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Nun war also in dem kleinen Haus eine Feier. Sollte man's glauben? Zwei Jahrzehnte und länger hatte es still und bescheiden dagestanden, gutmütig und verschlafen. Es war das letzte Haus im Kolk und das kleinste. Eigentlich war es nur ein Dach, das wie ein brauner Pilz aus dem Boden wuchs. Heute aber ist es herausgegangen aus seiner Kleinheit, aufgewacht ist es und will sich spreizen. Es ist ein Hochzeitshaus mit Blumen am Fenster und Kuchenduft in allen Stuben. Es hat die Türe weit auf und Füße kommen und gehen. Kleine Füße, die Kinder hertragen mit einem Strauß in der Hand und einer großen Erwartung in den Augen auf Kuchen und bunte Süßigkeit. Und große Füße von Männern und Frauen, die ihre Glückwünsche anbringen wollen. Das sind alles Füße, die in derben Schuhen stecken, in verbeulten Schuhen mit Ristern und Stopfstellen. Da sind keine Tanzschuhe darunter und keine Spazierschuhe. Es sind Schuhe, die schon ein langes, mühevolles Leben hinter sich haben. Sie kommen schwer und gehen schwer und ruhen sich ungeschickt aus. Doch zwischen ihnen läuft ein leichtes Paar, ein weiches, glänzendes Paar hin und her, flink und geschäftig heute, denn sie müssen sorgen, daß alles in Ordnung ist. Das sind Tinas.

Als Uhlig ihr die Schuhe mitbrachte, konnte sie zuerst vor Freude kein Wort sagen. Sie hatte lange solche Schuhe nicht an den Füßen gehabt. Das waren ja Schuhe zu Tanz und Fest.

»Warum nicht?« hatte Uhlig gelacht. »Du wirst sie bald brauchen können.«

Nun hatte sie Schuhe an, wie sie sie einst in der Mädchenzeit getragen hatte, sonntags, wenn es zur Musik ging. Auch später, in der ersten Zeit ihrer Ehe, als Stam Öffgen noch stolz auf sie war. Das letzte Paar, so weich und leicht wie diese, waren Spangenschuhe gewesen von Goldkäferfarbe. Sie konnte sich noch genau darauf besinnen. Damals wohnten sie noch in der Stadt, und Stam Öffgen hatte die Schuhe von einer Fahrt mitgebracht. Sie waren in Antwerpen gekauft und mußten vor dem Zoll versteckt werden. An jenem Tage, als sie die Goldkäferschuhe zum ersten Male trug, waren sie in einer Singspielhalle gewesen. Eine Sängerin war da, die beim Tanz mit den Füßen stampfte und sich herumwirbelte. Stam Öffgen hatte ihr zugetrunken. Er war kein gewöhnlicher Mann, der bescheiden in der Ecke saß. Während sie tanzte, war er aufgestanden, hatte sein Glas erhoben und »Bravo« geschrien. ›Er trat wie ein Herr auf‹, dachte jetzt Tina. Sie hatte zu Uhlig gesagt:

»Dann willst du wohl auch mit mir tanzen gehen!«

Sie hatte es scherzend hingesagt und gar nicht daran geglaubt. Da war Uhlig verlegen geworden und hatte ihr eingestanden, daß er noch nie getanzt hätte.

»Ich bin niemals dazu gekommen«, sagte er, jetzt selbst verwundert.

Nun saßen sie nebeneinander im Hochzeitshaus und der Geigenbauer fiedelte. Es war gut, daß man mit ihm bekannt geworden war, denn nun gab es etwas Musik. Er kannte vielerlei aus dem Kopf und hatte obendrein Noten mitgebracht, die er beim Spiel gegen eine Blumenvase lehnte. Er spielte auch Lieder, die man mitsingen konnte. Zwar wußte man meistens nur den Anfang, aber es machte ihnen schon Spaß, die Melodie zu erkennen. So waren sie zuerst sehr lustig.

Als sie dann aber vor dem Abendbrottisch saßen, wurden sie ernst. Das kam, weil Barbe Wiel sagte:

»Da drüben sollte Timms Platz sein. Ich habe schon am Sonnabend Radieschen besorgt. Er aß sie so gern.«

Nun fragten sie hin und her, wo er wohl sein möchte. Dabei sprachen sie auch von dem letzten Nachmittag bei ihm. Wie er gesungen und gebetet hatte, wie das Licht von ihm angezündet wurde und wie eigentlich alles sonderbar und befremdlich gewesen war. Auf einmal bauten sie Stück für Stück in ihren Gesprächen diesen Tag wieder auf.

»Dann ist eine Taube gekommen«, sagte Anton Olkers. Sie widersprachen ihm nicht. Sie sahen in Gedanken wieder diesen weißen Vogel aus dem Abend kommen, groß und gleitend, und wie er auf einmal verschwunden gewesen war. Er hatte nicht auf dem Brückenholz gesessen, auch nicht auf den Pflöcken im Wasser, wo sonst der Ruheplatz der Möwen war.

»Davon verstehen wir nichts«, sagte Schowe.

Barbe Wiel dachte daran, wie sie neben Daniel Timm hergelaufen war, wie sie seinen Arm packen wollte und wie er doch schon fortgewesen wäre.

»Es hätte ihn keiner halten können«, sagte sie.

Der Geigenbauer, der bis jetzt schweigend dagesessen hatte, versuchte nun auf seine Weise das alles zu erklären. Wer mit Musik umgeht, versteht viel von himmlischen Dingen. In der letzten Zeit war er mit Daniel Timm gut bekannt geworden und sie hatten sich eigentlich immer ohne Widerspruch verstanden. An jenem Nachmittage aber war das, was Daniel Timm sagte, über die Maße gegangen, in denen der Geigenbauer seinen Himmel geordnet hielt. Er hatte die beiden Tage darauf viel darüber nachgedacht und er begriff, daß der Geist, der Daniel Timm davongerufen hatte, größer sein mußte als jener, der nicht von ihm verlangte, daß er seine Arbeit im Stich ließe. Er beugte sich im stillen vor jenem größeren Geist, aber doch in dankbarer Bescheidung.

Nun sagte er, so als verlangte dieser andere, daß er den Mund auf täte:

»Viele sind berufen, aber wenige sind ausgewählt. Wahrlich, ich sage euch, auch Daniel wird unter ihnen sein.«

Die anderen wunderten sich über diese Sprache und saßen in Befangenheit da. Sie sahen auch einige Male scheu auf die Stelle, wo eigentlich Daniel Timms Platz sein sollte. Der Stuhl war leer geblieben, bereit, irgend jemand in Empfang zu nehmen, der vielleicht noch mit vorspräche.

Schowe hatte geglaubt, daß Wally noch kommen würde, aber er wartete vergebens.

»Es wird ihr zu beschwerlich sein«, sagte er entschuldigend, aber für alle Fälle hatte er gesorgt, daß von der Apfeltorte ein Stück zurückgelegt würde, weil er wußte, daß er Wally damit eine Freude machen könnte. Auch von der Schlagsahne hatte er etwas beiseite getan. Doch der Stuhl war leer geblieben und Wally war nicht gekommen.

»Ich will es ihr morgen hintragen«, bat er Barbe Wiel. Aber das alles lag ganz nebenbei, in der Hauptsache sprachen sie das, was sie von Daniel Timm wußten. Immer wieder führte ihr Gespräch auf ihn zurück. Es war für sie nun klar, daß ihm kein Unglück zugestoßen wäre, sondern daß er in die Welt hinausgegangen sei, berufen, ein großes Werk zu vollbringen.

›Er wird die Blinden heilen und die Gebrechlichen‹, dachte Anton Olkers, ›auch die Lahmen‹, und es tat ihm leid, daß Daniel Timm nun so weit fort war.

Auf einmal kamen sie so auf wundersame Heilungen zu sprechen und von den Heilungen auf Krankheiten. Sie sprachen von den inneren Vorgängen des Körpers, auch von bösen Zähnen und von Gebrechen, die nur in den Gedanken lägen.

Auch Uhlig hatte manches in seinem Laden gehört. Er konnte von dem Schlagfluß erzählen, der Broses Vater getroffen hatte, und von dem Hexenschuß, an dem die Frau des Schiffers Aderholt noch immer litt, obgleich sie bei einem Arzt gewesen war und bei einem heilkundigen Schäfer.

»Das soll ja nun alles besser werden«, sagte Anton Olkers, und sie nickten ihm zu, ohne recht zu wissen, was er eigentlich meinte.

Zwischen all diesen Gesprächen saß Tina. Sie wollte ein paarmal sagen: ›Wir wollen wieder Musik machen.‹

Sie hatte dünne, glänzende Schuhe an. Ihre Füße schwebten darin. Sie wollte aufstehen und sich in der Küche nützlich machen, bloß um aus all diesen Worten herauszukommen, aber sie blieb wie eingefangen am Tisch sitzen, steif und unbeholfen und gar nicht so, als wären ihre Füße zum Tanze gekleidet. Sie gab sich schließlich keine Mühe mehr, von dem, was da geredet wurde, ein Wort zu verstehen. Es war für sie nur noch wie das Brodeln eines Wetters draußen am Fenster, während sie selbst in einer Stube sitzt, mit anderen Dingen beschäftigt. Sie dachte daran, daß damals in der Singspielhalle nicht bloß eine Sängerin gewesen war, die zum Tanz mit den Füßen gestampft hatte, sondern auch ein Zauberer, der aus seinem weiten Rockärmel eine Taube flattern ließ, ohne daß man hätte sagen können, wo er sie vorher gehabt hätte. Diese Taube hatte ein rosa Bändchen um den Hals und saß später auf einem Kasten, darin kleine Briefe lagen, von denen sie geschickt mit dem Schnabel einen herauszog, wenn man dem Zauberer einen Groschen gab. Auch Tina hatte einen solchen Zettel bekommen. Sie wußte nicht mehr, was darauf gestanden hatte, aber sie entsann sich, daß die Zahl am Kopfende des Zettels ihre Glückszahl gewesen sein sollte. Vielleicht wäre alles im Leben besser geworden, wenn Tina sich diese Zahl gemerkt hätte. Vielleicht wäre es auch besser geworden, wenn sie auf die Farbe des Zettels acht gegeben hätte, denn es hatte geheißen, daß das ihre Glücksfarbe wäre. Nun dachte sie: ›Ich hätte keine grauen Kleider tragen sollen und keine dunklen Schürzen.‹ Die Farbe wird gelb gewesen sein oder mattrot, womöglich auch hellgrün. Wenn sie in solchen Kleidern vor Stam Öffgen gestanden hätte, würde er vielleicht freundlicher zu ihr geblieben sein.

Sie hatte heute ein helles Kleid an, wie es Uhlig gewünscht hatte. Für ihn hatte sie sich so gekleidet, aber nun saß er neben ihr und sprach von kranken Schifferfrauen.

Der Geigenbauer hatte ihr wohl angemerkt, wie trübe diese Gespräche ihr fielen. Er schob den Teller zurück, stand auf und holte die Geige. Er begann auch zu spielen, doch zunächst achteten sie nicht darauf, weil Uhlig seine Erzählung noch nicht beendet hatte. Er sprach über den Tisch hin zu Barbe Wiel, Olkers und Schowe. Der Geigenbauer hatte sich an die Wand gelehnt und spielte, spielte für sich und für Tina, die nun den Kopf zu ihm hinwandte. Er beugte sich zu ihr und sagte: »Der Tänzer fehlt. Es ist der Hamburger Kontra, den ich jetzt spiele.«

Das ist eine Musik, die in die Füße geht. Da wird die Stube zu klein und der Tisch zu groß. Tina saß da und zuckte den Takt mit dem Fuß.

Es ist ein Tanz, wie ihn die Bauern der Heide tanzen. Der Geigenbauer war einmal dagewesen und hatte ihnen die Melodien abgelauscht. Er kannte auch noch andere Tänze der Heide: den Heiraß und Voß vör de Egge, Lustig vör'n Disch und Dubbelte Weege.

Die andern unterbrachen jetzt zuweilen ihr Gespräch, horchten ein Weilchen zu und redeten weiter. Tina hörte, daß Daniel Timms Name wieder zwischen ihnen war. Sie seufzte und lauschte wieder zur Geige hin.

Der Geigenbauer ging jetzt fiedelnd in der Stube auf und ab. Mitten im Spiel blieb er einmal am Fenster stehen und neigte den Kopf etwas, so, als horchte er hinaus.

Tina sah ihn erschrocken an.

»Ich dachte, es wäre jemand am Fenster«, sagte er erklärend, »doch es ist nichts.«

Aber nun klopfte es wirklich. Es klopfte gegen die Fensterscheibe, nicht aufdringlich, aber man merkte doch, daß es ein harter Knöchel war.

Das Gespräch am Tisch riß auseinander. Sie saßen da und starrten sich an. Das Geigenspiel war jäh verstummt.

»Wer kann das sein?« flüsterte Barbe Wiel.

Die Uhr geht beinahe auf Mitternacht. Das Fest ist fast schon zu Ende. Man sitzt nur noch zusammen und plaudert ein wenig. Es war auch ein bißchen Musik da. Nun klopfte es draußen. Man erwartete keinen Gast mehr. Zwar dachte Schowe einen Augenblick: Wally? Aber dazu war es schon viel zu spät. Nun saßen sie da und starrten sich an.

›Daniel Timm‹, dachten sie, ›ja, er wird zurückgekommen sein. Aber warum bleibt er vor der Türe?‹

Sie fürchteten sich etwas und warteten, daß er hereinkäme. Sie hatten so viel von Daniel Timm geredet, daß er für sie schon eine fremde Gestalt angenommen hatte. Wenn er jetzt einträte, würden sie eine Scheu haben, ihm die Hand zu drücken.

Tina hatte sich zurückgebeugt, das Gesicht zum Fenster. Der Schreck vor der Ungewißheit war bei ihr verflogen. Sie hatte nun deutlich gehört, daß es klopft. Es wird also ein Mensch draußen stehen, der herein will.

So vergingen einige Sekunden, aber jede Sekunde wurde länger; und in diesen langen Sekunden kam eine heimliche Angst über Tina. Keine Angst, vor der man sich fürchtet und der man gern entfliehen will, sondern jene unbestimmte Angst, in die man sich mit leiser Wollust noch hineinwiegt.

Sie lehnte sich weiter zurück und atmete tief.

Es waren kaum zwei Minuten vergangen, als es zum zweiten Male klopfte, fester jetzt und entschiedener.

»Das ist nicht Daniel Timm«, sagte der Geigenbauer.

Darüber waren sie einen Augenblick verwirrt, denn Barbe Wiel hatte inzwischen eine Erklärung gefunden.

»Es wird Daniel sein«, hatte sie gesagt, »aber weil er keinen guten Rock anhat, will er wohl nicht hereinkommen.«

Nun sagte der Geigenbauer, daß es Timm nicht sein könnte.

Uhlig hatte bis jetzt wie die andern unruhig dagesessen. Nun stand er auf einmal auf und sagte ohne jedes Zögern:

»Ich werde einmal nachsehen.«

Im Vorbeigehen strich er über Tinas Haar. »Es ist nichts«, sagte er leise.

Sie hörten ihn über den Flur gehen. Er öffnete die Türe und fragte hinaus: »Wer ist da?«

Dann vernahmen sie eine zweite Stimme, auch ein kurzes, derbes Lachen der Begrüßung dazu. Sie sahen sich sprachlos an und blickten auf Tina.

Tina war rot geworden und schloß die Augen. Sie atmete heftig.

»Was will er hier?« fragte Barbe Wiel Es war Schreck und Ärger zugleich.

In der Türe standen jetzt Stam Öffgen und Uhlig.

Stam Öffgen trug einen blauen Anzug und eine blaue Schirmmütze. Er war größer und breiter als Uhlig. Er stand hinter Tinas Rücken. Sie sah sich nicht um. Er war jetzt verlegen und lachte.

»Ein neuer Gast«, sagte der Geigenbauer, der ihn nicht kannte. Er nahm die Geige und spielte ein paar Takte. Es sollte wohl ein lustiger Gruß sein.

Dann setzte er die Geige wieder ab und betrachtete Stam Öffgen, als wollte er herausbekommen, warum das Erscheinen dieses Mannes alle hatte verstummen lassen. Stam Öffgen sah ihn mit seinem verlegenen Lachen an, nahm die Mütze ab und sagte zu dem Geigenbauer:

»Ich bin so frei.«

Er setzte sich dann auf den leeren Stuhl neben Tina. Sie rührte sich nicht, ihre Hände lagen unbeweglich im Schoß.

Uhlig nahm den Stuhl, der für Daniel Timm oder einen anderen Gast bereit gestellt war, und setzte sich. Er saß an der Kopfseite des Tisches und hatte Tinas Gesicht vor sich und das ihres Mannes.

Barbe Wiel war die erste, die sich gefaßt hatte. Sie sagte:

»Man hätte dich hier nicht erwartet.«

Man merkte ihr an, wie ärgerlich sie über diese Störung jetzt war.

Anton Olkers fürchtete Unfrieden, und um einen Zank abzuwenden, der schon in der Luft zu liegen schien, nahm er die Flasche, die neben seinem Stuhl stand, und goß das Glas vor Stam Öffgen voll. Es war Uhligs Glas, doch Stam Öffgen nahm es und mit einem Blick in die Runde trank er wortlos. Er trank lange und schmatzte etwas. Dann stellte er das Glas umständlich hin und sagte, halb zu Tina gewendet:

»Ich war schon oben, aber es hat keiner aufgemacht.«

Als er keine Antwort bekam, setzte er hinzu:

»Ich hab dann ein Weilchen vor dem Haus gewartet, dann sah ich, daß hier noch Licht war. Ich bin erst heute abend angekommen. Nun seh ich, daß hier was los ist.«

Anton Olkers wollte ihm Bescheid sagen, doch Barbe Wiel stieß ihn an. Er sagte dann nur kurz und ein wenig ängstlich:

»Es ist Hochzeit.«

Dabei zeigte er auf sich und Barbe Wiel. Stam Öffgen blickte einen Augenblick verdutzt, dann lachte er und antwortete ohne jede Verlegenheit: »Darauf müssen wir anstoßen. Das Brautpaar soll leben! Das ist ein gescheiter Gedanke.«

Anton Olkers stieß mit ihm an, und weil Barbe Wiel ihr Glas nicht hob, tippte Stam Öffgen mit seinem Glase dagegen.

»Auf dein Wohl, Barbe Wiel«, sagte er noch.

Nun fand sie es wohl doch unhöflich, das Glas stehen zu lassen. Sie brummte etwas vor sich hin und trank.

»Na also«, rief Stam Öffgen. Er wollte sich wieder zu Tina wenden, aber sie sprang plötzlich auf.

Stam Öffgen fürchtete, daß sie weinen würde. Doch weinte sie nicht. Sie stand mitten in der Stube und starrte vor sich hin. Uhlig ängstigte sich um sie, er rückte schon mit dem Stuhl, um aufzustehen. Doch da sagte Stam Öffgen zu Tina:

»Das sind schöne Schuhe, die du da anhast.«

Er hatte Tina prüfend von der Seite angesehen. Sein Blick war an ihr entlang geglitten und nun an diesen leichten Schuhen hängen geblieben.

Tina hob den Kopf und sagte kurz:

»Die sind von Uhlig.«

Damit wollte sie wohl alles sagen.

Darauf wandte sich Öffgen freundlich zu Uhlig und meinte:

»Wir haben uns lange nicht gesehen. Das letzte Mal war's mit dem Drachen.«

Da hat dieses Wort jäh ein herbstliches Spiel in die Stube geworfen. Da ist wieder die Brücke am Kolk, der Wind von den Rübenfeldern und der bunte Papierdrachen, der es mit den Wolken aufnehmen will. Da sind die tückischen Telegraphendrähte, die ihn einfangen wie einen verflogenen Vogel.

Da ist auch wieder der farbige Drachenschweif. Zuerst wie man ihn band aus vielem bunten Papier, dann wie er vom Wind zerzaust in den Drähten hing und dann, wie ihn Daniel Timm mitbrachte, verwittert, verregnet.

Uhlig sagt: »Ja, ja, der Drachen damals.« Und darüber hinaus sieht er wieder das Herdfeuer, das die letzten Überbleibsel dieses papierenen Vogels fraß, die grünen, blauen und roten Zettel und auch den weißen Schein mit Löders' Schrift.

Da ist nun wieder das ganze Jahr. Die Treppe, die man heraufstieg und die man wieder hinabsteigen mußte, und die man nun von neuem sich anschickt zu erklimmen. Früher hätte man sich heimlich fortgestohlen, hätte wie an jenem letzten Abend im Laden den Kopf gestützt, in dem bretternen Abschlag gesessen, den man Kontor nannte, hätte dort gesessen und geweint. Nun hat man gelernt, sich nicht mehr aus dem Sattel heben zu lassen. Was auch kommen mag, man sitzt aufrecht und reitet hindurch.

Uhlig lächelt und, als wollte er die Festigkeit seines Herzens erproben, als wollte er sich überhaupt vergewissern, wie nun die Wege laufen würden, sagte er:

»Du hattest ein Kampferschiffchen mitgebracht.« Dazu lächelte er.

Nun war Köppje in aller Gedanken. Das ließ sich nicht mehr verhindern. Auf dem Papierdrachen kam er daher geflogen, auf dem Kampferschiffchen fuhr er heran. Zuerst unwirklich klein, eigentlich nichts weiter als der Name. Ein Name ohne die Gestalt des Menschenwesens, das ihn trug. Aber dann brach dieser Name auseinander, und daraus erwuchs der blonde, wilde Junge, liebenswert bei aller Trotzköpfigkeit und in seinen tausend Einfällen. Stam Öffgen lachte. Er sprach es aus. Er sagte:

»Der Junge!« und lachte.

»Er ist gut eine Handbreit gewachsen«, berichtete er.

Tina hatte auf einmal alles Leid vergessen, das ihr von Stam Öffgen gekommen war. Sie dachte nur noch an Köppje, und ihre große Sehnsucht ließ sie fragen. Sie war auf einmal froh, daß jemand da war, der ihr sagen konnte, wie es Köppje ging. Sie nahm gierig jedes Wort von Stam Öffgen, so ausgehungert war sie nach dem Kinde.

Stam Öffgen erzählte alles, was er wußte. Viele kleine Schnurren, auch große Unarten, so wie Jungens in dem Alter sind. Köppje ist ein tüchtiger Bengel. Er nimmt's mit jedem auf, auch wenn sie zwei Köpfe größer sind. Er hat sich einen Griff ausgedacht, haha, einen Griff. Zeig mal her, Uhlig! Und Stam Öffgen nimmt Uhligs Hand und dreht sie rasch herum. Uhlig sagt nichts, er beißt sich auf die Lippen, aber er sagt nichts.

Solch Bengel, was? Ja, ja, so macht er's mit den Großen. Er könnte schon ein Schiff zerlegen und wieder zusammensetzen, so gescheit ist er. Er kennt auch schon den Motor und jede Schraube. Nun, man achtet ja auch auf ihn und paßt auf, daß er sich gut hält.

»Ich habe ihm letzthin einen neuen Anzug gekauft«, sagt Stam Öffgen, »damit kann er sich sehen lassen.«

Tina freut sich darüber. Sie ist dankbar, daß Stam Öffgen daran gedacht hat.

Der Geigenbauer hat die Geige wieder an das Kinn gelegt. Er sieht, daß man beginnt sich zu erwärmen. Vielleicht ist der Empfang und alles vorher nur ein Mißverständnis gewesen. Er weiß nun auch, daß Stam Öffgen Tinas Mann ist und Köppje ihr Junge.

Der Geigenbauer fiedelt lustig drauf los.

»Das ist der Söbensprung«, sagt er und singt. Er hat Bier getrunken und Wein und nun singt er:

»Speel mir mal den Söbensprung – – –«

So vergnügt ist er lange nicht gewesen. Das war ein fröhliches junges Ding damals, rote Backen hatte sie und gelbes Haar. Die Röcke flogen bis zum Tisch ran, wenn sie sich drehte.

»Speel mir mal den Söbensprung«, sang der Geigenbauer und trat den Takt mit den Füßen, immer schneller, daß die Gläser schon klirrten.

»Der versteht's!« schrie Stam Öffgen, »er will uns in den Sack stecken. Komm, Tina, du hast ja heut die Tanzschuh an!«

Und er packte Tina und drehte sieh mit ihr. Er war groß und breit und seine Arme waren wie ein Wall. Tina wehrte sich nicht. Sie war überrascht und jedes Denken war ihr für ein paar Augenblicke weg. Dann sammelte sie sich und tanzte mit. Es war Wut, was sie tanzte.

Der andere saß auf dem Stuhl und sah zu. Man sah seinem Gesicht nichts an. Vielleicht war er gar nicht mehr da. Warum sprang er nicht auf und riß sie zurück? Das hätte Stam Öffgen getan. Er hätte die Faust genommen oder ein Glas, ganz gleich, aber er war losgesprungen und hätte sie weggerissen.

So war es zuerst Wut bei Tina. Dann wurde es Verwunderung. So sicher ist Uhlig seiner Sache, daß er nicht aufsteht vom Stuhl und mich fortholt? Was hat er auch zu fürchten? Und Tina denkt auf einmal ganz ruhig; was tut es auch, daß ich mit Öffgen tanze. Er ist gekommen und wird wieder gehen. Ich werde hier bleiben und alles wird gut sein. Warum soll ich nicht noch ein letztes Mal mit ihm tanzen? Wir haben zwei Kinder zusammen, so kann man es wohl tun.

Auch der längste Tanz geht zu Ende. Was wird nun geschehen, fürchtet sich Tina.

Aber es geschieht nichts. Stam Öffgen läßt sie los und sie setzen sich. Sie sitzen nebeneinander und atmen noch heftig vom Tanz.

Der Geigenbauer spielt weiter. Anton Olkers sagt zu Barbe Wiel:

»Wie wär's, Mutter?«

Er nennt sie zum ersten Male Mutter und wird es nun bis an sein Lebensende tun.

Barbe Wiel ziert sich. Sie schüttelt den Kopf und pufft Olkers.

»Mal los!« ruft Schowe. Es ist ihm unbehaglich gewesen bis jetzt. Nun, da sie schon zusammen getanzt haben, kann's wohl nicht mehr so schlimm werden. Schiffsleute sind oft jähzornig, manchmal sitzt ihnen das Messer sogar locker. Nun ist Schowe beruhigt und ruft: »Mal los!«

Da kann sich Barbe Wiel nicht mehr sträuben und sie tanzen beide zum Großvatertanz. Sie müssen sich langsam herumdrehen wegen des lahmen Beines. Sie kommen auch oft aus dem Takt, aber sie finden sich wieder und der Tanz läuft dahin, langsam wie der Sand in der Uhr.

»Nun, wie ist's?« sagt Stam Öffgen zu Uhlig und zeigt auf Tina.

Er weiß wohl nicht, daß Uhlig nicht zu tanzen versteht. Vielleicht aber kann er es sich denken und sagt es absichtlich. Tina ärgert sich. Sie ärgert sich, daß Uhlig stumm dasitzt und sie schämt sich, daß sie mit Stam Öffgen tanzen konnte nach all dem Groll. Daß sie ihm nicht einfach ins Gesicht geschlagen hat und daß sie sich nehmen ließ wie damals als junges Mädchen das erste Mal auf dem Tanzboden.

Nun sagt sie hart und ohne jede Bewegung: »Wir hätten wohl Ernsteres zu besprechen.«

Die Geige ist verstummt. Barbe Wiel und Olkers gehen noch ein wenig taumelig an ihre Plätze. Sie blicken Tina vorwurfsvoll an. ›Wir hätten wohl Ernsteres zu besprechen‹, hat sie gesagt. Wozu das jetzt? Sie hat doch eben mit ihm getanzt.

Schowe denkt: ›Nun wird das doch noch kommen. Ich ahnte es schon. Was soll man bei solchen Familiensachen dabeisitzen?‹ Er steht auf und geht langsam hinaus. Ohne Gruß, so, als käme er wieder.

Der Geigenbauer am Fenster ist traurig geworden. Da war die Erinnerung an einen Tanztag in der Heide. Da ist ein Mädchen gewesen, das er geliebt und nicht bekommen hat. Nun sitzt er mit seiner hölzernen Musik da. Es ist leichter, einer Geige eine süße Stimme zu geben als eine solche für das Herz zu finden, denkt er. Nun hat er auf diesem Instrument eine ganze Vergangenheit für sich heraufbeschworen, hat sie eingewiegt in Melodien, wollte sie besänftigen und zur Ruhe singen, und sie ist ihm über den Kopf gewachsen, und nun steht er am Fenster, umgeben, bestürmt und gestoßen von einer vergessenen Liebe.

Er sieht, daß Schowe hinausgeht und er folgt ihm unschlüssig.

Wenn er am Morgen aufwacht, wird er auf dem nackten Fußboden der alten Stube liegen in dem Torbogen, der Daniel Timm gehörte. Er wird verwundert den Schlüssel neben sich finden, mit dem er zuvor noch die Niederlage abschloß, in der Daniel Timm lebte.

Er entsinnt sich undeutlich, daß er vorm Einschlafen noch gedacht hat, nun ist er fort und er wird nicht wieder kommen. Auch das Mädchen ist weg für alle Zeit. Es ist schon lange fort, und eigentlich war es sonderbar, daß man es nicht gesucht hat. Aber so ist das im Leben. Die Menschen kommen und gehen an einem vorbei. Es war ganz hübsch, zwischen den Lumpen zu sitzen und manchmal mit Daniel Timm zu plaudern. Seinetwegen hatte man seine sieben Sachen in diese Stube gebracht. Nun hat er einen in ein leeres Haus gelockt.

Das hatte der Geigenbauer vor dem Schlaf noch gedacht. Am nächsten Morgen wird es ihm unklar wieder gewärtig sein, während er mit Silberdraht und einem feinen Hammer an einer verstaubten Gitarre herumbastelt. Er wird auf das Holz klopfen und es wird tönen, leise und etwas schmerzlich.

Auch der Geigenbauer war also gegangen und sie saßen nur noch zu fünft um den Tisch.

›Wir haben Ernsteres zu sprechen‹, hatte Tina gesagt.

»Stimmt«, antwortete Stam Öffgen. Er sagte das ganz frisch. »Darum bin ich auch hergekommen. Das muß alles einmal in Ordnung gebracht werden. Wir können jetzt darüber reden. Für mich können wir das schon.«

Diese Antwort brachte Tina in Verwirrung. Sie hatte erwartet, daß er klein beigeben würde, aber er saß da so selbstverständlich wie früher am Essenstisch. Sie sagte schließlich ärgerlich:

»Mir kann's auch recht sein.«

Anton Olkers nickte zustimmend. »Es hat schon seine Richtigkeit. Ihr müßt mal darüber sprechen.«

Barbe Wiel blickte Uhlig an, was er wohl für ein Gesicht machte, doch konnte sie nichts daraus lesen. Nun sah sie hilflos von einem zum andern. Sie fürchtete um den friedlichen Ausgang ihres kleinen Festtages und sagte:

»Das müßt ihr untereinander ausmachen. Da kann kein dritter was zutun.«

Olkers blieb beharrlich: »Man kann schon zusammen darüber sprechen. Wir kennen uns lange genug dazu, dächte ich.«

Das Leben fließt gleichförmig hin. Ein Tag ist wie der andere. Da kann man schon einmal eine Neugierde haben.

»Olkers hat recht«, antwortete Stam Öffgen, »wir sind gut bekannt, und was ein Kopf nicht begreift, begreift vielleicht der andere.«

Er holte ein Schriftstück aus der Tasche und legte es auf den Tisch.

»Das habe ich bekommen«, sagte er. Es war die Abschrift der Scheidungsklage, die das Gericht ihm zugestellt hatte.

»Ich trage es schon mehrere Wochen mit mir herum«, sagte er, »nun wollte ich dich fragen, ob es dein Ernst ist. Manchmal habe ich gedacht, es wäre gut so, aber dann wieder konnte ich es nicht glauben. Ich dachte, es wird sich von alleine machen, und eines Tages wird sie schreiben: Ich hab es mir überlegt. Aber sie hat nicht geschrieben und nun muß ich es beantworten. Es wird Zeit.«

Er sagte es zu Barbe Wiel und Olkers, als wollte er ihnen die Sache anheimstellen.

Olkers suchte umständlich in seinem Gehrock. Er suchte die Brille und fand sie neben seinem Teller. Er setzte sie auf und wollte das Schriftstück nehmen, doch Stam Öffgen legte die Hand darauf.

»Seine Kenntnis tut nichts zur Sache«, sagte er.

»Sie wird ihre Gründe haben«, meinte Barbe Wiel, »Tina weiß schon, was sie tut.«

Olkers stimmte zu. Er war jetzt auf Tinas Seite, weil er umsonst seine Brille aufgesetzt hatte.

»Wenn es sich bloß um Mast und Segel handelte, würde ich kein Gerede drum machen«, antwortete Stam Öffgen, »aber es geht ums ganze Schiff«, und er sagte zu Tina: »Der Junge hat schon öfter nach dir gefragt.«

Tina hätte ihn gern gebeten, diese Worte zu wiederholen, aber sie tat, als berührten sie nicht sonderlich ihr Herz. Sie fragte herbe zurück:

»Und das Mädchen?«

»Gitti?« fragte er ablenkend. Er wußte genau, wen sie meinte.

»Du weißt schon«, sagte Tina heftig.

Er schwieg ein Weilchen, sah vor sich hin und meinte dann:

»Das ist aus.«

Er gab die Geschichte ohne weiteres zu. Es hätte auch keinen Zweck gehabt, sie zu leugnen. Alle am Tisch wußten davon.

»Ich könnte ja auch fragen«, fuhr er fort. »Aber laß nur, ich frag nicht. Es ist schon alles in Ordnung.«

Barbe Wiel bekam einen roten Kopf. Sie erschrak über das, was sie damals mit ihrem Geschwätz angerichtet hatte. Nun wollte sie es gut machen und sagte:

»Da gäbe es auch nichts zu fragen.«

»Du hast es mir selber gesteckt damals«, rief Stam Öffgen, »aber das ist nun erledigt. Punkt drunter und Schluß. Ich will nichts davon hören.«

Barbe Wiel saß ganz verdattert auf ihrem Stuhl. Auf einmal ist sie die Angeklagte, auf einmal kommt alles auf ihren Kopf. Tina hatte sie angesehen. Barbe Wiel machte sich ganz klein vor diesem Blick.

»Er schwätzt ja«, brummelte sie, »ich hab ihm gesagt, er soll's nicht glauben, was man im Kolk über euch redet.«

Sie sagte das letzte zu Uhlig.

Stam Öffgen nahm wieder das Wort: »So oder so, gehechelt ist gehechelt.«

Es war ihm lieb, einen Sündenbock gefunden zu haben.

Barbe Wiel war das Weinen nahe, sie bezwang sich. Sie lachte sogar etwas, ein verwundert schluchzendes Lachen. Das war nun ihr Hochzeitstag. Da kam ihr Olkers zu Hilfe.

»Na, na«, sagte er, »deine Zunge hat wohl Pfeffer gekriegt. Ich denke doch, wo du an unserm Tisch sitzt, brauchst du uns nicht das Fenster einzuwerfen.«

Barbe Wiel richtete sich wieder auf. Sie schob ihre Hand zu Olkers hin.

Stam Öffgen lachte: »Hier wird wohl jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Schon gut, Barbe Wiel, ich will dir keinen Vorwurf machen.«

Und er lachte Olkers an und sagte: »Hab keine Angst, daß es Splitter gibt. Ich will's ja gutmachen.«

Und er wandte sich an Tina, zeigte auf das Schriftstück und fragte:

»Soll's sein?«

Dann stand er auf und sagte zu allen:

»Ich hab nun gesagt, warum ich gekommen bin. Ich frage hier vor euch, ob dieses ihr letztes Wort ist.«

Er hielt das Schriftstück in der Hand und schlug darauf.

Da stand nun Stam Öffgen und wollte den Strich wegkratzen, den Tina schon unter eine Reihe von Jahren gezogen hatte. Sie wußte nicht, was sie ihm antworten sollte. Ihre Gedanken gingen durcheinander. Sie hatte lange darauf gewartet, daß Stam Öffgen von sich hören lassen würde. Aber er hatte geschwiegen. Sie hatte lange gehofft, daß er kommen würde. Aber er war nicht gekommen. Da hatte sie die eine Tür ihres Lebens zugeschlossen und eine andere geöffnet. Sie steht schon auf der Schwelle, um in das Neue hineinzuschreiten, und plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, sieht sie Stam Öffgen vor sich. Er steht breit und stämmig da und sie müßte an ihm vorbeigehen, und schon im Vorbeigehen berühren sich ihre Schultern und ihre Blicke treffen sich.

Da öffnen sich nun vor ihr die Gezeiten des großen Lebensjahres, ihr Frühling leuchtet hinter blassem Schleier auf. Der Duft vergangener Tage strömt empor, ein altes Lied klingt wieder auf.

Wir haben zusammen getanzt und gelacht. Wir haben zusammen ein Dach gehabt, ein Dach, ein Bett, einen Tisch. Eines Tages war eine Wiege da, eines Tages waren zwei Äuglein da und zwei strampelnde Beine. Du warst nicht immer gut zu mir. Du kamst und gingst und lachtest. Du saßest zuviel auf fremder Bank, du hörtest zuviel auf fremden Gesang, du kamst und du gingst und du lachtest.

Nun saß Stam Öffgen wieder neben Tina und über alle Stürme und Brandungen hinweg wollte er ihr die Hand geben. Aber noch hielt sie ihre Hand zurück, sie sah auf Uhlig, sie wagte keine Entscheidung.

Sie sah auf Uhlig, aber er schwieg. Er saß da in einer großen Verwunderung.

Als er damals an einem Schneeabend Tina heimlich Veilchen an das Bett gestellt hatte, war für ihn über die Zukunft entschieden worden. Der Schritt war getan, und was nun folgte, wäre ein selbstverständliches Gehen Hand in Hand mit der Frau, die man lieb hat. So hatte er gedacht. Nun sieht er in dem klaren Bach einen Strudel aufwirbeln, der das Boot in Gefahr bringt. Wie kann das nur sein? Es schien doch alles einfach und abgemacht. Warum sagt sie es nicht? Sie wartet darauf, daß ich rede, und ich werde wohl auch sprechen müssen. Aber was soll ich nun sagen? Es ist Köppjes wegen, daß sie schweigt. Sie bangt sich nach dem Jungen, und ich weiß auch nicht, wie man diese Bangnis heilen könnte. Ich komme zu ihr mit einem Herzen voll Gutsein, aber Stam Öffgen hält ihren Jungen an der Hand.

Uhlig hat den Kopf gesenkt. Er spricht noch immer nicht.

Er sitzt Barbe Wiel gegenüber, und wenn er durch die Augenlider blinzelt, sieht er in ein altes, gutmütiges Frauengesicht. Das ist doch Barbe Wiel? Barbe Wiel ist heute Braut und sie sitzt vor ihrem halbgeleerten Glas und vor einem Teller mit zerbröckeltem Kuchen. Barbe Wiel hat zu ihrer Hochzeit ein graues Kleid angezogen. Es hat lange im Schrank gehangen, nun bekam es neuen Besatz mit feinen schwarzen Glasperlen, eine Rüsche im Kragen und eine Granatbrosche. So saß Barbe Wiel auf dem Ehrenplatz.

Wenn Uhlig blinzelnd aufsieht, blickt er in ein altes, gutmütiges Frauengesicht. Aus seinen Gedanken hebt er den Blick. Da ist nun die große Verwunderung. Ein altes, gutmütiges Frauengesicht schaut ihn an. Ist das Barbe Wiel? Dieses Gesicht ist nicht ganz so rund. Die Nase ist kleiner und der Mund schmaler. Es sind auch Furchen auf der Stirn, und zwischen diesen Furchen blüht wie eine liebe Blume der Leberfleck.

Es war lustig in der Hochzeitsstube gewesen. Die Nachbarn hatten ihre gute Laune hereingetragen und alles war in schönem Fluß. So war der Nachmittag gewesen und der frühe Abend. Dann war eine kühle Stunde hereingeweht und man hatte gefröstelt. Und jetzt auf einmal ist die Stube warm.

›Mutter‹, denkt Uhlig vor sich hin, streift über die Augen und sieht wieder zu Barbe Wiel hinüber. Da sitzt Barbe Wiel. Sie ist schon müde geworden und gähnt verstohlen. Uhlig lächelt ein wenig. ›Es ist Barbe Wiel‹, denkt er vor sich hin. Doch in diesem Augenblick ist ganz dicht eine Stimme. Man könnte nicht sagen, wo sie wäre. Sie ist nicht dort und nicht hier, aber er hört sie ganz dicht. Er sieht an Barbe Wiel vorbei. Im Fensterbrett stehen Hochzeitsblumen. Er sieht auf die großen Pfingstrosen.

Im Garten der alten Frau Schowe blühten welche. In dem Garten zwischen den Häusern. Frau Schowe war eine gute Frau. Wenn die Pfingstrosen blühten, schnitt sie ein paar ab und schenkte sie Uhligs Mutter. So kamen die Pfingstrosen in ihre Stube. ›Ich hab sie dir mitgebracht, Junge‹, sagte die alte Frau Uhlig. Er freute sich immer über die dicken, roten, runden Blumen.

Nun ist die Hochzeitsstube warm, die Pfingstrosen sind da und eine Stimme.

›Da sitzt du nun, Junge, und weißt nicht, was werden soll‹, sagt die Stimme. ›Wenn man jünger ist, weiß man es leichter. Ich hätte früher daran denken sollen, damals als es noch Zeit war. Nun mußte ich von dir weggehen, ohne das Letzte für dich geordnet zu haben. Du darfst mir deswegen nicht zürnen. Ich habe es gut gemeint und dachte, daß alles zu seiner Zeit getan werden müßte. Die Menschen denken immer zu kurz, und nun sehe ich, daß ich durch mein Zögern schuld an deiner Verwirrung bin. Wenn ich dir rechtzeitig eine Frau gesucht hätte, eine Frau, wie dein Herz sie braucht und wie sie an deine Seite paßt, dann wäre für dich jetzt kein Kreuzweg da, an dem du dich entscheiden mußt.

Atze Uhlig nickt. Er hörte die Stimme und nickte; und die Stimme fährt fort:

Du sitzt neben der Frau, die dir in Liebe gehören soll. Du glaubst, daß du dich richtig entschieden hast. Du mußt nicht auffahren, Junge, ich glaub es dir schon. Oder ich möchte es gerne glauben, denn du warst immer ein einsichtiger Mensch, aber ich will dir doch einiges dazu sagen. Ich bin deine Mutter und darf dir doch raten. Auch wenn ich nicht mehr bei dir bin, so wird man mich doch dereinst für dein Leben verantwortlich machen. Darum bitte ich dich, sei still und hör zu. Du denkst, du kommst zu Tina mit einem Herzen voll Gutsein, aber Stam Öffgen hält den Jungen an der Hand. Das hast du gedacht und das ist richtig. Es mag wohl sein, daß du und Tina gut miteinander auskommt. Ihr mögt auch freundliche Jahre haben. Das schon. Aber zu Anfang und zu Ende dieser Jahre wird sie fragen: was macht Köppje? Sie wird heute denken: ›Nun ist er in der Schule und ich möchte wohl wissen, ob er auf alle Fragen Bescheid sagen kann.‹ Und in zehn Jahren wird sie denken: ›Nun ist Köppje konfirmiert und wird in die Welt gehen.‹ Von dieser Stunde an wird sie traurig sein, weil sie nichts von seinem Weg weiß. Ihr werdet fünf Jahre oder auch zehn zufrieden miteinander leben, aber das Jahr darauf wird sie weinen. Vielleicht sind es auch nur drei Jahre, vielleicht nur zwei, vielleicht kaum eins. Das mußt du bedenken.

›Sie hat auch mit ihm getanzt, Mutter‹, denkt Uhlig. ›Sie hat ihre Hand nicht losgemacht und ihren Arm nicht frei. Du hast heut deine Tanzschuh an, hat Stam Öffgen gesagt. Das hat mich mehr verwirrt als der Gedanke an Köppje. Wenn du mir da raten könntest, Mutter.‹

Aber nun ist die Stimme fort. Er denkt noch erschrocken: ›Mutter, du mußt es mir sagen.‹

Er sieht auf und blickt sich um. Er hört, wie Papier knitternd zerrissen wird. Einmal, zweimal, viele Male. Das müssen nun schon kleine Schnitzel sein. Stam Öffgen wirft sie auf den Tisch, es ist wie ein kurzes, weißes Gestöber. Stam Öffgen ist selbst erschrocken darüber.

Er sagt zögernd:

»So wird's das beste sein, Tina. Ich denke, wir bleiben zusammen und lassen den Unsinn.«

Er nimmt Tinas Hand und drückt sie.

»Da wird sich Köppje freuen. Sollst mal sehen, wie schmuck er aussieht.«

Tina wehrt sich nicht mehr. Sie blickt Uhlig nicht mehr an, sie sieht über den Tisch hin auf Barbe Wiel. Aber die ist eingeschlafen und nur beim Reißen des Papiers hat sie für einen Augenblick die Augen geöffnet, verständnislos aus sanftem Schlummer heraus.

Und Tina sieht auf Anton Olkers. Der nickt ihr zu und macht vergnügte Zeichen über den Tisch, die sie nicht versteht.

Und dann sieht sie ängstlich auf Uhlig. Es ist kein klarer Blick, den sie ihm gibt. Es ist nur ein scheues Tasten.

Sie sieht, wie er aufsteht, er wächst langsam in die Höhe, er schwankt etwas, aber dann steht er doch gerade da, kerzengerade, nicht ganz so breit und groß wie Stam Öffgen, aber doch in dieser Sekunde über ihren Blick hinaussteigend.

Das Glas vor ihm war noch halb gefüllt, er trank es aus und hob es gegen Tina und Stam Öffgen. So stand er ein Weilchen da. Er sagte ein Wort. Man verstand es nicht. Es war ein Schluchzen geworden, aber er hielt sich gerade.

So war der Hochzeitstag bei Barbe Wiel. Es war zu Pfingsten, die blauen Veilchen waren vorbei. Blumen standen rot in Blüte, wie Mutters Hände sie einst pflückten.

Die blauen Veilchen sind vorbei, die kleine Liebe und die große Liebe, und was da bleibt, ist ein gerader, nackter Weg. Uhlig wird ihn gehen, langsam und mit Bedacht. Er wird auf seine Schritte achten wie ein Pferd, das seinen Wagen zu ziehen hat.

Das also war der Hochzeitstag bei Barbe Wiel.

Der nächste Tag ist schon wie jeder andere. Die letzten Möwen sind noch im Kolk, nicht viel, wohl nur drei, die bei der Abreise säumten. Man weiß nicht, weshalb. Sie sind geblieben und sitzen auf den Holzpflöcken mit einer satten Trägheit.

Uhlig steht vor der Ladentür und sagt erstaunt:

»Die Möwen sind noch da.«

Er hat Brotkrumen in der Hand und wirft sie ihnen hin, aber sie bemerken es nicht. Sie sitzen da wie aus Holz geschnitten.

Dann kommt ein Boot vorbei, ein Hund bellt auf dem Deck. Es ist Broses Kahn.

Brose steht da und winkt zu Uhlig hin.

»Ich komme nachher noch zu dir, Uhlig«, so ruft er.

Und der Kahn zieht vorüber.

Brose hält ihn jetzt mit einer langen Stange in der Mitte des Wassers.

Uhlig ist an das Geländer getreten und sieht ihm nach. Weithin über den Wasserlauf, fast noch bei der Zuckerfabrik, ist die Rauchfahne des Schleppdampfers.

Die Kähne, die beladen auf die Reise gehen und schwer im Wasser hängen, haben sich der Kraft seiner Maschine anvertraut. Er ist schwarz und rußig, und die Männer auf ihm haben schmierige Hände und ölige Gesichter.

Nun war auch der Kahn da, den er zog. Es war das Fahrzeug des Schiffers Aderholt.

Uhlig steht ganz nahe am Geländer. Er steht da ohne jede Bewegung. Er sieht den Schiffer Aderholt am Steuerrad und er sieht einen anderen Mann breitbeinig auf den Planken. Der Mann winkt. Er ruft auch etwas und winkt. Er winkt noch lange.

Neben der Treppe ist ein kleines Fenster. Für einen Augenblick ist hinter diesem Fenster das Gesicht einer jungen Frau. Es ist ein schmales Gesicht, hingestützt an das kalte Glas. Einen Augenblick nur – eine Ewigkeit.

Uhligs Blick zittert und er streicht über die Augen. Als sein Blick wieder klar ist, sieht er nur noch Stam Öffgen. Später war nichts als die verwehende Rauchfahne des Schleppdampfers. Das war ihre Abreise.

Nur Gitti war geblieben. Sie freute sich darauf, bald Wallys Kind fahren zu können. In einem weißen, niedrigen Kinderwagen sollte es liegen, wie Kinder aus guten Häusern. Sie würde den feinsten Wagen durch die Straßen schieben und manchmal wollte sie mit dem Kinde in Schowes Laube sitzen. Sie würde es wickeln und vielleicht sogar einmal baden dürfen.

Aber das allein war es nicht. Sie hatte wohl auch gedacht: Wer wird sich um Herrn Uhlig kümmern und wer wird ihm im Laden helfen an Sonnabenden, wenn viel zu tun ist, und vor den hohen Festtagen. Sie wußte schon mit allen Kästen und Kruken Bescheid, sogar die Gewichte kannte sie und das Metermaß. Nun würde sie bei Barbe Wiel wohnen und bei Anton Olkers, bei den alten guten Leuten im Kolk.

Das war es wohl überhaupt, der Kolk, diese kleine, gedrückte Straße am Wasser, von deren Haustüren noch schmale Stufen hinunter führten.

Gitti war zu jung, um zu ermessen, was Heimat bedeutet, aber unbewußt lag es ihr im Blut.

Sie hatten kein eigenes Stück Land, nicht einmal einen kleinen Garten, nicht einmal ein Huhn, geschweige denn ein Pferd. Sie hatten nichts als die Ärmlichkeit einer kleinen Wohnung, die Armut einer Straße, das schwerfällige Wasser mit den lautlosen Kähnen und winters den Möwen.

In all den Jahren hatte Gitti nichts anderes gesehen.

Vielleicht würde ihr die große fremde Stadt gefallen haben, der große Fluß, das große Meer. Doch das lag für sie noch fremd in der Welt und sie trug kein Verlangen danach. Sie wollte im Kolk bleiben, weil es ihre Welt war. Sie konnte sich nicht vorstellen, was aus dieser schmalen Straße werden würde, wenn ihr Schritt sie nicht mehr berührte und wenn ihr Auge sie nicht mehr lieb hatte.

Gitti war ein verständiges Kind. Sie hatte ihre eigenen Gedanken. Es war schwer zu sagen, warum sie sich nicht entschließen konnte, mit Vater und Mutter zu gehen. Es ist möglich, daß es nicht die Sorge um andere war und nicht das Heimweh. Es konnte auch die Erinnerung sein an Angst und Bedrückung, die sie während der Zeit erleiden mußte, als die Eltern nichts voneinander wissen wollten, und die Furcht vor wiederkehrenden Tränen.

»Ich werde euch bald einmal besuchen«, hatte sie noch zu ihrer Mutter gesagt.

Nun stand sie neben Uhlig mit verweinten Augen. Sie kam, als der Kahn fast verschwunden war, und ihre Blicke suchten das Wasser ab. Über ihrem Mundwinkel trocknete eine kleine schmutzige Träne.

Stam Öffgen hätte es wohl nicht so eilig mit der Abfahrt gehabt. Ihm gefiel es, einmal wieder da zu sein, wie früher im Laden zu stehen und von sich zu reden.

Aber Tina hatte auf die Abreise gedrängt.

Vielleicht war es nur Sehnsucht nach Köppje. Wer konnte das wissen?

So war für Uhlig nur ein kurzer Abschied geblieben.

»Wenn es dir einmal schlecht gehen sollte«, hatte er gesagt, und er sah, daß Tränen ihr in die Augen traten.

Sie hatten sich auch die Hand gegeben, länger sogar als sonst. Stam Öffgen hielt ihnen den Rücken zugewandt und wartete, bis seine Zigarette zu Ende gebrannt war.

Nun trug der Kahn sie beide davon.

Gitti und Uhlig standen stillschweigend nebeneinander.

Die letzten drei Möwen waren aufgeflogen und zogen noch immer träge dem entschwindenden Kahne nach.

Die beiden würden wohl bis zum Abend da gestanden haben, dicht an dem kalten Geländer, aber Schowe kam und rief sie.

Sie gingen zusammen in den Laden.

Da stand jedes Ding geordnet an seinem Fleck. Nirgends lag ein Tüpfelchen Staub. Da war noch der Schrank, allerdings zu klein jetzt und von einem größeren in die Ecke gedrückt, doch es war der Schrank, den man selbst einmal gezimmert hatte. Im Torbogen war es gewesen, das Holz hatte gesungen und die Nägel hatten gesungen und alles war in großer Freude bereitet worden.

Auch die Bank stand noch da, an der Daniel Timm einmal hatte beten wollen.

»Du kannst stolz auf dein Geschäft sein«, sagte Schowe, »es ist ein gutes Geschäft.«

Dann lachte er:

»Eigentlich hättest du Wally heiraten sollen, jetzt, wo wir sogar du sagen.«

Schowe lacht über seinen Einfall. Man muß auch lachen, wenn einem plötzlich so etwas in den Sinn kommt. Der Zufall ist ein lustiger Wind und treibt oft absonderliche Gedanken heran. Mitten im Gespräch fällt einem mancherlei ein, Gutes und Törichtes. Schowe lacht. ›Eigentlich hättest du Wally heiraten können.‹

›Wally?‹ denkt Uhlig, ›Wally? Sie wohnte nur eine Treppe höher. Wie einfach wäre das gewesen.‹ Und er denkt weiter: ›Sie kaufte immer Zuckerbonbons, ich habe stets reichlich gewogen.‹

Aber da ist Schowe schon nachdenklich geworden und sagt:

»Dann wohnte Wally jetzt nicht am Markt. Sie wäre sozusagen zu Hause geblieben.«

›Zu Hause‹, wiederholt Uhlig in Gedanken, und während er eine leere Tüte auf die Waage stellt und dann langsam und vorsichtig weißes Mehl hineingleiten läßt, sagt er aus einer versonnenen Nachdenklichkeit:

»Meine Mutter sagte immer: Nirgends schlagen die Uhren so wie zu Haus.«

Er sagt es, während die Schale unter dem vollen Mehl gemächlich sich lagert.


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