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Die Ermordung des Marchese de Brignole-Sale

Sorhul blieb unter den Arkaden der Piazza Deferrari stehen und beobachtete interessiert die Gruppen von Männern, die in allen Ecken standen, schrien und gestikulierten, so daß man hätte vermuten können, jeden Augenblick müsse eine Keilerei beginnen.

Plötzlich fühlte Sorhul sich von hinten berührt. Ein abgerissen daherschlotternder alter Mann flüsterte ihm etwas zu; als er sich nicht verstanden sah, sprach er französisch, die Adresse eines Nachtlokals nennend.

Sorhul lehnte höflich ab, erhielt aber trotzdem mit liebenswürdiger Aufdringlichkeit ein gelbes Kärtchen in die Hand geschoben, das er, ohne es zu lesen, gedankenlos einsteckte.

In der Via Venti Settembre, eben als er die Zolezi-Ecke passierte, sprach ihn eine unauffällig, aber elegant gekleidete Dame an, die eine üppige blonde Süddeutsche hätte sein können. Sie behauptete nach wenigen Worten, Hunger zu haben.

Das imponierte Sorhul. »Sie lügt vielleicht wirklich nicht, oder ist auf bemerkenswerte Weise raffiniert«, sagte er sich und führte sie, sehr neugierig geworden, zu Fossati, einem der vornehmsten Restaurants von Genua.

Zu seinem Erstaunen benahm sie sich durchaus korrekt, ja war mit gewissen kleinen Gebräuchen, die das Gewohntsein derartiger Milieus bedingen, wohl vertraut.

Nach dem Braten versuchte Sorhul, sich zu orientieren. »Sind Sie wirklich Italienerin? Sie sprechen ein akzentfreies Französisch.«

»Was soll das.« Sie legte ihre kraftlosen, ein wenig feuchten Finger, die so gar nicht zu ihrem Körper paßten, auf Sorhuls Hand. »Ob ich Ihnen nun die Wahrheit sage oder ein Märchen vorsetze, Sie werden mir auf keinen Fall glauben. Vielleicht aber lieber noch das Märchen. Denn die Wahrheit ist zu dumm.«

Sorhul sah, sehr angeregt, auf seinen Teller. Die linke Hälfte seines Gesichtes zog sich zusammen, so daß die andere wie gelähmt aussah. »Hm. Ich halte Sie für so intelligent, mit dieser vorzüglichen Vorbemerkung mich umso sicherer einem Märchen zuführen zu wollen.«

Sie zog ihre Hand langsam zurück. »Es ist besonders schwer, ja beinahe unmöglich, sich zu verständigen, wenn man nicht wenigstens ein ganz klein wenig Vertrauen – vorgibt. So wie der bessere Spieler dem schwächeren etwas vorgibt.«

»Wiederum vorzüglich.« Sorhuls Neugier schoß hoch auf, seine Stirn leicht rötend. »Aber ich wundere mich im Grunde stets, wenn es mir gelingt. Das ist eine der klarsten Quellen des Mißtrauens.«

Sie schwieg. Es schien Sorhul, als lächle sie ganz unmerklich. Deshalb sagte er heiter: »Es ist wohl überhaupt unmöglich, anders als à fonds perdu zu reden.«

»Doch nicht. Oft genügt es, überhaupt mit einander zu reden, um das gegnerische Ziel zu erkennen. Was man redet, ist gänzlich gleichgültig.«

Sorhul, dem diese Maxime geläufig war, wurde ebendeshalb unwillig. »Lassen wir das. Das führt zu nichts. Wollen Sie Geld?«

»Selbstverständlich.«

»Sehr gut. Wieviel?«

Sie hatte plötzlich einen kleinen Bleistift in der Hand. »Hier ist meine Adresse.« Sie schrieb sie, Sorhuls Ärmel schnell zurückschiebend, hinten auf die Manschette. »Welche Gegenleistung verlangen Sie?«

Sorhuls Augen arbeiteten entzückt. »Sind Sie dessen sicher?«

»Absolut.«

»Weshalb?«

»Sie sehen viel zu gut aus, um – poire zu sein.«

Sorhul hatte sich längst abgewöhnt, auch auf die geschicktesten Schmeicheleien hineinzufallen. »Hier haben Sie zwanzig Lire. Das ist nicht viel, genügt aber ...« Er grinste kokett, »... um sich bis morgen über Wasser zu halten. Vielleicht kann ich Sie brauchen. Nur noch eine Frage: Sie machen alles?«

»Unter Umständen, gewiß.«

Es gelang Sorhul nicht, festzustellen, an welches Metier sie bei dieser Zustimmung dachte ...

Anderntags packte ihn doch wieder die Neugier: die Unbekannte von Fossati wollte ihm nicht aus dem Kopf. Er kannte das Leben und seine Überraschungen zu genau, um nicht zu wissen, daß diese Neugier unbegründet war; daß Seltenes sich nie einstellt, sondern auf einmal da ist; und daß das, was ihn bei der Signorina Francesca Palbi in der Via San Luca erwartete, entweder etwas ihm bereits Bekanntes sein würde, oder bestenfalls noch unbekanntes Triviales. Aber sein Blut war auf. Mehr als je. Noch nie war er so sprungbereit gewesen, wie seitdem er mit Adrienne Rom verlassen hatte.

Nach dem Dejeuner verschwand er und gab beim Verlassen des Hotels einem Chasseur den Auftrag, Madame zu sagen, daß er in einer Stunde zurück sein werde ...

Die Portiera in der Via San Luca musterte ihn, während sie ihn, scheinbar schwerhörig, den Namen der Signorina Palbi zweimal zu wiederholen zwang, außerordentlich gewissenhaft. Später fiel Sorhul ein, daß schon dieser Umstand allein ihn hätte mißtrauisch machen müssen. Dann teilte ihm die Alte mit, daß diese Dame nicht mehr hier wohne, sondern in der Via Lomellini 16 parterre rechts.

»Nicht übel«, dachte Sorhul im Weitergehen, »seine richtige Adresse zu erschweren.«

Angelangt, wurde er, kaum daß er die Schwelle der Wohnung überschritten hatte, hinterrücks niedergeschlagen.

Obwohl sein Kopf ganz entsetzlich schmerzte, besaß er doch die Geistesgegenwart, sich besinnungslos zu stellen und bewegungslos liegen zu bleiben.

Man warf ihn auf ein Sofa, leerte seine Taschen aus und ließ ihn dann liegen.

Nach einiger Zeit hörte er die Stimme der Signorina Palbi und die eines aller Wahrscheinlichkeit nach noch jungen Mannes. Die beiden sprachen italienisch, aber so schnell und leise, daß Sorhul, der diese Sprache ein wenig verstand, es sofort aufgab, weiter hinzuhorchen.

Nach Minuten verstörten, völlig leeren Daliegens wagte er, das rechte, der Sofawand zugekehrte Auge langsam zu öffnen und den Kopf, der sofort von neuem heftig zu hämmern begann, sachte dem Raum zuzudrehen: er sah einen schäbig gekleideten Mann von etwa vierzig Jahren, der einen langen dicken Strick hastig zu entwirren sich abmühte, und die Signorina Palbi vor einem runden Tischchen, auf dem sie seine Papiere durchsah. Daneben lagen seine Banknoten und sein Browning.

Sofort schloß Sorhul das Auge und drückte vorsichtig seinen Unterleib in das Sofa, um etwas zu fühlen.

Und er fühlte es. Seine Hose besaß nämlich zwei hintere Taschen. In der links befand sich stets (eine alte weise Gepflogenheit) ein blind geladener Browning, in der rechts ein scharf geladener. Auf dem runden Tischchen im Zimmer aber lag sein blind geladener Browning.

Sorhul wartete noch einige Sekunden, um die Reihenfolge der zu machenden Bewegungen sich zu vergegenwärtigen. Dann sprang er blitzschnell auf, die Waffe in der Faust ...

Unterwegs warf er den Revolver, den er jenem Halunken abgenommen hatte, in einen Mülleimer und trat in eine Bar, um seine Aufregung und deren galligen Geschmack hinunterzuspülen. Dabei zählte er das Geld, das er aus der Handtasche der Signorina Palbi entfernt hatte. »Vierzehnhundert Lire! Das ist zwar für einen dermaßen gut gezielten Kopfhieb nicht viel. Für meine unverzeihliche Dummheit aber eine angemessene Belohnung.«

Als er das Hotel Miramare betrat, fürchtete er miteins, seine Annahme, das holde Gaunerpaar würde sich nicht rühren, könnte doch falsch sein. Der so überdeutliche, ihm gleichwohl erst jetzt einfallende Umstand aber, daß es ihm nicht einmal bis in den Flur gefolgt war, beruhigte ihn.

Adrienne empfing ihn vergnügt und ahnungslos.

Sorhul ließ sich wortlos in ein Fauteuil fallen und schob die Haare oberhalb der rechten Schläfe zurück: eine fürchterliche blutunterlaufene Beule wurde sichtbar.

Adrienne biß die Zähne aufeinander. Ihr Mund verriß sich bösartig. »Wer? ... Wo?« Ihre Augen wurden ganz klein.

Sorhul heuchelte, um diese Wirkung, die er genoß, noch zu vertiefen, große Ermattung und beschloß, die spätere Erzählung seines Abenteuers durchaus zu seinen Gunsten zu gestalten; treu seiner Erfahrung, daß erzählte Schlappen lächerlich machen und nur mitangesehene manchmal einer guten Eindruck.

Mit einem Mal aber schrie er fast auf: er hatte einen großartigen Einfall ...

An einem der folgenden Abende trug Adrienne, seit Wochen mit den Gewohnheiten im Palazzo Rosso des Marchese de Brignole-Sale vertraut, während die Dienerschaft aß, den van Dyck, den sie aus dem Rahmen gebrochen hatte, hinunter in das Seitenportal in der Via Laro, wo Sorhul ihn rasch vom Holz riß, zusammenrollte und unter seinem Inverneß verbarg. Hierauf fuhr er ins Hotel zurück.

Adrienne versteckte sich in einer Treppennische und wartete, als sie den Marchese heimkommen sah, noch einige Minuten, bevor sie, tief verschleiert wie stets, bei ihm eintrat. Es fiel ihr nicht schwer, die aufgetragene Komödie der Erschöpfung und nervösen Erregtheit zu mimen, schließlich unter heftigem Schluchzen dem Marchese in die Arme zu sinken und scheinbar gelegenheitsweise sich nehmen zu lassen, was sie bisher konstant verweigert hatte. Die Koinzidenz dieser Hingabe mit dem Verschwinden des Bildes hielt Sorhul für das beste Mittel, dem Marchese jeden Verdacht gegen Adrienne zu nehmen.

Der Diebstahl wurde am nächsten Morgen, sehr frühzeitig, entdeckt.

Bereits gegen Mittag erfolgte die Verhaftung eines gewissen Giacomo Gazzi, dessen Reklamekärtchen, ein Passepartout für eine Opiumhöhle, auf der Treppe, wohin Sorhul es plaziert hatte, gefunden worden war. Er vermochte sein Alibi nicht nachzuweisen, da er beruflich die Straßen durchstreift hatte.

Bei Sorhul und Adrienne wurde eine Haussuchung vorgenommen, die resultatlos verlief. Sorhul selbst hatte darauf bestanden, obwohl der Marchese den Verdacht der Polizei empört zurückwies; umsomehr als er Adriennes heroischen Widerstand bewunderte und nach ihrem so plötzlichen Fall, den er für einen zwar seltsamen, aber dem launischen Leben eben eigenen Zufall hielt, verliebter war denn je. Er begriff ohne weiteres, daß Adrienne, die ihm jetzt schwüle Liebesepisteln sandte, nicht mehr zu ihm zu kommen wagte, litt aber so sehr darunter, daß Sorhul nicht länger zögern zu dürfen glaubte, seinen großartigen Einfall auszuführen.

In der folgenden Nacht fuhr Adrienne, nur mit einem kleinen Handkoffer versehen, in einem geschlossenen Taxi in das Hotel Bristol, wo der Marchese sie in einem eleganten Doppelzimmer erwartete und außer sich war vor Glück.

Nach zwei Tagen war Adrienne von ihrer augenblicklichen Situation degoutiert und wünschte, eine kleine möblierte Wohnung in einem Privathaus gemietet zu erhalten.

Der Marchese war sofort einverstanden, da es ihm um vieles billiger zu stehen kam, und begab sich noch am selben Tag, auf Adriennes Rat hin, in die Via San Luca, um mit der Signorina Palbi wegen eines von dieser zu vermietenden Appartements zu verhandeln.

Inzwischen hob Adrienne das ganze Guthaben (über zwanzigtausend Lire), das der Marchese ihr eröffnet hatte, unverzüglich ab und reiste nach Florenz.

Sorhul blieb noch in Genua, um die Entwicklung der Ereignisse abzuwarten und keinen Verdacht zu erregen.

Da allgemein angenommen wurde, daß der Marchese mit Adrienne die Honigwochen irgendwo am Meer verbringe, beunruhigte man sich nicht weiter über sein Verschwinden.

Daraufhin reiste Sorhul, den van Dyck in den Boden seines größten Koffers eingenäht, gleichfalls nach Florenz, wo er täglich mit großer Spannung die Zeitungen erwartete. Endlich eines Morgens sah er schon von weitem auf dem Genueser Secolo eine riesige Manschette. Er eilte zu dem Kiosk und las: »Ermordung des Marchese de Brignole-Sale. Verhaftung des Mörderpaares. Neue Spur in der Affaire des van Dyck-Diebstahls.«

Vierundzwanzig Stunden später waren Sorhul und Adrienne in Wien. Erst hier gab er ihr den Secolo zu lesen.

Als Adrienne ihn sinken ließ, sagte er: »Daß die Schädeldecke des Marchese dünner ist als die meine, konnte ich allerdings nicht wissen.« Hierauf begann er mit der Erzählung seines Abenteuers, das ihm die Kopfwunde eingetragen hatte. Da er es nun mit Leichtigkeit zu seinen Gunsten gestalten konnte, machte er auf Adrienne einen unauslöschlichen Eindruck, dessen stürmische Wirkung er unverzüglich genoß. Auf dem Diwan.


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