stunde später weglegte, um an ihre Arbeit zu gehen, da hatte klein Jochen auf immer die letzte Spur von Neugierde und Schaulust verloren.


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