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Der gelbe Terror

»Was? Sie wollen nicht?« Kauner sprang empört auf, kaum daß er sich gesetzt hatte. »Auch nicht, wenn ich Ihnen wiederhole, daß diese kleine grüne Kiste Diamanten enthält? Wasserreine Diamanten? Und daß wir drei ...«

Fogoschin, bleich und mager, nickte mit gefalteter Stirn auf ihn ein. »So seien Sie doch nur nicht so ungeduldig! Ich sage ja nicht, daß ich dagegen bin, sondern ...«

»Sondern ...?« winselte Kauner feixend.

»Fogoschin ist nämlich gelber Terrorist geworden.« Stenka, der vollendete Typ der häßlichen intellektuellen russischen Jüdin, erhob sich würdeschwankend. »Und zwar durch mich.«

Kauner ließ sich lachend die Haare ins Gesicht stürzen. »Gelber Terrorist? Darf er deshalb keine grüne Kiste knacken?«

»Ich bitte Sie, Kauner, lassen Sie diese infantilen Späße!« Stenka riß ihre aufgebürsteten Wimpern energisch hoch und trat, nunmehr geradezu majestätisch, ans Fenster.

»Gelber Terrorist? Das ist infantiler noch als spaßhaft.« Kauner warf sich aufprustend in ein Fauteuil und drehte sich kopfschüttelnd grinsend eine Zigarre zwischen die Lippen.

Fogoschin zog einen Stuhl neben ihn, legte ihm die Hand aufs Knie und hielt eine fast einstündige Rede über den gelben Terror:

Es handle sich um eine gänzlich neue Gründung, durchaus nicht um die altrussische Terroristenpartei, auch nicht um die gleichfalls längst unaktiv gewordene Ssavinkow-Gruppe. Deren Ziel, die gewaltsame Untergrabung der bestehenden Ordnung zum Zwecke der Errichtung einer neuen, billige seine Partei nicht, die deshalb zum Unterschied von jener ihren Terror den gelben heiße. Dessen Ziel sei die Herbeiführung des allgemeinen Chaos, nicht nur in bezug auf die bürgerliche Rechtsordnung, sondern auch in bezug auf die Gehirne, denen keine neue Idee, keine neue Irrlehre serviert werde. Das Chaos der Zustände und Köpfe habe als der normale Zustand hergestellt zu werden. Alles sei allen erlaubt, so weit und so wie es einem jeden eben gefalle. Die Menschheit, die mit ihren Ideen nicht anders fertig wurde, als daß diese in der Hand einzelner mit ihr fertig wurden, habe jetzt endlich mit sich selber fertig zu werden. Es sei außer Zweifel, daß eine allgemeine, absolute und direkte Vogelfreiheit einen Weltzustand herbeiführen werde, der, obwohl er sich durchaus nicht bis ins Letzte vorstellen lasse, dennoch natürlich sein müsse. Sämtliche höchste Verbrechen, wie Mord, Diebstahl, Notzucht, Blutschande, überhaupt alle sogenannten Laster, welche bisher von dem Privatinteresse einer international herrschenden Gaunerbande als Verbrechen gestempelt wurden, seien für vogelfrei erklärt. Obenan naturgemäß der Machttrieb, die Hefe aller Vergnügungen; ob er sich nun direkt äußere, indem er in abertausend Formen zu herrschen trachte, oder indirekt, indem er in abertausend Formen sich pervertiere. Die ganze Welt sei vogelfrei. Die Folge würde sein, daß es drunter und drüber ginge. Und da es im tiefsten Grunde auch bisher stets drunter und drüber gegangen sei, würde auf diese Weise nur ein bereits latent bestehender, lediglich von einigen wenigen vogelfrei schaltenden Exemplaren eingeschnürter Zustand publik werden und allgemein. Es würde toll werden. Unvorstellbar. Unsäglich. Verrückt. Aber es sei die letzte Möglichkeit der Menschheit, auf sich selbst zu kommen. Würde die ganze Menschheit schrankenlos auf sich selbst losgelassen sein, so müßte sie, nachdem sämtliche Triebe, eine freilich nicht bestimmbare Zeit hindurch, mit noch nie dagewesener Aufrichtigkeit und Vehemenz auf einander geprallt wären, eines Tages zweifellos auf einem Punkt anlangen, von dem aus es nicht mehr weiterginge. Auf diesem Punkt könnte eine gänzlich neue, aber, weil aus keinem Arrangement hervorgegangen, natürliche Regelmäßigkeit (oder Gesetzmäßigkeit oder Ordnung) sich einstellen, die ebendeshalb jeder erkennen und anerkennen würde. Damit wäre das Paradies erschienen. Es könnte aber auch sein, daß diese natürliche (und darum allein richtige) Ordnung nicht erschiene. In diesem Falle würde eine rasende Übersteigerung aller Triebe beginnen. Ein grauenhafter Wahnsinn, Vielleicht würde die Menschheit in diesem Zustand sich selber unerträglich werden. Vielleicht würde sie in letzter Raserei ein Attentat auf die Erde begehen ... die Erde in die Luft sprengen ...

Kauner, der bemerkt hatte, daß Stenkas Finger immer nervöser über das Fensterbrett wischten, machte in diesem Augenblick unwillkürlich eine ironisch ablehnende Körperbewegung, so daß Fogoschin zornig innehielt. »Lieber Fogoschin, Sie entwickeln da nichts Geringeres als eine Weltanschauung. Das tun Sie, der mir erst vor einem Jahr in Petersburg gesagt hat, er wäre gegen jede Art von Weltanschauung, und daß die meine, welche eigentlich nur die sei, keine zu haben, die allein diskutable sein könne.«

Fogoschins blasse Lippen machten kleine bogenartige Bewegungen. Seine Fingerspitzen tippten aufgeregt auf einander. »Nein, nein, nein, nein ... Ich war darauf vorbereitet, das von Ihnen zu hören. Haben Sie doch nur Geduld! Was ich sagen will, ist ... Ich muß doch weiter ausholen. Bevor ich Sie in Petersburg kennen lernte, war ich das, was man einen gewöhnlichen Verbrecher heißt. Wie ich das wurde, ist gleichgültig. Jedenfalls war meine Weltanschauung nihilistisch, wenngleich durchaus subjektiv. Ich kümmerte mich lediglich um mich und um die anderen nur insoweit, als ich beabsichtigte, sie zu plündern. Sie waren der erste Mensch, den ich nicht zu plündern versuchte, weil er mir Dinge sagte, von denen ich bis dahin geglaubt hatte, sie allein zu kennen. Hinzu kam, daß Sie diese Dinge gleichsam erst unter Dach brachten, während sie in mir mehr oder weniger abstrus durcheinander geflossen waren. Es war eine komplette Weltanschauung negativer Observanz, die Sie vor mir entrollten, eine philosophisch-epikureische Determination des Verbrechens. Es war die Weltanschauung der tabula rasa, eine letzthin nicht wertende Glorifikation des Verbrechers. Aber es war trotz allem eine Weltanschauung. Denn eine Weltanschauung hat man immer. Solange man lebt, schaut man die Welt unter einem bestimmten oder unbestimmten Gesichtswinkel an. Nur ein Toter hat keine Weltanschauung mehr.«

»Das ist richtig.« Kauner nahm seinen Kopf aus den Händen. Dabei wechselte er mit Stenka, die sich kurz umgewandt hatte, einen scharfen Blick.

Fogoschin wischte sich den Speichel vom Mund. »Ich will Ihnen mit all dem ja nur sagen, daß ich, der ich völlig Ihrer Anschauung war, augenblicklich die Stenkas und ihres Kreises annahm, als ich sie das erste Mal hörte, weil diese Anschauung nur eine großartige Fortsetzung der Ihren ist, Kauner. Ihre Anschauung enthält kein Ziel, das weiter läge als in Ihnen selbst. Jene geht weit darüber hinaus. Wie, das habe ich Ihnen ja bereits auseinandergesetzt. Was Sie aber noch nicht wissen, ist, daß Sie bisher durch Ihre ganze Arbeitsart beinahe schon gelber Terrorist waren. Und daß Sie nur Weniges hinzutun müssen, um ein ganzer und vielleicht einer unserer allerersten Terroristen zu werden. Und nun hören Sie: der gelbe Terror, wie wir den Zustand des hergestellten allgemeinen Chaos nennen, wird dadurch herbeigeführt, daß ganz einfach praktisch mit ihm begonnen wird. Jeder Verbrecher ist Terrorist. Alle müssen Verbrecher werden ...«

»Wenn ich Sie recht verstehe ...« Kauner bat Fogoschin um Feuer, um zu verbergen, daß er jede von Stenkas Bewegungen überwachte, »... so dürfte ... danke! ... das, was der gewöhnliche Verbrecher, um gelber Terrorist zu werden, noch hinzutun muß, doch wohl sein, daß er sich weniger um grüne Kisten kümmert, als um ... Ja, worum?«

Fogoschin biß sich auf die Unterlippe, schmatzte ein wenig und ballte die Hände, daß die Knochen weiß hervorschimmerten. »Kauner, ich erkenne Sie nicht wieder. Bitte hören Sie weiter! Das allgemeine Mittel zur Herbeiführung unseres Ziels ist, kurz gesagt: hemmungslose Gewaltanwendung, wo immer es nur angeht. Was ist Gewaltanwendung? Jede Art von Verbrechen. Damit wühlt man am Fuße des Baues der bestehenden Ordnung, ohne sich um den Effekt weiter zu kümmern. Nun aber hat man sich um den Effekt zu kümmern. Und das tut man durch ein hinzugefügtes Attentat auf die Gehirne. Der gelbe Terrorist muß das Chaos der Köpfe herstellen, ohne das die direkten Gewalttätigkeiten keine Nachahmung finden, wenigstens nicht in solchem Ausmaß, daß die große Panik beginnt, die am Anfang des allgemeinen gelben Terrors stehen wird. Diese Nebentätigkeit, die aber dennoch durchaus essentiell ist, besteht in sexuellen Hemmungslosigkeiten aller Art, um durch Lockerung der geschlechtlichen Urtriebe Entsetzen zu verbreiten und sie zugleich aufzupeitschen. Sie besteht in der systematischen Störung sämtlicher Gewohnheiten der Menschen, um jene Unzufriedenheit und bis zu Wutanfällen sich steigernde Gereiztheit herbeizuführen, von der es nicht mehr weit zur Gewalthandlung ist. Indem man zum Beispiel in Restaurants Stinkbomben legt; in den Cafes die Tische beschmiert, bespuckt; auf der Straße plötzlich einen gellenden Schrei ausstößt; Regenschirme zerschneidet; Häuserwände schweinisch bemalt; falsche Telephongespräche zu Tausenden führt; phantastische Irrlehren verbreitet und nach wenigen Tagen das Gegenteil; anonyme Briefe schreibt, um jede Art persönlicher Beziehungen zu zerstören; kurz, indem man lügt, betrügt, stänkert, verwirrt, entsetzt ... Das Feld dieser Tätigkeit ist unüberblickbar groß. Der Haupteffekt aber, neben dem die soeben geschilderte Tätigkeit wahrlich nur eine Nebentätigkeit ist, wird dadurch erzielt, daß man ... daß man dem jeweils Ermordeten eine kleine Papierrolle hinters Ohr steckt, auf der zum Beispiel eine religiös-unsittliche Zeichnung zu sehen ist und darunter zu lesen: ›So du nicht wirst wie ein Kindlein, bringt dir kein Kakadu den lange ersehnten Spazierstock‹. Oder: ›Sie reichten mir stets die Hand, ohne sie zu drücken. Deshalb glaubte ich, Vertrauen zu Ihnen haben zu können. Sie haben mich betrogen, indem Sie mir vertrauten.‹ Oder: ›Du sagtest einmal, du hättest in einem gewissen Augenblick dir gewünscht, nicht aufblicken zu können. Ich nannte dich die geborene Nulpe. Du zweifeltest. Empfange deine Strafe, nichtsnutziger Träumer!‹ Oder: ›Waren nicht Sie es, den ich soeben anspie?‹ Oder: ›Hier ist ein Blumenkorb untergegangen. Was ist ein Blumenkorb, so frage ich?‹ und so fort, daß den Leuten der Atem im Halse stecken bleibt vor Entsetzen, vor Irrsinn. Die Leichen sollen derartige Inschriften, auf gelbem Papier, ins Knopfloch bekommen, mit gelben Girlanden geschmückt werden, gelbe Papierkronen auf dem Kopf tragen, auf die zum Beispiel ein Eselskopf gemalt ist, quer von einer Stricknadel durchstoßen etc. ... Dadurch wird jene allgemeine vorbereitende Verwirrung in den Köpfen angerichtet, von der es nicht mehr weit zur großen ist, zur gelben ...«

»Warum sagen Sie gerade zur – gelben?« Kauner war immer vergnügter geworden; sonderlich, seit Stenka sich mit einem Blick, als könne sie Telegraphenstangen umlegen, ihm zugewandt hatte.

Fogoschins Augen leuchteten fanatisch auf. »Weil gelb von allen Farben die irrsinnigste ist. Man hat festgestellt, daß ganz gesunde Menschen, andauernd dieser Farbe ausgesetzt, Spuren von leichtem Irresein aufweisen und daß reguläre Irre diese Farbe am meisten lieben. Im übrigen aber, weil man für jede neue Sache ein handfestes Wort braucht.«

Längst dazu entschlossen, etwas zu provozieren, reichte Kauner wie in überwallender Ergriffenheit Fogoschin die Hand. »Sie haben mich überzeugt. Es gilt. Ich bin gelber Terrorist.«

Da trat Stenka vom Fenster weg und schnell auf Kauner zu. »Sie lügen! Sie haben sich andauernd über Fogoschin lustig gemacht.«

Kauner stand stramm und salutierte mit der Rechten. »Zu Befehl!«

»Kauner!!!« Fogoschin schlug sich die Hände auf die Ohren. »Sind Sie verrückt?«

»Nein. Ich übe mich im gelben Terror.« Kauner setzte sich johlend. »Wenn ich Sie ermorden würde, bekämen Sie ein Papier ins Knopfloch gesteckt, mit der Inschrift: ›Du warst der größte Schweinhund, den der Teufel in seinem Zorn erschuf. Warum bist, Unglücklicher, du es nicht geblieben?«

Stenka lächelte hochnäsig. »Sie wollen damit sagen, daß Fogoschin Idealist geworden ist.«

»Parfaitement, madame.« Kauner machte eine Hoftheatergeste.

Stenka lehnte sich an den Tischrand und schob ein Buch mit erregter Hand weit von sich. Es war unverkennbar, daß sie sich zu einer großen Rede anschickte. »Was Fogoschin Ihnen soeben entwickelte, hätte ich Ihnen nicht besser erklären können. Gewiß, es ist eine Art von Idealismus, aber ...«

»Genug!« Kauner sprang auf, den Blick dunkel vor Eifer. »Ich kenne Ihren Kreis nicht, madame, bin aber überzeugt, daß er, wenn er überhaupt existiert, aus Schwachköpfen besteht. Sie halte ich überdies für eine Dame, die mit Hilfe dieses gelben Terrors Herrn Fogoschin sich eingefangen hat. Für irgendeine große Lumperei. Oder für andere Privatzwecke, die, Fogoschins schlechtem Aussehen nach zu schließen, behäbigerer Natur sein dürften als das Mittel, das schwerlich auch nur kleine Anwendungen erleiden wird. Fogoschin ist, so schwer er als ›Junge‹ ist, ein leichtes Opfer für Schwadroneure. Deshalb fürchteten Sie während dieser ganzen Unterredung für Ihre Herrschaft über ihn, der ja von je auch für meine Suada eine Schwäche hatte. Das wußten Sie. Und deshalb versuchten Sie vorhin, mich durch einen frechen Affront mit ihm zu brouillieren. Rechts um! Kehrt euch! Marsch!«

»Fogoschin!« schrie Stenka zornbleich. »Wenn du ihn nicht sofort hinauswirfst, verlasse ich das Hotel.« Sie legte beide Hände übereinander auf die Stirn und atmete gleich einer Sterbenden.

Fogoschin sah verstört auf. »Ich entsinne mich, Stenka, daß du immer gegen diese Zusammenkunft warst. Und auch dem Kreis wolltest du mich nie vorstellen ... wenigstens nicht früher, bevor ich mein ... mein Meisterstück abgelegt hätte ...«

»Meisterstück?« Kauner schleuderte, um besonders endgültig zu wirken, ein Glas zu Boden. »Das wäre ja fast tatsächlich ein Meisterstück geworden, madame ... eine ganz große Lumperei.«

Fogoschin massierte seinen Hals.

Stenka unternahm es, zu husten.

»Meine Adresse wissen Sie, Fogoschin.« Kauner stieß ein paar Glasscherben mit dem Fuß gegen Stenka. »Wenn Sie Lust haben ... Die grüne Kiste ... Ich erwarte Sie nur bis morgen abend. Aber ohne diesen gelben Terror da neben Ihnen. Au revoir, mon cher.«


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