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Ein Straßen-Troubadour.

Die Abenteuer eines Sperlingsmännchens

I.

Was für eine zirpende, zwitschernde, sich überstürzende, flatternde Masse! Ein halbes Dutzend gemeiner europäischer Sperlinge drängt sich über- und durcheinander und schwirrt schimpfend eins um das andere herum in einem Rinnstein der vornehmsten Straße von Neuyork. Inmitten dieses Getümmels sieht man, wenn der Knäuel sich ein wenig entwirrt, die Ursache all dieses Wesens – ein kleines Sperlingsweibchen, das sich kräftig gegen das lärmende Gedränge seiner Freier verteidigt. Wie es schien, machten sie ihr in der Tat den Hof, aber in einer so barbarischen Weise, daß man ebensogut hätte glauben können, sie wollten ein mißliebiges Mitglied ihrer Gemeinschaft lynchen. Ganz unverschämt bedrängten, plagten und quälten sie die entrüstete kleine Dame, wenn sie ihr auch offenbar kein ernstliches Leid zufügten. Sie aber schlug energisch um sich. Hätte sie nicht notgedrungen ihre Plagegeister schonen müssen, würde sie sie anscheinend alle am liebsten umgebracht haben.

Es war kein Zweifel, daß sie ihr den Hof machten und um ihre Liebe warben, aber es war ebenso zweifellos, daß sie von keinem von ihnen etwas wissen wollte, und nachdem sie die Zudringlichen hiervon mit Hilfe ihres Schnabels einigermaßen überzeugt hatte, machte sie sich eine zufällige Bresche in dem sie umtobenden Kreise zunutze und flog davon auf die nächste Dachrinne. Dabei ließ sie in einem der ausgebreiteten Flügel ein paar weiße Federn sehen, durch die man sie von anderen ihrer Art leicht unterscheiden konnte und die vielleicht ihren Hauptreiz bildeten.

II.

Im Stolze seiner schwarzen Krawatte und seiner weißen Halskragenflecken mühte sich ein Sperlingsmännchen schwer, in einem Vogelhäuschen, das ein paar Kinder auf einem Pfahl im Garten für seinesgleichen errichtet hatten, ein Nest zu bauen. Es war in mehr als einer Hinsicht ein sonderbarer Vogel. Das Baumaterial, das er aussuchte, bestand ganz aus ziemlich weit hergeholten Zweiglein und Hölzchen, und frühmorgens unterbrach er manchmal seine Arbeit auf eine Minute und sang dabei so laut und süß, als wäre er ein Kanarienvogel.

Daß ein Sperlingshähnchen allein sein Nest baut, ist etwas Ungewöhnliches. Aber dies war auch, wie gesagt, ein ungewöhnlicher Vogel. Nach einer Woche hatte er anscheinend sein Werk vollbracht, denn der Nistkasten war bis zum Türchen mit Zweiglein, die dem Baumeister von den Bäumen der städtischen Promenaden geliefert worden waren, vollgepfropft. Jetzt blieb ihm mehr Muße zur Pflege des Gesanges übrig, und er setzte die Leute in der Nähe durch das häufige Anstimmen seines langen, ganz unsperlingsmäßigen Liedes in Erstaunen; wer weiß, vielleicht hätte die Geschichte von ihm als einem unerklärlichen Wunder berichtet, wenn nicht ein unweit wohnender Barbier und Vogelliebhaber die fehlenden Kapitel seiner ersten Lebensgeschichte nachgetragen hätte.

Der Mann hatte, wie es scheint, ein Sperlingsei in die Niststätte seiner Kanarienvögel gelegt. Das Kleine war anstandslos ausgekrochen und von seinen Pflegeeltern aufgezogen worden. Ihre Spezialität war der Gesang, ihm war die Lunge und die Kraft des Sperlingsgeschlechtes eigen. Die Kanarienvögel hatten ihn sorglich nach ihrer Weise aufgezogen, und die Folge war, daß er ein Schläger wurde, der durch seine Energie ersetzte, was ihm an angeborenem Talent fehlte. Sowohl stark und kriegerisch wie auch musikalisch, hatte sich dieser Held des Schwertes und der Leier bald zum Herrn des Vogelkäfigs gemacht. Konnte er einen Kanarienvogel nicht durch musikalische Überlegenheit niederringen, so trug er kein Bedenken, auf ihn loszuhämmern, bis er still war, und jedesmal, wenn er so auf seine Weise im Sängerkrieg den Sieg davongetragen hatte, schmetterte er ungewöhnlich schön seine Melodien in die Welt hinaus. Dies benutzte der Barbier, indem er einen ausgestopften Kanarienvogel bereithielt, an dem der stürmische Musiker seinem kriegerischen Eifer ohne Schaden genug tun konnte, wenn sein Herr einen Besucher durch Stürmchens jubelnde Triumphgesänge erfreuen wollte. Alle Kanarienvögel, die mit ihm zusammen im Käfig waren, nötigte er zu stummer Ergebung, und als er endlich allein in einem Verschlage gehalten wurde, erregte nichts seinen Zorn mehr, als wenn sich ein gefiederter Sänger in seiner Nähe befand, den er nicht zum Schweigen bringen und an den er nicht heran konnte. Bei solchen Gelegenheiten vergaß er seine Musik, und es bekundete sich seine eigentliche Sperlingsnatur in dem schrillen Tschilp, Tschilp, dem echten, offenbar dem Lärm der Straße angepaßten und dort geborenen Sperlingston.

Stürmchen zog die Grenze vor Federbetten.

Als sein schwarzes Lätzchen sich entwickelt hatte, war er das Sehenswerteste und die Hauptattraktion des Barbierladens geworden. Aber eines Tages lockerte sich das Brett, auf dem die Vogelkäfige standen, und rutschte herunter, alle Käfige stürzten auf den Boden, und in dem allgemeinen Durcheinander flogen viele Vögel davon. Unter ihnen war auch Stürmchen oder Bertrand de Born, wie man ihn nach dem berühmten französischen Troubadour genannt hatte. Während aber die Kanarienvögel freiwillig in ihre Käfige zurückgekehrt waren oder sich hatten fangen lassen, hüpfte Stürmchen aus einem Hinterfenster, tschilpte ein paarmal, antwortete mit einem Trutzlied auf die Hochbahnpfeife, und indem er sich vorsichtig immer eben außer Fangweite hielt, fing er an, die Backsteinwildnis, die ihn umgab, zu durchforschen. Er stammte ja nicht von Generationen eines gezähmten Geschlechts ab und fand sich darum leicht und freudig in die neuen Verhältnisse eines freien Lebens; nach einer Woche war er fast ebenso wild wie nur einer von seiner Sippe und zu einem kleinen Straßenräuber entartet. Wie die andern trieb er sich mit seinesgleichen im Straßenrinnstein herum und gab ihnen auch im Raufen und Zanken nichts nach; hin und wieder aber überraschte er alle zufällig Vorüberkommenden durch seinen gelegentlich angestimmten und mit Sperlingsenergie ausgeführten Kanariengesang.

III.

Stürmchen war es also, der den Nistkasten sich ausgesucht hatte, und nun ist auch klar, warum er sich mit Holzstäbchen nicht genugtun konnte. Das einzige Nest, das er je kennen gelernt hatte, war ein Korbgeflecht gewesen, ein richtiges Nest bestand also für ihn aus Hölzchen.

Nach wenigen Tagen kam Stürmchen mit einer Genossin wieder. Ich würde vielleicht die oben geschilderte Raufszene im Straßenrinnstein vergessen haben, hätte ich nicht in Stürmchens Braut das kleine weißbeschwingte Sperlingsgretchen erkannt, das jene Szene unfreiwillig veranlaßt hatte.

Offenbar war sie nicht abgeneigt, Stürmchens Werbung anzunehmen, aber sie zierte sich noch etwas und pickte nach ihm, wenn er nahekam. Er drehte sich mit hängenden Flügeln und gehobenem Schwanz um sie herum und tschilpte dabei, wie es nur ein feuriges Sperlingsmännchen tun kann, unterbrach aber hin und wieder seine Straßentöne, um mit seinen Kanarienfähigkeiten zu prunken.

Die Einwände, die sie etwa noch erhoben hatte, waren offenbar überwunden worden, vielleicht durch diese erstaunliche Entfaltung seiner Talente; er geleitete sie nun zu dem fertiggestellten Nest, lief vor ihr hinein, um ihr den Weg zu zeigen, und hüpfte stolz, lärmend und im Bewußtsein seiner Würde um sie herum. Sie folgte ihm, kam aber schnell wieder heraus mit Stürmchen hinter sich drein, der tschilpte und sie beschwor. Doch mußte er lange schwatzen, ehe er sie überreden konnte, noch einmal hineinzugehen; aber wieder kam sie sofort heraus, diesmal mit Schimpfen und Schelten. Noch einmal schien er seine Überredungskunst anzuwenden, und schließlich begab sie sich mit lautem Protest hinein, erschien wieder mit einem Zweig in ihrem Schnabel, ließ ihn fallen und flog davon. Stürmchen kam heraus. Seine ganze Freude und sein Stolz auf sein Haus waren dahin. Es war ein Stoß ins Herz, während er doch auf unbeschränkten Beifall gerechnet hatte. Trostlos saß er ein Weilchen auf der Türschwelle und tschilpte in einer Weise, die wahrscheinlich sagen wollte: »Komm zurück, komm zurück!« Über die kleine Braut kam nicht. Da wandte er sich wieder ins Nest; man hörte ein kratzendes Geräusch, und er kam sogleich mit einem starken Holzstückchen zurück und warf es vom Nistloch auf den Erdboden. Dann holte er ein zweites Stück, warf es hinter dem ersten her und fuhr so fort, alle Stöckchen, die er so fleißig und fürsorglich eingetragen hatte, herauszuschleppen und hinabzuschleudern; auch das wunderbar gegabelte Stück, dessen Erwerb ihm so viel Mühe gemacht hatte, und die beiden glatten, die ganz wie die im Neste seiner Pflegemutter aussahen, alles, alles mußte fort. So mühte er sich über eine Stunde lang, stumm und einsam. Da war er offenbar fertig, denn unten auf dem Boden lag ein ganzer Haufen Reiser, der aussah, als wollten Straßenjungen ein Freudenfeuer anzünden: die vernichtete Arbeit von sieben fleißigen Tagen. Stürmchen warf einen wilden Blick darauf und auf den leeren Nistkasten, ließ ein kurzes rauhes Tschilp hören, wahrscheinlich einen Sperlingsfluch, und flog davon.

Am nächsten Tage war er wieder mit Weißchen da, hofierte als vollendeter Sperlingsritter um sie und führte sie mit unaufhörlichem Getschilp zur Nesttür. Sie hüpfte hinein, dann heraus, schaute mit schräg gehaltenem Köpfchen auf die Zweiglein unten, ging wieder hinein und erschien mit einem winzigen Holz im Schnabel, das er übersehen hatte, ließ es fallen und beobachtete mit augenscheinlicher Genugtuung, wie es auf dem Haufen unten anlangte. Nachdem sie ein dutzendmal hinein und heraus gehüpft waren, flogen sie zusammen davon, und jetzt kehrten sie wieder. Weißchen mit einem Schnabel voll Heu und Stürmchen mit einem einzigen Strohhalm. Dies wurde hineingetragen und glücklich untergebracht. Dann flogen sie nach mehr Heu aus, und nachdem Weißchen sich überzeugt hatte, daß Stürmchen nun Bescheid wußte, blieb sie im Nistkasten, um das Heu, das er heranschleppte, richtig unterzubringen, und nur hin und wieder, wenn er zu lange ausblieb, flog auch sie auf Raub aus. Es war geradezu wunderbar, wie die ritterliche Gesinnung gegen seine Genossin den rauflustigen Sänger kirre gemacht hatte.

Weißchen trieb den Raufbold fort.

Da die Gelegenheit günstig schien, um den Geschmack des jungen Sperlingspaares zu erproben, so hing ich dreißig kurze Schnüre und Bänder nebeneinander auf einem nahen Balkon auf. Es waren fünfzehn gewöhnliche, acht bunte Strippen und sieben helle Seidenbänder. Jedes zweite Stück war eine farblose Schnur. Zuerst bemerkte Weißchen diese Materialquelle. Sie flog hinunter, blickte darüber hin und darum, erst mit linkem, dann mit rechtem Auge und entschloß sich hierauf, die Dinger in Ruhe zu lassen. Aber Stürmchen kam näher, da ihm Faden nichts Fremdes waren. Er hüpfte hierhin und dorthin, zog an einem Faden, fuhr zurück, kam jedoch dann noch näher, knipperte an einem oder zweien, stürzte sich hierauf mit einem Ruck auf eine Schnur los und trug sie weg. Das nächstemal kam Weißchen mit, und jedes trug eine Schnur fort. Sie nahmen aber nur die ungefärbten. Erst als diese weg waren, suchte sich Weißchen farbige aus, wenn sie sich auch immer noch nicht an die buntesten Bänder wagte, und Stürmchen rührte Beinchen und Schnabel ausschließlich um der einfachsten und am meisten den Hölzchen gleichsehenden Stücke willen.

Jetzt war das Nest halb fertig. Noch einmal wagte Stürmchen ein Stück Holz einzutragen, aber einen Augenblick später wirbelte es hinunter auf den Haufen unten, während Weißchens triumphierende Blicke folgten. Armes Stürmchen! Alles, was er für das beste hielt, galt für nichts – all die schönen Hölzer umsonst geholt. Seine Mutter hatte ein Holznest gehabt – es war ein schönes Nest –, aber er war überstimmt. Nichts als Stroh sollte es jetzt sein, und darauf keine Hölzer, sondern weichere Stoffe. Er fügte sich – die Freiheit hatte ihn alle Tage neu gelehrt, daß man sich fügen müsse. Früher dachte er immer, der Barbierladen sei die ganze Welt und er das erste Wesen darin, aber diese beiden Vorstellungen hatten in neuerer Zeit einen argen Stoß erlitten. Weißchen meinte, seine Erziehung in praktischen Dingen sei schrecklich mangelhaft gewesen und sie müsse dies in allem und jedem nachholen.

Als das Nest zu zwei Dritteln vollendet war, fing Weißchen, die sehr zum Luxus neigte, an, große weiche Federn einzutragen. Aber das ging Stürmchen denn doch zu weit; einmal mußte man doch eine Grenze ziehen, und er zog sie vor Federbetten, denn seine Wiege hatte dergleichen üppiges Zeug nicht gekannt. Er machte sich daran, die anstößigen Federbetten hinauszubefördern, und Weißchen kam, mit einer neuen Ladung im Schnabel, gerade zur rechten Zeit, um zu sehen, wie der weiche Flaum von der Nestschwelle dem Reiserhaufen unten zuschwebte. Sie flatterte hinterdrein, fing die Federn in der Luft auf, und als sie damit zum Nistbrett zurückkehrte, trat ihr ihr Eheherr entgegen, der eben mit einer weiteren Ladung der ärgerlichen Federn aus der Tür kam, und so standen beide da, einander mit trotzigen Blicken musternd und trotz der Federn im Munde aufs lauteste ankrätschend, die kleinen Herzen von Bitterkeit erfüllt.

Warum pflegt unsere Sympathie bei einer Frage der häuslichen Einrichtung dem weiblichen Teil zu gehören? Auch ich war der Meinung, das Recht sei mehr auf Weißchens Seite, und schließlich setzte sie auch ihren Willen durch. Zuerst freilich gab es stürmische Augenblicke, wobei Federn ein und aus getragen wurden oder auch, eine Beute des Windes, im Garten umherschwebten. Dann trat Stille ein, und am nächsten Tage wurden alle Federn zum Nest zurückgetragen. Wie eigentlich die Versöhnung und Einigung zustandekam, ist niemals genau bekannt geworden, aber soviel steht fest, daß Stürmchen selbst am meisten dabei tat und nicht ruhte, bis das ganze Nisthäuschen mit den größten und weichsten Federn vollgepfropft war.

Während dieser ganzen Zeit waren sie gewöhnlich beieinander, aber eines Tages flog Weißchen fort und blieb länger aus. Stürmchen sah sich um, tschilpte, erhielt keine Antwort, schaute aufwärts, dann hinunter und sah auf den Haufen Hölzer, die er so mühsam zusammengeschleppt hatte. Die hübschen Hölzer, ganz wie im trauten Heim seiner ersten Kindheit! Stürmchen flatterte hinab. Richtig, da war auch noch das seltene gegabelte Stück. Die Versuchung war zu groß. Stürmchen nahm es auf und flog schleunigst zum Nest hinauf, und nun hinein damit! Es war keine Kleinigkeit, die Gabel durch das enge Loch zu bringen, der eine Zinken sperrte sich am Türpfosten, aber Stürmchen hatte ja nun schon Erfahrung darin und brachte alles glücklich wieder hinein. Nach einem Aufenthalt von dreißig Sekunden – um die kostbare Gabel richtig zu lagern, denke ich mir – kam er wieder heraus, guckte sich mit emporgerecktem Schnabel um, putzte sich die Federn, schüttelte sich, ließ dann sein Kanarien-Siegeslied mehrmals von Anfang bis Ende erschallen, versuchte es eiligst mit noch ein paar Hölzchen und fühlte sich offenbar sehr glücklich. Als Weißchen mit mehr Federn kam, war er sehr beflissen, ihr bei deren Unterbringung zu helfen, und dann war das Nest fertig. Zwei Tage danach stieg ich hinauf und sah ein Ei darin liegen. Die Sperlinge sahen mich hinaufsteigen, flatterten mir aber nicht, wie es andere Vögel zu tun pflegen, um den Kopf. Sie flogen vielmehr ein Stück weg und beobachteten mich ängstlich von der sicheren Hut eines Schornsteins aus.

Am dritten Tage war ein großer Aufruhr im Vogelhäuschen, gedämpfte Töne wie von einer Rauferei und unterdrücktem Gezwitscher drangen heraus, und mehrmals wurde ein Schwanz am Eingang sichtbar, als wollte sein Eigentümer sich rückwärts hinausschieben; dann war es, als würde etwas hinausgezerrt. Schließlich kam der Besitzer des Schwanzes so weit heraus, daß man sehen konnte, es war Weißchen, aber offenbar wurde sie wieder zurückgezogen: es war kein Zweifel, da drinnen spielte sich eine heftige Familienszene ab. Ihr Verlauf ließ sich nicht verfolgen, bis Weißchen sich am Ende durch die Tür drängte mit Stürmchens Lieblingsholz hinter sich, das sie verächtlich hinunterschleuderte. Sie hatte es unter den Federn, wo er es versteckt hatte, entdeckt, daher der Aufruhr. Da ich aber nicht begreifen kann, wie sie das Stöckchen hinauszuschleifen vermochte, wenn er Widerstand leistete, so vermute ich stark, daß er in der Tat um des Friedens willen weichgegeben hatte. Bei dem Raufen und allgemeinen Durcheinander wurde das Ei, die erste Veranlassung dazu, unglücklicherweise mit der Gabel hinausbefördert und fiel hinunter, wo seine porzellanenen Scherben auf feuchtem, gelbem Grunde lagen. Doch kümmerten sich die Sperlinge um diese Reste nicht. Als das Ei aus dem Nest verschwand, war es aus ihrer Welt überhaupt verschwunden.

IV.

Hierauf verflossen für das Paar einige Tage ungestörten Friedens. Ein Ei nach dem andern wurde gelegt; nach einer Woche war die Zahl von fünf voll, und Stürmchen und Weißchen schienen in vollkommener Eintracht und Freude zusammenzuleben. Stürmchen sang zum Erstaunen der ganzen Nachbarschaft, und Weißchen trug mehr Federn ein, als gälte es sich auf einen Blizzard vorzubereiten. Aber da plagte es mich, mit dem Paar eine kleine Probe zu machen. Ich paßte einen günstigen Augenblick ab und legte einen Marmel in das Nest. Was sich darauf begeben hat, weiß ich nicht, aber am nächsten Morgen war ich früh draußen auf einer unfern gelegenen Straße. Es war Sonntag. Alles war still, nur etwa ein Dutzend Leute standen im Kreise da und schauten auf etwas im Rinnstein. Wie ich näherkam, hörte ich vereinzeltes Tschilpen, und als ich einen Blick hineinwerfen konnte, sah ich zwei Sperlinge in wildem Kampfe, die hin und wieder tschilpend in tödlichem Ernste aufeinander loshämmerten und lospickten. Ohne sich um die Umstehenden zu kümmern, rauften sie sich eine ganze Weile; als sie dann atemlos eine Pause machten und auf den Schwänzen sitzend nach Luft schnappten, war ich ganz verblüfft, als ich Weißchen und Stürmchen erkannte. Nach einem weiteren Waffengang scheuchte sie einer von den Zuschauern fort, dem die Rauferei am Sonntage anstößig war. Dann flogen sie auf das nächste Dach, wo das Balgen von neuem losging. Am Nachmittage fand ich unter dem Nest nicht nur den eingeschmuggelten Marmel, sondern auch die Überreste von den fünf Eiern, die allesamt hinausgefeuert worden waren, und ich vermute daher, daß die Anwesenheit des auffälligen runden Eies und die offenbar daraus gezogene Folgerung den Ehefrieden so heftig gestört hatte.

Ob es nun Weißchen gelungen war, die Sache zu erklären, oder nicht, kann ich nicht sagen, aber es schien mir, daß das Paar entschlossen war, das Vergangene zu vergessen und von neuem anzufangen. Offenbar war in diesem Vogelkasten weder Glück noch Friede zu finden, so ließen sie ihn samt Federn und allem im Stich; und Weißchen, die entschieden originelle Einfälle hatte, wählte diesmal das Quartier; es war nichts anderes als der obere Teil einer großen elektrischen Straßenlampe. Die ganze Woche arbeiteten sie unermüdlich, und obwohl fast fortwährend ein scharfer Wind ging, brachten sie ihre Aufgabe fertig. Man kann sich schwer denken, wie die Vögel mit dem großen blendenden Licht unter sich nachts schlafen konnten. Jedoch Weißchen war, wie es schien, zufriedengestellt, Stürmchen hatte gelernt, seine eigene Meinung zu unterdrücken, und alles würde gut gegangen sein, wären nicht gerade um diese Zeit die Kohlenspitzen des Lichtes zufällig ausgebrannt gewesen und hätte nicht der Mann, der sie erneuerte, sich veranlaßt gefühlt, den ganzen Weißchen-Stürmchen-Palast ohne Gnade dem nächsten Müllfaß zu überantworten. Ein Rotkehlchen oder eine Schwalbe hätte vielleicht unter diesem zerschmetternden Schicksalsschlage alle Hoffnung aufgegeben, aber die Energie und Hoffnungsfreudigkeit eines Sperlings kennt keine Grenzen. Offenbar fehlte es am Nest, wahrscheinlich war das Material nicht das richtige. Auf alle Fälle schien es besser, diesmal den Bau auf ganz anderer Grundlage zu beginnen. Nachdem sie einige lange Strohhalme von dem Nest abwesender Nachbarn annektiert hatte, legte sie Weißchen in eine hohe Astgabel einer Ulme im Madison-Square-Park. Damit gab sie Stürmchen zu verstehen, dies sei ihr neuer Nistplatz, und Stürmchen, der immer mehr erkannt hatte, er könne sich manche Unannehmlichkeit ersparen, wenn er sich Weißchens Willen fügte, statt auf dem eigenen Kopfe zu beharren, sang nach zwei Tschilps einen Kanarientriller und musterte eifrig die Komposthaufen nach erlesenem Baumaterial; fiel aber sein Blick etwa auf ein feines Hölzchen, so schloß er tapfer die Augen und schaute dann lieber wo anders hin.

V.

Auf der anderen Seite des Madisonplatzes befand sich das Nest eines Paares sehr unbeliebter Sperlinge, insbesondere stand das Männchen in üblem Rufe. Es war ein großer hübscher Kerl mit riesigem schwarzem Latz, aber ein ausgemachter Raufbold. In der Spatzenwelt ist Macht Recht. Veranlassung zu Unfrieden und Streit geben bei ihnen Fragen der Nahrung, der Liebe, der Wohnung und der Niststoffe – ganz ähnlich wie bei den Menschen. Dieser anmaßende kleine Bursche hatte infolge seiner Stärke die von ihm begehrte Braut heimgeführt, er hatte sich den besten Nistplatz ausgewählt und eignete sich das meistgeschätzte Nistmaterial im ganzen Umkreis an. Auch einige Paradiesvogelfedern, die ursprünglich aus dem Neuyorker Zoologischen Garten stammten, waren von einem Nest zum andern gemaust worden, bis sie jetzt dem anspruchsvollen Heim, mit dem Latz und sein Weib eines der marmornen Kapitäle der neuen Bank am Madisonplatze verschönerten, zum Schmucke dienten.

Der Raufbold verfuhr überhaupt in seinem Gebiet, wozu er den ganzen Platz rechnete, nach seiner Willkür, und als er eines Tages Stürmchen singen hörte, flog er sogleich zu ihm hin. Nun war Stürmchen wohl unter den Kanarienvögeln ein gefürchteter Held gewesen, aber Latz gegenüber hatte er nur wenig Aussichten. Er tat sein Möglichstes, zog aber den kürzeren und suchte sein Heil in der Flucht. In seinem Übermut flog der Sieger zu Stürmchens neuem Nest, und nach verächtlicher Musterung fing er an, ein paar Strippen herauszuziehen, die er daheim glaubte gebrauchen zu können. Stürmchen war unterlegen, aber der Anblick dieser Plünderung erregte den Zorn des beherzten Troubadours von neuem, so daß er auf den Eindringling mit frischem Mute losstürzte. Von den Ästen taumelten sie zusammen auf den Boden. Andere Sperlinge schlossen sich an und – schändlich zu sagen – machten mit dem Dicken gemeinsame Sache gegen den, der für sie noch verhältnismäßig ein Fremder war. Es erging Stürmchen ziemlich übel, und die Federn fingen an zu fliegen, als ein Sperlingsweibchen mit weißem Flügel – Tschilp Tschilp, Wallapp Wallapp – auf dem Schauplatze erschien. Oh, wie sie rechts und links Hiebe austeilte! Die anderen Sperlinge, die zum Spaß mitgetan hatten, machten sich jetzt aus dem Staube, denn es war gar kein Spaß mehr dabei; nur Schnabelhiebe gab's, sonst nichts, und nun wandte sich das Blatt gegen Latz. Schnell sank ihm da der Mut, und er floh seinem eigenen Neste zu, während Weißchen wie eine kleine Bulldogge an seinem Schwanze sich festhielt und nicht eher losließ, bis die Feder mit der Wurzel herauskam. Nachher konnte sie diese mit großer Genugtuung der gröberen Grundlage ihres neuen Nestes mit den geretteten Stoffen zusammen einverleiben.

Es scheint unmöglich, daß in der Sperlingswelt ein hochentwickelter Sinn für Gerechtigkeit und gerechte Güterverteilung herrsche, sicher kommen aber Ereignisse unter ihnen vor, die danach aussehen. Nach zwei Tagen bildeten die Paradiesvogelfedern, die so lange die Hauptzierde von Latz' Nest gewesen waren, einen Teil der Ausstattung von Weißchens neuem Quartier, und niemand wagte ihr den Anspruch darauf streitig zu machen.

Es war nun schon spät im Sommer, Federn waren rar, und Weißchen konnte nicht genug zum Polstern ihres Nestes, worin sie so eigen war, auftreiben. Doch fand sie einen Ersatz, der ihrer Neigung zum Neuen und Modernen entsprach. Auf dem Platze befand sich ein Droschkenstand, und in dessen Nähe lagen immer Roßhaare auf dem Boden, die ihr ein gutes und originelles Polster zu sein schienen. Das war ein äußerst glücklicher Gedanke, und mit der entsprechenden Begeisterung machte sich das immer hoffnungsvolle Paar daran, Roßhaare, zwei oder drei auf einmal, einzutragen. Vielleicht hatte der Anblick des Nestes eines Tschippers (des kleinen amerikanischen Sperlings, spizella socialis) in einem der Neuyorker Parke den Anlaß zu diesem Gedanken gegeben. Der Tschipper polstert immer mit Roßhaaren und stellt sich eine bewundernswerte Sprungfedermatratze her, indem er das Haar, soweit es reicht, an der Innenseite des Nestes herumführt. Der Erfolg ist gut, aber die Ausführung muß man eben verstehen; und es wäre für die Sperlinge ein Gewinn gewesen, hätten sie erst gelernt, mit den Haaren richtig umzugehen. Wenn ein Tschipper Roßhaare eintragen will, so nimmt er immer nur eins auf einmal und faßt es vorsichtigerweise an einem Ende, denn das so harmlos aussehende Haar ist nicht ungefährlich. Die Sperlinge aber wußten nicht anders damit zu verfahren, als mit einem Strohhalm.

Weißchen faßte ein Haar etwa in der Mitte, fand es unbequem lang und packte deshalb mehrere Zentimeter weiter noch einmal zu. Meist bildete sich infolgedessen eine Schlinge, die ihren Kopf oder doch ihren Schnabel umfaßte; doch war es eine bequeme Art des Transports. Anfangs lief die Sache auch gut ab, Frau Tschipper freilich würde, wenn sie es gesehen hätte, bei dem Anblick der bedrohlichen Schlinge geschaudert haben.

Es war der letzte Tag der Polsterarbeit. Weißchen hatte Stürmchen irgendwie zu verstehen gegeben, daß sie kein Haar weiter nötig hätten, und stolz und geschäftig legte sie noch die letzte Hand an das vollendete Werk und ordnete ein letztes Haar. Stürmchen saß derweilen auf einer Telephonstange in Sichtweite und wiegte sich mittels einiger geretteter Kanarientriller in die süßesten Träume seiner Erinnerung. Auf einmal traf ein lautes unruhiges Tschilp von Weißchens Schnabel sein Ohr. Er blickte hin und sah, wie sie anscheinend ohne Grund hin und her zappelte und doch außerstande war, weiter als die Länge ihres eigenen Körpers vom Neste wegzukommen. Sie hatte zufällig doch einmal ihren Kopf durch eine von den gefährlichen Haarösen, die sie selbst gebildet hatte, gesteckt und diese unglücklicherweise zugezogen und umgedreht, so daß sie sich in der eigenen Schlinge fing. Je mehr sie zappelte und sich drehte, desto enger wurde die Öse. Stürmchen, der sich mit der temperamentvollen Schwätzerin aufs engste verbunden fühlte, wurde selbst aufgeregt und flatterte zwitschernd um sie herum. Er versuchte sie zu befreien, indem er sie an einem Füßchen zog, machte aber damit die Sache nur schlimmer. Alle Anstrengungen waren umsonst, es bildeten sich nur noch ein paar Knoten in dem Haar. Auch schienen noch weitere Haare aus dem Neste in die Sache verwickelt zu werden, und ineinander verschlungen und verworren, spannten sie die Schlinge immer mehr zu, bis die erstaunten aufwärts gerichteten Kindergesichter aus dem Park statt auf dem geschäftigen, lauten und energischen Weißchen auf einer zerzausten federbesetzten Form ruhten, die still und stumm da oben hing.

Das arme Stürmchen schien ganz gebrochen. Auf seinen Gefahrsignalruf waren die Nachbarsperlinge gekommen und hatten ihre Stimmchen mit dem seinigen vereinigt, waren aber ebenfalls außerstande gewesen, dem Opfer zu helfen. Jetzt wandten sie sich wieder ihren eigenen Wirren und Sorgen zu, nur Stürmchen hüpfte tschilpend herum oder saß still mit hängenden Flügeln da. Es dauerte lange, bis ihm zum Bewußtsein kam, daß sie tot war, und er mühte sich den ganzen Tag, ihr Interesse zu erregen und sie am Alltagsleben teilnehmen zu lassen. Nachts ruhte er einsam auf einem Baume, und beim Morgengrauen machte er sich, hin und wieder singend oder tschilpend, um das Nest herum zu schaffen, von dessen Rand in dem verhängnisvollen Roßhaar noch immer Weißchen starr und stumm herabhing.

VI.

Stürmchen war niemals ein echter, durchtriebener Sperling gewesen. Seine Erziehung als Kanarienvogel hatte ihn tatsächlich verdorben, und er zeigte sich im Straßenverkehr wie Kindern gegenüber waghalsig und achtlos. Jetzt in seinem Kummer steigerte sich diese Eigenheit noch. Als er an jenem Nachmittage auf der Straße nach Futter ausging, kam ein Telegraphenbote auf seinem Rade lautlos heran, und ehe Stürmchen der Gefahr inne wurde, war das Vorderrad auf seinem Schwanz. Während er mit aller Kraft zerrte, um freizukommen, und wäre es auch auf Kosten einiger Federn, geriet sein rechter Flügel blitzschnell unter das Hinterrad, und nun war er ein Krüppel. Der Bote radelte weiter, und Stürmchen flatterte und hüpfte, so gut es gehen wollte, auf die schützenden Bäume des nahen Platzes zu. Ein kleines Mädchen fing den Krüppel nach einer aufregenden Jagd zwischen den Bänken mit Hilfe ihres kleinen Hundes ein. Sie nahm ihn heim, und aus – wie ihre Brüder sagten, übel angebrachtem – zärtlichem Mitleid tat sie ihn in einen Käfig und fütterte ihn. Als er sich erholt hatte, sang er eines Tages zu ihrer Überraschung wie ein Kanarienvogel.

Dies brachte das ganze Haus in Aufruhr. Bald stellte sich auch ein Berichterstatter ein, der davon gehört hatte. Als dann der unvermeidliche Zeitungsartikel darüber erschien, kam er auch dem Barbier, in dessen Stube Stürmchen aus dem Ei gekrochen war, zu Gesicht. Er meldete sich bald, von vielen Zeugen begleitet, beanspruchte seinen Vogel und drang schließlich mit seiner Forderung durch.

So steckt Stürmchen wieder im Käfig, in sicherer Hut und bei gutem Futter, der Mittelpunkt einer kleinen Welt und ganz und gar nicht unglücklich. Eigentlich war er nie ein wirklich freilebender Vogel gewesen. Es war ein Unglück für ihn, daß er freikam, und ebenso, daß Weißchen seine Gefährtin wurde. Ihr kurzes gemeinsames Leben war nur eine ununterbrochene Reihe von Stürmen und Unglücksfällen. Ein Unfall hatte sie dahingerafft und ein zweiter Unfall ihn wieder zum Stubenvogel gemacht. Dieses verhältnismäßig ruhige und ereignislose Leben hat ihn seine musikalischen Gaben noch mehr entwickeln lassen, denn sein Aufenthalt ist so gut wie ein Konservatorium, und seine alten Pflegeeltern sind stets bei der Hand.

Manchmal, wenn man ihn ungestört läßt, vertreibt er sich die Zeit, indem er den Bau eines kunstlosen Nestes aus Holzstückchen unternimmt, aber dabei zeigt er eine schuldbewußte Miene und verläßt den betreffenden Winkel seines Käfigs bei der Annäherung irgendeiner Person. Wenn man ihm ein paar Federn gibt, so verarbeitet er sie zuerst in das Nest, aber am nächsten Morgen liegen sie unfehlbar unten auf dem Boden. Diese hartnäckigen Nestbauversuche brachten Stürmchens Herrn auf die Vermutung, er sehne sich nach einem Weibchen, und man gesellte ihm verschiedene, die geeignet schienen, zu, aber es führte zu keinem guten Ende. Nur schnelles Eingreifen konnte Blutvergießen verhüten und die Braut retten. So gab man die Versuche auf. Offenbar reizt diesen Troubadour keine neue Frauenliebe. Was er anstimmt, sind eher Kriegsgesänge, denn der Barbier hat herausgefunden, daß er, um Stürmchen zum leidenschaftlichen musikalischen Ausdruck anzufeuern, ihm nur etwas zum Zerstören zu geben braucht, am besten nicht einen ausgestopften Kanarienvogel, sondern den Balg eines Sperlingmännchens, und zwar entwickelt Stürmchen den größten Enthusiasmus, wenn der Balg einen besonders auffallend schwarzen Brustlatz zeigt.

Doch das sind alles für ihn nur Nebensachen; seine besten Kräfte widmet er dem Gesang. Und sollte der Leser einmal auf den richtigen Barbierladen stoßen, so kann er sich diesen energischen Einsiedler ansehen, der in seiner Hingabe an die Musik die Sorgen, Freuden und Leiden des Lebens vergißt, einem Mönche gleich, der es mit der Welt versucht, sie aber für seine Person zu rauh gefunden hat und froh zu seiner Zelle zurückgekehrt ist, um den Rest seiner Tage rein seelischen Freuden zu weihen.


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