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Springmaus.

I.

Es war ein grobes schmutziges Bauernhaus, in dem ich wohnte. Schlamm bekleidete die Wände, das Dach und die Mauern selbst waren nichts als gedörrter Schlamm, die weite Flußebene ringsum deckte sandiger Schlamm, und die anderthalb Kilometer entfernten Hügel bestanden aus angehäuftem Schlamm, aus dem Frost und Regen die sonderbarsten Schlammphantasien gebildet hatten; nur bekleidete einzelne Stücke eine Lavaschicht, um die völlige Zerstörung einer unersetzlichen Schlammnadel durch die genannten unermüdlichen plastischen Künstler zu verhüten.

Für den Fremden, der aus den üppigen, fruchtbaren Fluren Manitobas kam, war es keine einladende Landschaft, aber je mehr ich davon sah, desto mehr kam sie mir wie ein Paradies vor. Denn jede Baumwollstaude in dem Gürtel, der den schwankenden Lauf des Flusses durch die Ebene bezeichnete, und jeder verkümmerte und dornige Busch und jedes Strauchdickicht strotzte von Leben. Und jeden Tag und jede Nacht gewann ich neue Freunde oder erfuhr Neues über die Schlammlandbewohner.

Bei Tageslicht, sagt man wohl, sind die Menschen und die Vögel Herren der Erde; darum haben sich die Vierfüßler die Nacht zum Schauplatz gewählt. Um nun auch während der Schlafenszeit ihre Bewegungen zu belauschen, vergaß ich nicht, jeden Abend um die Hütte herum den Staub glatt zu fegen und ebenso die beiden Pfade, von denen der eine zur Quelle und der andere auf einen früher maisbesäten Strich, der noch der Garten hieß, zum Korral, dem Rinderpferch, führte.

Jeden Morgen ging ich dann hinaus mit den Gefühlen eines Rindes, das in die Weihnachtsstube gerufen wird, oder eines Fischers, der sein größtes Netz einzieht; so eifrig verlangte es mich, zu sehen, was es für mich gebe.

Auch verging kein Morgen ohne Botschaft von den Tieren. Fast jede Nacht kamen ein paar Skunke und lasen die Abfälle von unserem Tische auf und durchschnüffelten dabei alle möglichen verbotenen Stellen. Mehrmals stellte sich auch eine wilde Katze ein. Und eines Morgens erzählte mir der untrügliche Staub sehr ausführlich, wie die wilde Katze und der Skunk aneinandergeraten waren. Offenbar hat die wilde Katze sofort gesagt (in der Wildenkatzensprache natürlich): »Ich bitte um Entschuldigung, ich habe Sie für ein Kaninchen gehalten, aber ich will den Fehler nicht noch einmal machen.«

Einmal führten auch die großen breiten Spuren des Wolfs, des Königs der Tiere, ringsum den Pfad vom Korral gerade herauf fast bis zur Tür der Hütte – die Spuren lagen immer dichter beieinander, je näher sie kamen. Dann hatte er halt gemacht und war hierauf genau auf seiner Fährte zurückgegangen, um seinen Geschäften anderswo nachzuschleichen. Kaninchen, Präriehunde und die einheimischen Waldhasen, alle sprachen vor und machten mir Mitteilung von ihrem Besuch durch ein paar Zeichen, die mir, wenn ich am nächsten Morgen erschien, gewissenhaft zugestellt wurden.

Aber stets lag über und zwischen allen anderen Spuren ein eigentümliches, zartes, spitzenartiges Gewebe von Polkapunkten und dazwischengeschlungenen krummen Linien. Jeden Morgen war es da, in der jüngsten Nacht neu hergestellt, wenn auch alles andere fehlte. Aber das Muster war so ausgebreitet und so verworren, daß man unmöglich eine Linie aufnehmen und verfolgen konnte.

Allem Anschein noch bestand es aus den Spuren vieler kleiner Zweifüßer, denen je ein Junges auf dem Fuße folgte. Nun sind der Mensch und die Vögel die einzigen Zweifüßer auf der Erde, aber Vogelspuren waren es offenbar nicht. Um methodisch zu verfahren, stellte ich alle Tatsachen zusammen, die der Staub mitteilte. Zunächst also lag der Beweis vor, daß zahlreiche winzige zweibeinige pelzsohlige Geschöpfe nachts kamen, um im Mondschein zu tanzen.

Sie kamen während der Nacht zusammen, um im Mondschein zu tanzen.

Jedem folgte, während es im Reigen sprang, ein zweites, viel kleineres Wesen derselben Art, gewissermaßen sein Page. Sie kamen aus einer bestimmten Richtung und blieben, ich weiß nicht wo. Auch mußten sie sich wohl unsichtbar machen können, denn wie wären sie sonst den stets wachsamen Präriewölfen entgangen?

Wäre es in England oder Irland gewesen, so hätte jeder Bauer ohne weiteres eine Erklärung dafür geben können – unsichtbare Paare feiner pelzbekleideter Füße, die im Mondschein tanzen – nun, was das sein muß, das weiß doch der Dümmste, natürlich – Feen.

Aber in Neu-Mexiko hatte ich von dergleichen nie gehört. In keinem Werke über dieses Land ist meines Wissens etwas von ihrem Vorkommen erwähnt. Freilich, der Weg nach Arkadien, der in das Feenland führt, war schon lange nicht mehr der meinige. Mich lockte nur der rauhe Pfad der Wissenschaft.

Und so stand ich vor einem Rätsel; aber je rätselhafter die Sache war, desto mehr reizte sie mich natürlich. Indem ich mir nun auf Grund früherer Erfahrungen sagte, daß es sich lohne, den Besuchern, die mich nächtlich mit ihren Autographen beehrten, recht viel Raum zum Schreiben anzubieten, richtete ich mit besonderer Sorgfalt eine recht ausgedehnte fein gefegte Staubfläche her, die von dem salbeidurchdufteten Abendwind noch die letzte Glättung erhielt. So war es mir in der Tat am nächsten Morgen möglich, einem einzelnen Faden in dem Spitzenmuster zu folgen.

Er lief in punktierter Linie den Pfad hinunter auf die sechs alten Maisstümpfe zu, den sogenannten Garten. Dann verließ er den feinen Schreibsand, wandte sich seitwärts und schien an einem unkrautbedeckten Haufen zu enden, in den verschiedene kleine Löcher nicht in senkrechter, sondern in wagerechter Richtung führten.

Ich stellte eine Falle vor diesen Löchern auf, und am nächsten Morgen hatte ich richtig meine »Fee« gefangen. Es war das lieblichste, zarteste rehbraune kleine Geschöpf, das man je im Pelzkleid gesehen hat: große schöne Rehaugen – nein, nicht Rehaugen, denn kein Reh hat je so wundervoll unschuldige Augenbälle von flüssigem Braun gehabt – und Ohren, gleich den feinsten Seemuscheln, in deren Adern man die rosenrote Lebensflut kreisen sieht. Die Hinterfüße waren lang und stark, aber die Vorderfüße – die Hände, meine ich – waren die denkbar winzigsten, rosaweiß und rund und mit Grübchen ganz wie die eines kleinen Kindes, nur weißer und kleiner als die Kleinfingerspitze eines Babys. Kehle und Brust waren schneeweiß. Wie bringt es die Fee nur fertig, sich in einem solchen Schlammlande so fein sauber zu halten? Außen an ihren braunen Samthöschen verlief wie hingehaucht ein kleiner silberweißer Streif, ähnlich dem an der amerikanischen Infanteristenuniform. Der Schweif – die Schleppe, wie ich erst gedacht hatte, die der Page beim Tanze nachtrug, war auffallend lang; er war, um besser zu dem Kniehöschen zu passen, mit zwei langen weißen Streifen geziert und endete in einer Federquaste, die sehr hübsch, aber, dachte ich, etwas übertrieben war, bis ich fand, daß sie verschiedenen wichtigen Zwecken zu dienen hatte.

Die Bewegungen entsprachen dem, was man von vornherein von einem so eleganten Geschöpf erwartete. Es hatte meinen Sinn gerührt, bevor ich etwas Weiteres als seine Spuren gesehen hatte, und jetzt gewann es sofort beim ersten Anblick mein ganzes Herz.

»Du kleine Schöne! Du bist so unsichtbar und geheimnisvoll gewesen, daß ich anfing, zu hoffen, du seiest eine Fee, jetzt sehe ich aber, daß ich schon früher von dir gehört habe. Du bist Perodipus ordi , manchmal Springmaus genannt. Ich bin dir sehr verbunden für die Spitzenmuster, die du entworfen, und für die hübschen Verse, die du für mich geschrieben hast, wenn ich sie auch nicht alle lesen konnte; aber es treibt mich, sie mir von dir deuten zu lassen, und gern möchte ich zu deinen mikroskopischen und schönen Füßen sitzen und lernen.«

II.

Es ist allbekannt, daß die schönsten Blumen aus dem Kot sprießen, so wunderte ich mich nicht, daß der Perodipus sein Lager in einer Erdhöhle hatte. Sonder Zweifel sind die wundervollen Augen und die langen Fühler dazu bestimmt, ihm in den unbeleuchteten Gängen seines unterirdischen Heims dienlich zu sein.

Es mag ruchlos scheinen, aber ich wünschte so lebhaft, ihn besser kennen zu lernen, daß ich beschloß, sein Lager offenzulegen und ihn selbst eine Zeitlang gefangen zu halten, damit er mich als mein Naturgeschichtslehrer unterweise.

Zunächst beförderte ich das plüschbekleidete kleine Stück Leben in einen großen, innen verzinnten und zur Hälfte mit Erde gefüllten Behälter. Dann ging ich daran, mit einem Spaten die Geheimnisse der Heinzelmännchenwelt, der mein Gefangener angehörte, vorsichtig zu enthüllen und auszukundschaften.

Vorher machte ich aber nach bestimmtem Maßstab eine Zeichnung der in Frage kommenden Örtlichkeit; denn Wissenschaft ist die Kunst des Messens, und haarscharfes Wissen war mein Ziel, seit ich mein Leben der Naturforschung widmete. Dann skizzierte ich die Pflanzen auf dem Erdhügel. Es waren drei große stachlige Disteln und zwei kräftige Yukkapflanzen mit ihren starren dornigen Blättern, sogenannte »Spanische Bajonette«, beides für den unachtsamen Eindringling gefährliche Pflanzen. Ferner bemerkte ich, daß neun Eingänge da waren. Neun – ja, warum neun? Neun Musen? Neun Leben? Nein, nichts der Art. Es waren einfach neun, weil hier zufällig neun direkte Zugänge zu der Zitadelle der Springmaus existierten. Ein anderes Lager mochte drei, noch ein anderes dreiundzwanzig Löcher haben, je nach den Bedürfnissen des Besitzers oder infolge der Örtlichkeit.

Über jedem von den neun Löchern stand eine starke, dornbewehrte und ganz unbestechliche Schildwache beständig auf Posten. So konnte bei etwaigem Erscheinen des Präriewolfes, des Würgers für das kleine Prärievolk, unter den Mondscheintänzern jeder Perodipus heimwärts stürzen und durch eine naheliegende Tür verschwinden, in der beruhigenden Überzeugung, daß an jener Tür ein furchtloser, wohlbewährter Wardein stände, der zu dem Präriewolf in einer diesem sehr verständlichen Sprache sagte: »Halt, wahr dich, oder ich spieß' dich!«

Und ich glaube auch sicher, wenn zufällig ein neuer Zugang aus irgendeiner Richtung her entstanden wäre, das kluge kleine Geschöpf hätte auch dort ein neues Eingangsloch gegraben. Das »Spanische Bajonett« vermochte dazu auch Rinder und andere gewichtige Tiere, die den ganzen Bau zertrampeln konnten, abzuhalten. Wenn schließlich der Perodipus einmal abends, von einem behenden Feinde verfolgt, daheim Rettung suchte, so war der große dunkle Umriß des befreundeten Bajonetts für ihn der richtunggebende Leuchtturm. Im Sommer, sagte ich mir weiter, wo andere Pflanzen nicht abgestorben wären, wie zur jetzigen Zeit, wäre das Bajonett mit seinem dunklen Immergrün zur Nachtzeit ein schlechter Wegweiser; aber es weiß in dieser neuen Anforderung in glänzender Weise zu entsprechen. Oben aus der Spitze mit ihrem starrenden Speergewimmel sendet sie weit hinauf in die purpurne Nacht einen wunderbaren Kandelaber auf turmartigem Stengel mit weißschimmernden Blüten, die weithin leuchten wie ein neues Sterngebilde am nächtlichen Himmel. Und so führt den Perodipus bei Tag und bei Nacht ein Leuchtturm in den sicheren Hafen.

Vorsichtig fing ich an, die Hauptgalerie zu dem Heim meiner Mondscheintänzer aufzudecken, und war noch nicht weit damit gekommen, als ich auf etwas stieß, das mich auffahren ließ – es war ein wild aussehendes Amphibium – der Huajalote der Mexikaner, für diese ein Gegenstand des Aberglaubens und tödlicher Furcht, der Amblystoma der Naturforscher. Es war nur ein kleines Tier, und doch überlief mich eine Gänsehaut bei dem Anblick, wie der Huajalote seinen ekelhaften Schwanz peitschte und am ganzen Körper einen giftigen Schleim austreten ließ. Wenn er auf mich solche Wirkung ausübte, wie mußte erst dem feinen kleinen Perodipus zumute sein, wenn solch ein Untier in sein Haus drang, wozu es eben den Versuch zu machen schien? Aber aus einem Grunde, den ich damals noch nicht begriff, bohrte das Amphibium seine Nase in eine feste Sandbank, auf die der Gang, den es betreten hatte, auslief. Da, es war, als spielten wir alle »Märchen«, zögerte ich, der Riese, keinen Augenblick und beförderte den Drachen an eine Stelle, wo er den Feen kein Leid mehr antun konnte.

Nach stundenlangem Graben und Messen bekam ich ein Bild von der unterirdischen Welt, wo der Perodipus seine Tageszeit verbringt.

Jeder Eingang führte fast bis zum Mittelraum, dem eigentlichen Nest; wer aber das Geheimnis nicht kannte, wäre daran vorbeigegangen und durch einen andern Eingang wieder ins Freie gelangt. Wie oft es auch der Eindringling versucht hätte, er würde niemals das Nest oder die wertvollen Vorräte gefunden haben, denn der zum Nest führende Gang wurde regelmäßig mit Erde verstopft, wenn der Eigentümer seinen Bau verließ.

Genau so ging es auch dem Huajalote; es schien, als habe er eine Ahnung davon, daß irgendwo ein geheimer Gang sei, den man eben ausfinden müsse, und er dachte jedenfalls, dieser müsse sich irgendwo in der Sandbank, in die er sich einbohrte, finden, obwohl er in Wahrheit weit ab vom Ziele war.

Die Mittelkammer war, denke ich, nicht von der Luft abgeschlossen, denn ein kleines rundes Loch, das ich oben auf dem Erdhügel bemerkt zu haben glaubte, war vermutlich das Ende eines Luftschachtes; allerdings bin ich meiner Sache nicht ganz sicher, weil das Dach einbrach, ehe ich die Sache gründlich untersuchen konnte.

Das Nest selbst war sehr groß, dreißig Zentimeter lang und zwanzig Zentimeter breit mit einem hohen Gewölbe, das vom Grunde aufwärts mindestens dreizehn Zentimeter maß und von den Saugwurzeln der großen alten Yukkas vor den Eingängen gerippt war. Da ich den Gang, der zum Nest führte, entdeckt hatte, so dachte ich, ich wäre nun auch im Nest, aber dem war nicht so. Es hielt mich eine Masse von verfilzten dornigen Gräsern auf, die wahrscheinlich den Huajalote, wenn er so weit gekommen wäre, zurückgeschreckt hätten. Als ich mir gewaltsam Bahn gebrochen hatte, fand ich, daß der wirkliche Eingang schlauerweise unweit einer Ecke ganz unauffällig gelegen war. Im Innern fand ich dann eine dicke Polsterung von feinem Gras und seidigen Blättern und darüber einen Überzug der weichsten Federn. Man sollte meinen, jedes muntere Vöglein auf der Prärie müsse eine von seinen feinsten Federn zum Nest gesteuert haben, denn dieses war so weich und mollig und warm, wie es sich für die Wiege der rosaweißen Perlen gebührte, an die die Perodipusbabies erinnern, wenn sie zum erstenmal aus dem Land der Sterne und Störche in ihrer unterirdischen Heimat erscheinen.

Unten in einem Winkel dieser Haupthalle fand ich Anzeichen von einem andern geheimen Gange; es war mir, als durchforschte ich eine mittelalterliche Burg. Dieser Gang führte, wie ich bei genauer Untersuchung merkte, schräg abwärts und landete bald in einer großen Vorratskammer, in der sich mehr als ein halber Liter von Samen der Prärie-Sonnenblume fand.

Dieser Raum war am allertiefsten in die Erde gegraben und befand sich auch unter dem schattigsten Teile des Erdhaufens, so daß die Samen nicht Gefahr liefen, sich zu erhitzen oder zu keimen. Von einem Ende der Vorratskammer ging noch eine Sackgasse aus, die vielleicht früher zur Einführung der Vorräte benutzt und dann der Sicherheit halber wieder verbaut worden war. Es gab eine Unzahl solcher toten Geleise, die, muß man annehmen, entweder vermauerte Eingänge waren oder absichtlich dem Zwecke dienen sollten, einen Eindringling, der nicht den Schlüssel zu der geheimen Tür besaß, irrezuführen.

Doch fand sich noch ein weiterer Raum, nämlich eine zweite Niederlage mit einem Reservevorrat sorglich ausgelesener Sonnenblumenkerne; es war etwa ein Zehntelliter, und doch war nicht ein schlechtes oder verhutzeltes Samenkorn darunter.

Von der ganzen Perodipus-Sippe traf ich aber kein einziges Mitglied an; ich halte es für möglich, daß sie, durch mein lärmendes Eindringen gewarnt, sich sämtlich durch einen Geheimgang, den ich nicht entdeckt habe, davonmachten.

Dies war das Heim meines nächtlichen Besuchers, klüglich angelegt und ausgeführt gemäß allen seinen Bedürfnissen sowohl des Augenblicks wie der nächsten Zeit.

III.

Den einen Bewohner des Nestes, den ich im Käfig hatte, beobachtete ich nun mit doppeltem Interesse. Er war die Verkörperung rastloser Energie; pochendes Leben erfüllte ihn von den Spitzen seiner durchsichtigen Nase und der durchscheinenden Ohren bis zum Ende seines zuckenden Schwanzes. Mit einem einzigen Sprunge durchmaß er den Behälter, und nun erkannte ich auch den Zweck seines mächtigen Schwanzes. Bei den außerordentlich weiten Flugsprüngen, die der Perodipus macht, leistet ihm die Quaste am Schwanzende, was die Federn beim Pfeil bewirken, das heißt, sie hält ihn auf seiner Flugbahn in der Luft aufrecht. Aber sie tut mehr; sie setzt ihn in den Stand, seine Richtung etwas zu ändern, wenn ihm dies nach dem Absprung geratener zu sein scheint. Und der Schwanz selbst dient noch andern Zwecken. Der Perodipus hat in seinen gestreiften Hosen keine Taschen, in denen er seinen Wintervorrat eintragen könnte, aber er besitzt geräumige Backentaschen, die er füllen kann, bis sie um mehr als den eigenen Körper ausgebaucht sind – so weit, daß er, um durch seine Eingangstüre treten zu können, den Kopf seitlich halten muß. wenn dadurch der Kopf weit schwerer gemacht wird, als er gewöhnlich ist, so verschiebt sich auch völlig sein Gleichgewichtszentrum, das für ein Springen mit leeren Taschen eingerichtet ist. Hier tritt aber der Schwanz in Kraft. Seine Länge und sein Umfang machen ihn zu einem gewaltigen Hebel, der, unter diesem oder jenem Winkel hochgehoben, seinem Besitzer das verlorene Gleichgewicht widergibt und ihn befähigt, mit einem Wochenvorrat in den Backentaschen regelmäßig zu springen.

Mein Perodipus war zugleich der unermüdlichste kleine Bergmann, den ich je gesehen habe. Die rosaweißen Pfoten, kaum größer als eine Bleistiftspitze, schienen des Grabens nie müde zu werden und ließen die Erde zwischen seinen Hinterfüßen davonfliegen, als wäre eine Dampfschaufel tätig. Nie wurde ihm die Arbeit zuviel. Zuerst grub er einen Tunnel durch die ganze Masse, die ich in seinen Behälter getan hatte, von einem Ende zum andern, baute verschiedene ideale unterirdische Anlagen nach dem Perodipusplan und löste viele Tunnelprobleme. Dann legte er sich mehr auf die Landschaftsgärtnerei und beschäftigte sich nachts damit, die Geographie seines ganzen Gebietes völlig umzuwandeln, indem er je nach Laune hier künstliche Hügel und dort Hohltäler schuf.

Ein Landschaftsproblem schien ihm am meisten im Kopfe zu stecken: es war so etwa das Kolorado-Cannon mit dem Berg von San Franziska an seinem Ufer. Lange versuchte er seinem Berge mittels eines bestimmten Steines eine Spitze zu geben, aber das ging über seine Kräfte, und mit meiner Hilfe war ihm nicht gedient, im Gegenteil, sie störte ihn eher. Dieser Stein war für ihn eine lange Zeit hindurch ein Stein des Anstoßes. Weder konnte er ihn verwenden, noch ihn beseitigen, bis er auf den Gedanken kam, er könnte wenigstens die Erde darunter weggraben und ihn so immer tiefer versinken lassen; als er ihn endlich bis auf den Boden gebracht hatte, war er ihn los.

Immer wieder schien es dem Gefangenen das größte Vergnügen zu bereiten, von dem Gipfel des Franzisko-Berges quer über das Große Cannon nach Utah (über dreihundert Kilometer weit) an die andere Seite seines Behälters und von da wieder zurück auf die (sechstausend Fuß hohe) Spitze zu springen.

Ich beobachtete, skizzierte und studierte ihn, soweit dies irgend sein scheues Wesen und sein Nachtleben zuließ, und ich lernte ihn täglich mehr bewundern. Erstaunlich war sein unablässiger Eifer für seine nächtlichen geographischen Taten und sein Talent zum Aufhäufen von Gebirgsketten bewundernswert, ja geradezu vulkanisch. Als ich zum erstenmal im feinen Staube eine Andeutung von seiner Gegenwart erhielt, war ich geneigt gewesen, den Besucher für eine Fee zu halten. Als ich ihn zum erstenmal sah, sagte ich: »Wie? Das ist ja nur eine Springmaus.« Als ich ihn aber ein paar Wochen im Käfig beobachtet hatte, da ward es mir völlig klar, daß Millionen kleiner Geschöpfe, die mit solcher Energie begabt waren, im Laufe der Jahrtausende die ganze Oberfläche eines Landes ändern mußten, allerdings nicht nur unmittelbar durch ihre eigene Tätigkeit, sondern auch dadurch, daß durch sie dem Frost und Regen die Tür geöffnet wurde. Da mußte ich bekennen, daß der Perodipus mehr als eine Maus oder ein Heinzelmännchen war, daß er nichts weniger als eine geologische Epoche bedeutete.

IV.

Noch eine weitere Lehre, eine große Überraschung stand mir bevor. Naturkundigen ist es wohl bekannt, daß die gewöhnliche Hausmaus fast wie ein Vogel singen kann. Gelegentlich findet man besonders begabte Exemplare, die unsere Kammern und Keller mit mitternächtlicher Musik erfüllen, auf die ein Kanarienvogel stolz sein könnte. Weitere Forschungen nach dieser Richtung hin haben ergeben, daß die gemeine Hirschmaus der östlichen Wälder Nordamerikas ebenfalls ein guter Sänger ist.

Nun kann man von jedem Cowboy in den westlichen Prärien hören, daß er nachts zur Schlafenszeit oft die auffallendsten Töne eines Vogelgesangs in sein dämmerndes Bewußtsein aufgenommen hat, einen leisen, süßen, zwitschernden Gesang mit Trillern und tiefen Klängen. Wenn er sich aber überhaupt Gedanken darüber gemacht hat, so führte er diese Nachtmusik auf irgendeinen im Traum singenden kleinen Vogel zurück, oder er ließ sich die schleierhafte Erklärung seines Kameraden, das sei eine Prärienachtigall, gefallen, ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was das eigentlich sei.

Oft habe ich diesen merkwürdigen Nachtgesang gehört, und da mir seine eigentliche Ursache verborgen war, so schrieb ich ihn ebenfalls einem kleinen Vogel zu, für den die Tagesstunden nicht ausreichten, um seiner Überfülle von Glück Ausdruck zu geben.

Erst nachdem ich mehrmals nachts meinen Gefangenen belauscht hatte, wenn er langgezogene Töne von sich gab, ward es mir allmählich klar, daß dies dieselbe Stimme war, wie die, die ich so oft den aufsteigenden Mond hatte ansingen hören. Leider muß ich gestehen, ich habe ihn nicht wirklich singen hören. So fehlt mir der volle Beweis; vielleicht war die Ursache hiervon nur die, daß er durchaus nicht den Wunsch hatte, mir Freude zu bereiten, im Gegenteil, vom ersten bis zum letzten Augenblick bewies er mir gegenüber einen unbändigen Grimm. Ich kann also nur sagen, ich glaube (und hoffe), daß es dieselbe Stimme war. Es ist mir leid darum, aber die Naturwissenschaft, der mit nichts als mit der nackten, zweifellosen Wahrheit gedient ist, erlaubt mir nicht, geradezu zu erklären, wie ich es so gern möchte, daß der süße nächtliche Sänger der Prärien und die Fee im Samtkleide, die nachts vor meiner Türe tanzte, ein und dasselbe Geschöpf seien.

Doch in einer Nacht gab's wieder einen neuen Aufruhr in dem Käfig, und die vulkanischen Kräfte meines Häftlings versuchten sich in einem neuen Experiment. Er errichtete einen Berg, nicht wie bisher in der Mitte seines Reiches, sondern fern im Südwesten, in einer Ecke des Behälters, und diesmal wurde es ein besonders sehenswerter Berg. Der Baumeister schonte nicht einmal das Große Cannon, um das nötige Material zu gewinnen. Höher und höher ließen die feinen rosa Pfoten die steilen Klippen ansteigen, und schwindelnd erhob sich die Spitze wie nie zuvor.

Auch türmte es sich schnell auf, denn es war in der Ecke des Käfigs und näherte sich sichtlich dem obersten Himmel, das heißt, dem Deckel des Behälters, als ein Zufall dem Ehrgeiz des Perodipus eine andere Richtung gab. Er befand sich jetzt in einer Höhenlage, die er seit seiner Einkerkerung noch niemals erreicht hatte, so hoch, daß er den schmalen Holzsaum unter dem Deckel erlangen konnte, der ohne Zinnbekleidung gelassen war. Der neue Stoff reizte seine Nagezähne, und – o Freude! – er war leicht zu durchschneiden. Mit seiner gewöhnlichen Energie machte er sich an die Arbeit, und in sehr kurzer Zeit bahnte er sich einen Weg durch das anderthalb Zentimeter dicke Tannenholz; dann entfloh er aus dem Zinnsarge, in dem man ihn begraben hatte, und damit hörte auch dessen geologische Epoche auf. Mein Naturgeschichtslehrer hatte seinen Katheder verlassen. Ich hatte ein unmögliches Wunder entdecken wollen, hatte aber statt dessen eine entzückende Geschichte aus dem Wunderlande der Natur erfahren.

V.

Und nun streicht er wieder lustig über den Schlamm und Sand der Ebene dahin, schießt über die Lichtung wie ein lebender gefiederter Pfeil, lockt den vorwitzigen Präriewolf, seine Unglücksnase in die schändlichen Kaktusspeere zu bohren, oder lehrt die Prärieeulen, daß sie ihn in Ruhe lassen müssen, wenn sie sich nicht auf einem Spanischen Bajonett spießen wollen, und kommt nachts wieder heraus, seine Spitzenmuster aus dem feinen Staube zu entwerfen, rhythmische Verse zu schreiben, im Mondenschein mit seiner heiteren Sippe zu singen oder einen Schottischen zu tanzen.

Sie locken den vorwitzigen Präriewolf.

Sanft wie ein Schatten, schnell wie ein Pfeil, mollig wie Distelwolle, helläugig und schön mit einem geheimen Eingang in sein unterirdisches Reich, wo seine Feinde ihm nichts anhaben können – mein erster Eindruck kam der Wahrheit ziemlich nahe. Sicher hatte ich das »Volk der Zwerge« gefunden, und zwar eins, das uns näher stand und besser und menschlicher war als irgendeins, von dem die Märchenbücher erzählen. Der von mir erkorene Pfad naturwissenschaftlicher exakter Studien, der scheinbar weit wegführte von dem traumhaften Reich der Feen, Zwerge und Heinzelmännchen, hatte mich schließlich doch auf arkadische Höhen geleitet. Und wenn ich jetzt gewisse kurzsichtige Leute von Feen und Heinzelmännchen wie von Wesen reden höre, die nur in den romantischen Gegenden Englands, Irlands oder Indiens vorkommen, so denke ich:

»Ihr habt eure Zeit mit dem Lesen von Büchern vergeudet. Ihr seid nie auf den Hochebenen Neu-Mexikos gewesen, wenn der Vollmond aufsteigt, um den Fluß bei jeder Windung glitzern zu lassen und die Hügel in Grün zu baden und die Schatten in Blau zu hüllen. Ihr habt die Mondscheinmusik nicht vernommen. Ihr habt diese Mondstrahlen nicht vom Distelkopf und der Spitze des Spanischen Bajonetts hüpfen sehen, um schließlich wie auf Bestellung auszuruhen auf dem glattgefegten Tanzplatz eines winzigen Geschlechts, das jede Nacht auf diese Erde zum Besuch kommt, aus dem Nichts erscheint und verschwindet ohne einen Laut auftretender Füße.

Nie habt ihr dies gesehen, denn ihr habt nicht den Schlüssel zu dieser verborgenen Kammer gefunden; und hättet ihr ihn auch, ihr würdet doch noch zweifeln, denn die niedlichen Mondscheinschwärmer kleiden sich in Dunkelheit und können sich unsichtbar machen.

Wahrhaftig, ich glaube fast, ihr haltet das Ganze für einen Traum? Wie steht's aber mit den Spitzenmustern im feinen Sand? Sie sind wieder da, wenn die Morgensonne den nächsten Tag bringt.«


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