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Nun war es doch ein kalter, nasser Mai geworden. Die Möwen, die sonst früher ihre Reise zum Meer antraten, waren noch geblieben. Sie wußten wohl das Brot zu schätzen, das man ihnen hinwarf. Sie flogen noch über dem Wasser im Kolk, saßen noch auf der Brücke, glitten noch kreischend um die Kähne, die kamen und gingen.

»Die Möwen sind noch da«, sagte Anton Olkers verwundert.

»Sie wissen, daß es hier bald eine Hochzeit gibt«, lachte Schowe.

»Dann sollen sie auch ihren Kuchen haben«, sagte Barbe Wiel.

Um den zwanzigsten Mai herum war schon Pfingsten. Der Feldgarten hatte einen dünnen grünen Schmuck.

»Die Sonne fehlt«, meinte Schowe, »abwechselnd Sonne und Regen, dann sollt ihr mal sehen, Nicht wieder zu erkennen.«

Vorläufig also sah alles noch etwas spärlich aus. Aber es wurde Pfingsten. Ein Wagen mit Maien fuhr durch den Kolk, jeder stellte einen Birkenbusch vor die Türe. Barbe Wiel holte auch Kalmus. Sie wußte einen Tümpel hinter der Zuckerfabrik. Da gab es noch welchen.

»Als Kinder haben wir darauf geblasen«, entsann sich Schowe. Er versuchte es sogar, aber es gelang ihm nicht recht.

Es war also Pfingsten, und die Glocken läuteten bis zum Kolk herüber. Es begann damit, daß Anton Olkers vom Pfingstvogel erzählte. Er soll auch noch einen anderen Namen haben, aber den wußte Olkers nicht. In Bäumen und grünen Büschen singt der Pfingstvogel. Es ist ein lustiger Gesang, ein übermütiger Gesang, ein Gesang, der aus allen Baumwinkeln auf einen eindringt. Das Lied des Pfingstvogels ist wie ein fröhlicher Sonnenregen, der über alle Blätter perlt. Im Kolk gab es keine Bäume und grüne Büsche, so gab es auch keinen Pfingstvogel, aber als Olkers von ihm erzählte, kamen sie auf Tütchen zu sprechen.

»Wo mag er nur sein?« fragte Olkers.

Uhlig dachte: ›Tütchen, ja, wo mag er sein?‹

Vielleicht war dieser Vogel Tütchen, von dem man nicht wußte, zu welcher Art er gehörte, Tütchen, den Köppje eines Tages frohlockend nach Haus brachte, nur im Kolk aufgetaucht, damit Uhlig zu spät zu Tina käme. Er war mit Köppje hinter Tütchen hergelaufen, durch manche Straßen, an manchem Baum vorbei, und als es ihm dann einfiel, du wolltest doch zu Tina, war er erschrocken umgekehrt. Aber da war Stam Öffgen schon bei Tina. Bis in den Flur schallte seine laute Stimme. So war es doch wohl gewesen.

Nun sprach Anton Olkers vom Pfingstvogel und von Tütchen.

»Vielleicht ist er gar einer gewesen«, meinte Olkers, »denn ich kann auch nicht sagen, wie ein Pfingstvogel eigentlich aussieht. Man hört ihn bloß.«

Tina war traurig geworden. Sie dachte an Köppje, wie er sich damals freute, als er mit Tütchen ankam.

Olkers sagte noch: »Wißt ihr, wie wir den Vogel in der Küche hatten, auf dem Tisch im Bauer?«

Er sagt das so, als erinnerte er sich plötzlich an eine vergangene schöne Zeit, und doch hatte diese Zeit Tränen und Kummer gehabt, und eigentlich war es so, daß die Zeit nun besser war. Aber vergangene Tränen sind bald fortgeflossen, doch vergangenes Lachen hat noch lange ein Echo.

So kam es, daß Tina bald lachen mußte. Schowe mühte sich ab, auf dem unteren Ende des Kalmusblattes zu pfeifen, und Anton Olkers wollte vorführen, wie er einmal als Junge auf einer Weidenflöte geblasen hätte. Er hatte den Löffel an den Mund gesetzt und bewegte die Finger schwerfällig auf dem Stiel. Darüber lachten sie alle.

Barbe Wiel hatte viel Kuchen gebacken. In allen Stuben saß der süße Duft. Es war nicht bloß das Pfingstfest, es sollte ja auch eine Hochzeit gefeiert werden, und nicht allein das, es gehörte sich doch auch, daß man die Eröffnung des neuen Ladens festlich beging. Auf einmal schickt einem der Himmel ein Dutzend Feste.

Drei Tage vor Pfingsten hatte Uhlig den Laden in Schowes Haus aufgemacht. Das war ein fröhlicher Augenblick, als man wieder an der alten Stelle stand. Der ganze Tag war aus Erinnerungen aufgebaut. Es waren Erinnerungen, über die man ab und zu lächeln mußte. Wie komfortabel war jetzt alles gegen früher! Damals das kleine Kontor. Kontor? Ein Abschlag war es gewesen. Man hatte sein Pult hinter dünnen Brettern gehabt. Jetzt gab es eine ansehnliche Kontorstube mit einem Fenster nach dem Hof und einer festen Wand zum Laden hin. Und der Keller damals, lieber Gott, der kleine Keller. Man konnte sich kaum darin umdrehen, aber man muß doch sagen, daß alles gut darin untergebracht war.

Nun war ein geräumiger Keller da. Sogar Licht hatte Herr Schowe hineinlegen lassen. Man brauchte bloß zu knipsen.

»Das sieht hier anders aus«, hatte Brose gesagt, als er seinen Pfingsteinkauf machte. »Das wäre ja ein richtiges Stadtgeschäft.«

»Wir sind wieder ein Stück vorwärts gekommen«, lachte Uhlig.

In diesen drei Tagen vor dem Fest hatte man nicht Muße genug, sich über all dieses Neue zu freuen. Die Kunden kamen und gingen. Es schien, als wollte jeder zeigen, daß er Uhlig nicht vergessen hätte. Viele von ihnen waren schon in den kleinen Laden unter dem Torbogen gekommen, aber mancher hatte sich doch verleiten lassen, in Herrn Peines geräumigem Geschäft zu kaufen. Nun waren sie alle wieder da und taten so, als hätten sie bloß darauf gewartet, daß Uhlig wieder hinter dem großen Ladentisch stünde.

Tina half beim Verkauf. Man fand es gar nicht sonderbar. Die Leute im Kolk, am Ober- und Unterdamm wußten, daß Stam Öffgen davon war, und man konnte es der Frau nicht verdenken, wenn sie sich wieder nach einem Dach umsah und nach einem vollen Teller für ihr Kind.

Jetzt aber saß man bei Barbe Wiel, freute sich über das Erreichte, machte Pläne und hatte Hoffnungen.

Am Pfingstsonnabend war der Laden länger auf gewesen als sonst. Immer kam noch jemand, der dies oder das beim Einkauf vergessen hatte. Als Uhlig die Ladentüre abschloß, war er todmüde. So begann man das Pfingstfest damit, daß man ein Stündchen länger als sonst im Bett blieb. Uhlig lag behaglich in seiner Stube. Nebenan hörte er Gitti leise herumhuschen. Sie war in der Küche und bereitete wohl den Kaffee. Sie sorgte für ihn und achtete darauf, daß alles wie am Schnürchen ging. Uhlig konnte sich nicht darüber beklagen, daß irgend etwas in der Wohnung vernachlässigt würde.

Tina wohnte noch immer bei Barbe Wiel. Das hatte nun seine Schwierigkeit bekommen, denn bei aller Gutmütigkeit wünschte Anton Olkers, nun, wo Hochzeit gemacht werden sollte, zu Barbe Wiel herunterzuziehen. Er hatte ja nicht zuletzt seiner Bequemlichkeit wegen sich zur Heirat entschlossen. Da wollte er es also unten gemütlich haben. So mußte nun Tina unter das Dach ziehen.

Sie hätte es wohl schon übers Herz bekommen, in ihre alte Wohnung zurückzugehen, aber sie scheute sich davor, jetzt, da sie sich Uhlig gewissermaßen versprochen hatte. Auch wollte sie es des Gerichtes wegen nicht tun, denn die Scheidung war noch immer nicht ausgesprochen, und sie hoffte, daß Köppje ihr doch noch zugesprochen würde. Darum wollte sie alles vermeiden, was zu einer Rederei Anlaß hätte geben können. So sah sich Uhlig der Obhut der kleinen Gitti überlassen.

Manchmal, sonntags, brachte sie ihm den Becher mit Kaffee und ein Brot an das Bett. Sie setzte sich dann neben ihn und erzählte, wie sie den Tag einzuteilen beabsichtigte. Für diesen Pfingstsonntag hatte sie einen Wunsch. Sie wollte mit Uhlig spazieren gehen.

»Das machen wir«, sagte Uhlig, »in einem Stündchen bin ich soweit, dann holen wir deine Mutter ab und gehen über das Feld bis zum Schützenhaus.«

Gitti antwortete nicht darauf. Sie war eifersüchtig, weil ihre Mutter mitkommen sollte. Sie hatte sich darauf gefreut, allein neben Uhlig herzugehen, ihm Blumen zu bringen und sich kleine Spiele auszudenken, Haschen hinter dem Feldrain und Versteck hinter den Bäumen der Chaussee. Nun wußte sie, daß Uhlig mit der Mutter zusammen gehen würde, daß man kaum einen Blick für sie hätte, und daß es hieße, »lauf nur«, wenn sie mit einem kleinen spielerischen Einfall käme. Auf einmal war ihr dieser Spaziergang verdorben, auch daß man vor grüner Limonade im Schützenhaus sitzen werde. Als eine Stunde darauf Uhlig sich nach ihr umsah, war sie verschwunden. Sie war zu Daniel Timm herübergegangen, um sich aus den Lumpen brauchbare Flicken herauszusuchen.

Tina und Uhlig gingen über die Felder. Gegen Mittag war die Sonne durchgekommen, und es lag viel Glanz über dem Land.

Hier und da trug eine Lerche flatternd ihr Lied empor. Es gab auch einen Wiesenpieper, der vor einem herflog und sein bescheidenes Lied anbringen wollte. Auch ein paar Schwalben schossen über einen hin, streiften einem fast das Gesicht, schossen vorbei und zwitscherten. In dieser Stunde war überall Sonne und Singen. Den Feldrain entlang war die gelbe Sattheit des Löwenzahns gebreitet. Aberhundert gelbe Sonnenräder blühten da. Viele hatten auch schon ihre grauen Lichter. Überall am Wege sah man diese Federblumen, die auf einen guten Wind warteten, um ihre Lampe über das Land weg ausblasen zu lassen. Da waren auch die graugrünen Blätter des Frauenmantels, in deren jedes der frühe Morgen eine Tauperle tut. Tauschüssel sagen die Leute, und Tränenblatt.

»Das ist ein Pfingstfest heute«, sagt Uhlig, und damit umschreibt er das alles. Sonne und Erde, Vogel und Blume, Duft und Gesang.

»Wird dir der Weg nicht zu weit?« fragt er Tina besorgt.

»Nein«, sagt sie und lacht.

Sie sind schon über die Chaussee hinweg, durch den Staub der Wagen, die sich mit grünem Birkenlaub geschmückt haben, durch den Wirrwarr von Fahrrädern, durch das Lärmen der Menschen. Sie sind, über die Chaussee hinweg, in dem schmalen Feldweg, diesem versteckten fußbreiten Pfad, der sich in vielen Windungen hinzieht. Im Sommer, wenn das Korn mannshoch ist, haben die Liebespaare hier ihre Wandelzeit, aber jetzt reichen die Halme erst bis zum Knie, und es ist leicht, zu sehen, was die Münder tun.

Uhlig hat seinen Arm um Tina gelegt. Er hält auch ihre Hand. Sie sprechen nicht viel miteinander. Uhlig scheut sich auch, von der Zukunft zu reden, weil er weiß, daß man dann wieder auf die unglückliche Sache mit Stam Öffgen zu reden kommt. Das liegt wie ein Stein im Weg, über den man nicht weg kann. So sagt er nur kleine Zärtlichkeiten, nicht viel, denn er weiß nur wenige.

Uhlig ist zu lange am Schürzenband der Mutter gegangen. Als Junge war er selten von ihrer Seite gewichen. Wenn sie auf Schowes Acker arbeitete, hockte er gerne daneben, spielte wohl für sich, aber er blieb im Kreis ihrer Blicke und freute sich, wenn sie hin und wieder aufsehend seinen Namen rief, besorgt wie eine gute Henne.

Half sie auf der Zuckerfabrik, so waren das für den Jungen langsame Stunden. Eigentlich wartete er nur darauf, daß es Abend würde und sie neben ihm säße.

Als er dann konfirmiert war, wurde er bei einem Kolonialwarenhändler in die Lehre gegeben. Er hatte gebückt vor dem Pult zu sitzen oder im blauen Kittel hinter dem Ladentisch zu stehen. Abends nach Geschäftsschluß gab es noch vielerlei Arbeit. Er kam müde nach Haus und schlief oft über dem Abendbrot ein. Morgens mußte er früh wieder raus. Es war ein langer Tag.

Die beiden anderen Lehrlinge waren forsche Burschen. Ihre Väter hatten selbst Geschäfte in der Umgegend. Eines Tages würden diese jungen Menschen reiche Erbschaften antreten. Sie hatten damals schon die Tasche voll Geld.

Manchmal wollten sie Uhlig freihalten. Er sollte mitkommen auf den Tanzboden oder in ein Lokal, wo bunte Mädchen Bier ausschenkten. Uhlig fühlte selbst, wie dumm es war, immer nein zu sagen. Sie lachten über ihn, und er schlich sich davon wie ein verprügelter Hund.

Er hatte Kämpfe und Kümmernisse, von denen er nicht sprach. Auch nicht zu seiner Mutter.

Sie war eine gute Frau und glaubte, daß das Leben am Schnürchen geht, wenn man sich nur ordentlich führt. Es wäre für sie unfaßbar gewesen, wenn Atze Uhlig mit den beiden jungen Burschen ausgegangen wäre. So wenig lag das alles in ihrem Gedankengang, daß sie nie auf die Idee kam, es könnte diese oder jene kleine Verführung an Uhlig herantreten. Es war wohl Scham, daß er nicht zu seiner Mutter darüber sprach, wo er sonst doch mit allem vertrauensvoll zu ihr kam. Da gab es keinen Ärger, den sie nicht mit ihm teilte, keinen Verdruß, den sie nicht tröstend zu mildern suchte. Ja, sie teilte sogar die Müdigkeit mit ihm, und wenn ihm über seinem Teller die Augen zufielen, schloß auch sie ihre Augen, um ihn nicht zu stören.

Als er ihr eines Tages erzählte, wie gut es jene beiden Lehrlinge hätten, die einmal das väterliche Geschäft übernehmen würden, sah ihn die Mutter fast schuldbewußt an.

Sie erschrak darüber, daß sie ihrem Jungen kein Nest bereit hielt und daß früher oder später, aber doch bestimmt einmal der Tag kommen würde, da er aus dem Hause gehen müßte, um sich mit eigener Kraft eine Burg im Leben zu bauen.

Frau Uhlig hatte seit Jahren kleine Ersparnisse zurückgelegt, oft waren es nur Pfennigstücke gewesen. Das sollte für ihre alten Tage ein Notgroschen sein, falls die Krankheit an die Türe klopfte, und wenn der Himmel sie davor verschonen würde, sollte das Geld für den Tag bereit liegen, an dem man sie der Erde zurückgeben mußte.

Versteckt in ihrem Schrank hatte sie ein kleines Buch: Für Krankheit und Begräbnis. Darin trug sie jede Mark ein, die sie auf die Sparkasse brachte, öfter, wenn sie still für sich saß, war sie zufrieden in dem Gedanken, alles für ihr Ende geregelt zu haben.

Nun stellte auf einmal in den glatten Ablauf des Lebens der Sohn seine ungelöste Zukunft.

Wie lange noch, und er wird aus dem Hause gehen, sagte sich Frau Uhlig. Er muß sehen, daß er irgendwo eine Stellung bekommt, vielleicht gar in einer anderen Stadt. Da war dieser oder jener sogar in ein fremdes Land gegangen. Oft kommt ein Augenblick, wo sich Söhne nicht halten lassen. Menschen, die in der Jugend kaum bis drei zählen konnten, sind später über die Meere gefahren.

So sah Frau Uhlig schon die Stunde, die sie von ihrem Sohne trennen wollte.

Er hat recht, ich hab ihm kein Nest bereitet, dachte sie, aber was kann ich dafür? Sein Vater ist früh gestorben. Er war ein ordentlicher Mensch und hätte im Leben sicher noch manches vor sich gebracht. Es ist schwer für eine Frau, wenn sie alleinsteht und immer nur eine Scheibe im Brotkasten liegen hat.

Frau Uhlig suchte die Gedanken ihres Sohnes zu erforschen. Vielleicht hatte er sich schon einen Plan gemacht, Zukünftiges überlegt und einen Entschluß parat. Sie fragte vorsichtig. Man saß beim Essen, und sie fragte so nebenbei. Doch Atze Uhlig sah die Mutter verwundert an.

Er war damals zwei Jahre in der Lehre, und ein drittes lag noch vor ihm. Was danach für ihn kommen würde, hatte er noch nicht erwogen. Nun ja, es wäre wohl schön, wenn man wie die anderen einen Vater hätte, der sein gutes Geschäft besaß. Da konnte man ohne Umstände im Hause bleiben. Eines Tages ging der Sohn statt des Vaters in den Laden, so einfach war das alles.

So kam es denn, daß Frau Uhlig mit Schowe sprach.

Damals wurde der Neubau geplant, und es war tatsächlich kein schlechter Gedanke, einen Laden mit einbauen zu lassen. Frau Uhlig war auch später sehr glücklich darüber, denn sie brauchte nun nicht mehr außerhalb des Hauses dem Erwerb nachzugehen. Sie hatte in dem Laden zu tun und verkaufte gewissenhaft darin, bis der Sohn seine Lehrzeit beendet hatte und eines Tages an ihre Stelle trat.

Anfangs war es der bescheidenste Laden gewesen, den man sich vorstellen konnte. Was war schon darin? Ein paar Diebe hätten es in Rucksäcken wegtragen können. Aber später konnte der Sohn seine Kenntnisse dazutun, brachte seinen Fleiß und seine Ausdauer mit, und es kam dann die Zeit, da man sich mit dem Laden nicht mehr zu verstecken brauchte.

Allerdings gab es in Frau Uhligs Schrank nun kein Buch mehr, darin vorsorglich Ersparnisse für Alter und Tod eingetragen waren. Das alles war nun durchstrichen, denn der Laden, so klein er war, hatte ein gefräßiges Maul, darin man einen Taler nach dem andern verschluckt sah. Aber dem allen weinte Frau Uhlig keine Träne nach. Sie war froh, ihrem Sohne eine Heimstatt geordnet zu haben, und sie war noch froher, diesen Sohn nun bis an ihr Lebensende um sich zu sehen.

Sie dachte wohl oft daran, daß die Zeit nicht ausbleiben würde, da es gut wäre, ihm eine Frau zu besorgen.

Es würde ihr undenkbar gewesen sein, wenn der Sohn darin irgendeinen eigenmächtigen Wunsch gehabt hätte. So wie sie hinging und ihm dieses oder jenes kaufte, wie sie den Stoff prüfte, aus dem seine Anzüge geschneidert wurden, und das Leinen für seine Hemden, so gedachte sie auch die Wahl für sein Herz zu treffen. Doch war es dabei gut, noch zu warten.

Damals war Uhlig in den Zwanzigern. Für einen, der nicht viel mehr als zwei Dutzend Lebensjahre hinter sieh hat, kann eine Frau oft ein wildes Pferd sein. Das galoppiert hierhin und dorthin und bringt vielerlei Verwirrung. Da muß eine Hand schon älter sein und der Kopf klarer, um es zu zügeln.

Wenn das dritte Dutzend Jahre da ist, wäre es wohl soweit, dachte Frau Uhlig. Dann ist man auch über die Anfangsjahre mit dem Laden hinaus, hat erkannt, wie alles gelaufen ist, und weiß daraus, wie es weiter laufen wird. Ein achtbarer Mann mit einem soliden Geschäft findet überall Aufnahme.

So stellte Frau Uhlig alle Heiratspläne für ihren Sohn vorläufig zurück.

Er selbst fühlte sich wohl im Hause, ließ sich von der Mutter verwöhnen und würde erstaunt gewesen sein, wenn man ihm von einer Heirat gesprochen hätte. Er hatte vollauf mit seinem Geschäft zu tun, lebte das kleine Leben im Kolk und trug kein Verlangen, darüber hinauszugehen.

Frau Uhlig starb, ehe der Sohn das dritte Dutzend Jahre hinter sich hatte.

Sie war erschrocken, als sie den Tod fühlte, nicht um ihretwillen, sondern des Sohnes wegen, der nun auf einmal allein im Leben stehen sollte.

Sie ließ Barbe Wiel zu sich rufen, und ihre letzten Worte waren an diese Freundin gerichtet. So hastig war sie bei diesen letzten Anordnungen, daß sie den Sohn nicht beachtete, der betroffen an der Tür stand. Alles, was sie noch mühsam vorbrachte, war zu seinem Besten gedacht, und vor lauter Fürsorge um den Sohn vergaß sie einen letzten Blick auf ihn.

An ihre Stelle war Barbe Wiel getreten. Unmerklich glitt Uhlig von der einen Schürze an die andere. So war er nie dazu gekommen, einem Mädchen von Liebe zu sprechen.

Jahre sind seit dem Tod der Mutter vergangen.

Mit keinem Gedanken hat er sich außerhalb der Bahn bewegt, in der sie selber gedacht hatte. Aber auf einmal bekommt einen das Leben zu fassen, und ehe man es sich versieht, wird man ein paarmal herumgewirbelt.

Ganz harmlos fängt es an. Damit, daß ein Mensch kommt, den man von früher her kennt und sich Geld borgt. Plötzlich sitzt man am andern Tisch zwischen andern vier Wänden.

Doch auch dabei bleibt es noch nicht. Die Menschen kommen und werfen einen mit einer Frau zusammen, ob man will oder nicht, auf einmal steht man in einem fremden Leben. Verwirrt zuerst, vielleicht sogar widerwillig. Und auf einmal öffnen sich einem die Augen, und das Herz öffnet sich und es blüht ein ganzes Blumenmeer voll Süße.

Auf einmal sagt man: Tina – und meint sein eigenes Leben.

Man ist ungeschickt für derlei seliges Aufatmen, und man sagt nichts weiter als diesen Namen wieder und wieder. Man sagt den Namen in froher Zuversicht, denn man hat was zuwege gebracht und das Leben ist gesichert, wenigstens soweit man es überrechnen kann.

Man sagt Tina und hofft, daß der Nachen, in den man nun zu zweit steigen will, eine ruhige Fahrt haben wird.

Es ist Pfingsten und viele Lerchen singen schon in der Luft. Ein großer steigender Jubelsang ist unter dem Himmel. Da können die Ohren sich satt trinken. Auch für die Augen ist der Tisch gedeckt. Schon solch ein Strauch am Wege in seiner Vielfalt der Äste, dieser knorrigen, knorpligen oder zarten, hingreifenden Zweige, deren oberste zärtlich ein Sonnengewebe spinnen über dem moosigen Strunk. Und dann dieses Wunder: aus verwittertem Weidenstamm wächst eine junge Eberesche, schlank, eine schwingende Blättergerte.

Es ist ein seliges Wandern zu Pfingsten.

Tina hat weiche helle Hände. Die roten Flecke, die sie früher vom Waschen trugen, sind verschwunden. Die schweren Füße sind auch wieder leicht geworden. Das wird nun alles vorbei sein, dieses müde Stehen vor Waschtrögen, dieses Scheuern und Seifen in fremden Häusern. ›Das Leben ist doch gut‹, denkt Tina und schmiegt sich enger an Uhlig. Sie hat viel Liebe verloren in all der Zeit. Sie ist dabei, diese verlorene wieder einzusammeln. Sie hofft, daß Uhlig alle Hände voll davon trägt.

Es ist eine große Zärtlichkeit in ihm. Wenn man das Innigste sagen will, was das Herz erlaubt, geht man oft zurück zu dem, was einem das Liebste war. So spricht Uhlig von seiner Mutter. Er sagt zu Tina: »Du bist auch so gut«, und sie freut sich darüber. Es ist lange her, daß jemand ihr ein gutes Wort gesagt hat.

»Du hättest sie kennen sollen«, sagt Uhlig, und er spricht nun bloß noch von seiner Mutter.

»Ja«, sagt Tina manchmal und geht an seinem Arm.

Im Schützenhaus war lustige Musik, aber sie sind nicht hineingegangen.

»Ich habe lange keine Musik gehört«, hatte Tina gesagt.

»Es ist bloß Tanz«, antwortete Uhlig.

Tina erwiderte nichts, und sie gingen weiter. Sie saßen dann in einem Kaffeegarten zwischen vielen Menschen. Ein Gewirr von Stimmen war um sie. Tina war befangen, sie war lange nicht unter soviel Menschen gewesen. Aber Uhlig bestellte schon mit froher Stimme. Tina lächelte, als der Kellner das Malzbier brachte.

»Du trinkst es doch gern«, sagte Uhlig, »ich habe es nicht vergessen.«

Oh, nun war eine kleine liebe Glücklichkeit da. Man saß wie in einer Laube darin.

»Es ist ein schöner Tag«, sagte Uhlig.

Am Himmel ging schon der Abend auf, als sie sich auf den Heimweg machten. Sie gingen langsam und wählten noch manchen Umweg. Es war so, als wären viele Jahre weggestrichen, und ein junger schöner Tag säße zwischen den Hecken, etwas verlegen und verschämt, mit einem lachenden Grübchen im Kinn und mit heimlichen Lockrufen auf den Lippen.

Man geht über holprige Wege und weiß es nicht. Man geht in einem zärtlichen Licht, und jeder Schritt will sich wiegen.

Was kann man über Liebe sagen. Da sind Menschen, zu denen sie strahlend kommt, ein Sonnenwagen aus den geöffneten Pforten des Himmels. Verschwenderisch gekleidet ist sie in Prunk und Pracht. In blitzenden Fahrzeugen jagt sie durchs Land, fühlt sich wohlig auf breiten Hotelterrassen, lehnt am Bord weißer Dampfer, fährt durch grüne Täler und über blaue Meere. Alles Gold der Welt scheint für sie gemünzt, alle Dinge der Erde sind ihr Untertan.

Dann sind Menschen, denen sie bescheidener begegnet, bescheidener wohl, aber auch inniger. Sie läßt es sich genügen mit einem Garten voll Blumen, mit einem Boot auf blankem Kanal, mit einer glückhaften Wanderung.

Manchmal aber ist es nur ein Feldweg. Ein schmaler, hier und da aufgerissener Weg, an dem zuweilen ein paar Knüppelweiden stehen, derber Bärenklau und hinflatternder Mohn. Ja, manchmal ist es nur ein Feldweg. Aber die Liebe findet ihn. Sie geht barfuß durchs Land, barhäuptig, und mit langsam suchendem Schritt. Man könnte denken, welche liebe müde Gestalt kommt dort? Ach ja, sie ist müde, denn es waren lange keine Schultern da, die sie tragen wollten.

Aber nun auf einmal kommen ihr da zwei Menschen entgegen, zwei bescheidene Kinder Gottes, die nicht viel vom Leben gehabt haben. Sie kennen keine Stunde eines großen glücklichen Aufbruchs. Sie gehen durch den Tag, der ihnen vom Schicksal vorgeschrieben ist, selbstverständlich und ohne Gebärde. Sie haben eine kleine Zuversicht im Herzen, und was sie wünschen, geht nicht über ein allgemeines Maß hinaus. Sie wollen wohl nichts weiter, als daß das Leben ein bißchen gut zu ihnen ist. Sie sind für ein paar Stunden aus ihrer Arbeit herausgetreten, sie haben gesagt, die Sonne scheint, wir wollen ein Stück spazierengehen, es ist ein schöner Tag, es ist ja auch Pfingsten. Sie haben für billiges Geld in einem großen Kaffeegarten gesessen und sind nun auf dem Heimweg. Sie gehen den schmalen Feldweg entlang, halten sich umschlungen und sagen nur wenige Worte.

Da, wo ein paar flammende Mohnbecher glühen, sind sie stehengeblieben. Sie stehen aneinandergelehnt und schauen sich um. Es war ihnen, als käme ein leiser Schritt den Weg entlang. Es ist nur ein ganz leiser Schritt gewesen, nicht vernehmbarer als ein Herzschlag. Aber sie haben ihn beide zu gleicher Zeit gehört. Nun wenden sie sich verwundert um, wer da wohl kommen könnte. Es sind grüne Felder um sie, man sieht etwas entfernt die Baumreihe der Landstraße, dann ist noch ein Hügel da, auf dem ein einzelner Baum steht und der nun bald die versinkende Sonne zu tragen haben wird. Es sind auch viele Bewegungen auf der Chaussee, Fußgänger und Fahrzeuge, doch alles schon Heimkehrende.

Die beiden Menschen sehen das alles. Aber sie sehen nicht, von wannen jener leise Schritt kam, den sie suchen.

Es ist doch hinter uns ein heimlicher Klang gewesen. Du hast ihn gehört, und ich habe ihn vernommen. Nein, wir haben uns nicht getäuscht.

Sie neigen die Köpfe zueinander, und in diesem Augenblicke hören sie jenen heimlichen Klang in der Brust des andern. Da neigen sie sich noch enger, und neben ihnen, unsichtbar, lächelt die liebe, etwas müde Gestalt sie an.

Als Tina und Uhlig zurück in den Kolk kommen, sehen sie eine Aufregung vor dem Hause des Daniel Timm.

Den Nachmittag über hatte Gitti in der Niederlage gesessen, Flicken und bunte Lappen ausgewählt. Sie wußte noch nicht, wozu sie zu gebrauchen wären, aber sie hatte zu Hause schon einen Kasten voll und sie glaubte, daß sie eines Tages auch für diese Zeugreste Verwendung haben könnte.

Daniel Timm saß auf seiner Bettstatt und las. Gitti verhielt sich still, um ihn nicht zu stören.

Später war dann der Geigenbauer gekommen. Die beiden Männer lasen zusammen aus dem Buch, sprachen darüber und ereiferten sich. Gitti verstand nicht, um was es sich handelte, aber sie ahnte, daß es ein frommes Gespräch wäre, denn sie hörte öfter den Namen Gottes.

Vielleicht wollte der Geigenbauer nicht glauben, was Daniel Timm sagte. Das mochte schon sein. Gitti kannte ihn noch zu wenig, eigentlich wußte sie nur, daß er verstand, auf der Geige zu spielen, aber selbst wenn man mit der Geige gut umzugehen weiß, so darf man doch nicht Daniel Timm widersprechen.

Gitti hatte eine große Hochachtung vor ihm. Zwar berührten seine Worte sie niemals. Sie hat anderes zu denken.

Sie ist elf Jahre alt und muß die Stuben reine halten, Essen kochen, lernen und nähen. Ein ganzer Haushalt hängt ihr an, denn Herr Uhlig soll sich über nichts zu beklagen haben.

So kann sie nicht allzuoft auf Daniel Timms Erzählungen hören, auch kaum darüber nachdenken, weil sich immer die täglichen Gedanken dazwischendrängen. Aber sie ist davon überzeugt, daß Daniel Timm in allem recht haben wird. Warum widerspricht ihm also der Geigenbauer?

Gitti hat die bunten Lappen und Flicken beiseite getan und gibt sich Mühe, zuzuhören.

Dieser Geigenbauer Sebastian Schur glaubt also auch an den lieben Gott. Aber warum zankt er dann mit dem Lumpenhändler Daniel Timm?

Das begreift Gitti nicht.

Wenn es einen lieben Gott gibt, kann es doch nur einen geben, und es ist gleichgültig, welches Kleid er anhaben wird. Er kann auch nur einerlei Gedanken haben. Es müssen auch gute Gedanken sein, weil man die Hände vor ihm faltet und Vater zu ihm sagt. Das ist doch alles ganz einfach, denkt Gitti. Warum also streiten sie miteinander?

Sie hörte nun, daß die beiden Männer vom armen Menschen sprachen. Der Geigenbauer sagte: »Der Arme verliert auch noch das Brot aus der Tasche.« Daniel Timm lächelte. »Darum wird er keinen Schaden leiden. Gott wird das Brot sammeln und ihm am Jüngsten Tage eine tausendfältige Ernte geben.« Daniel Timm sagte auch: »Einmal wird Gott diese Erde segnen. Dann soll sie den Armen und Elenden gehören. Von Menschen erniedrigt, aber von Gott erhöht, so steht es geschrieben. Der Name des Herrn ist ein festes Schloß. Es ist gut, im Schutz seiner Mauern zu leben.«

Der Geigenbauer lachte ein wenig. »So wäre ja die Welt in Ordnung.«

Daniel Timm ereiferte sich: »Leben heißt nicht Ruhen, leben heißt Brennen. Gott hat die Törichten verworfen, weil sie kein Licht auf ihren Lampen hatten. Wir sind die Fackeln Gottes, wir flackern und lohen, denn die Liebe Christi dringet uns also.«

Daniel Timm hält die Hände über die Stirne gekreuzt, so, als müßte er den Brand zurückhalten, der hinter den Schläfen aufzuckt.

Zu allen Zeiten haben Menschen so gestanden, Gläubige und Propheten, Apostel und Märtyrer. Gelehrte sind sie gewesen und Ungelehrte. Sie haben ihre reiche Welt im Stich gelassen, oder sie waren heraufgestiegen aus einer kleinselig schmutzigen. Nun standen sie vor Gott, die Hände gekreuzt über der Stirne.

Sie können nicht sagen, ob das, was sie den Menschen gebracht haben, Segen war oder Unsegen. Wenn man das Leid ansieht, das um ihre Lehren über die Welt kam, so müßte man glauben, daß Gott sie nicht gesegnet hätte. Aber sie wußten, daß ihnen die himmlische Krone gereicht war, daß Leid nichts anderes ist als Läuterung und der Tod nichts anderes als eine neue Geburt.

War es vermessen, wenn der Lumpenhändler Timm wagte, an ihre Gewänder zu rühren? Wenn er jetzt aus ärmlichem Torbogen sagte: »Sehet, da bin ich, ein Licht angezündet zur Ehre Gottes, nicht anders als ihr.«

Wie kam es nun, daß der Lumpenhändler Timm unter den gekreuzten Händen plötzlich aufschluchzte? Er nahm die Hände langsam von der Stirne und hielt sie vor sich hin wie Schalen. Da brannten keine Narben darin und keine Blutstropfen stiegen auf aus Nägelwunden. Es waren zwei graue verarbeitete Hände, in den Rissen und Falten die Unsauberkeiten des Gewerbes. Sahen so Hände aus, die einst die heilige Schale trugen, den Gral und die geweihten Leuchter? Eine Sekunde lang schluchzte Daniel Timm über diesen Kleinmut. Dann ließ er die Hände sinken und sagte: »Der Herr nahm Petrus von seiner Arbeit weg und hieß ihn mitkommen.«

Gitti sah die beiden Männer groß an. Da legte Daniel Timm ihr die Hand aufs Haar, gab ihr ein Buch und sagte: »Lies uns das vor, Gitti, denn durch die Münder der Unmündigen soll es offenbar werden.«

Gittis Stimme zitterte etwas, als sie es las. Sie wollte jedes Wort schön und mit Betonung sagen, wie sie es in der Schule zu tun pflegte, aber dieses Mal wollte es ihr gar nicht so gut gelingen. Sie fühlte selbst, wie sie bei den Worten stammelte.

Daniel Timm nickte ihr freundlich zu und sagte:

»Nur den Engeln ist es gegeben, Gottes Worte ohne Zittern zu tragen.«

Gitti aber las:

»Und als der Tag der Pfingsten erfüllet war, waren sie alle einmütig beieinander. Und es geschahe schnell ein Brausen vom Himmel als eines gewaltigen Windes, und erfüllete das ganze Haus, da sie saßen.«

Und sie las von der Ausgießung des Heiligen Geistes, wie sich die Zungen der Jünger zerteilt und in Feuer gestanden hätten und wie sie alle in vielen Sprachen durcheinander redeten, bis sie sich selbst darüber entsetzten und fragten: Was will das werden? Die anderen aber, die nicht zu ihnen gehörten, hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weines.

Als Gitti so weit gelesen hatte, nahm Daniel Timm ihr das Buch aus der Hand, schloß es und sprach weiter:

»Das sei euch kundgetan, und lasset meine Worte zu euren Ohren eingehen. Denn diese sind nicht trunken, wie ihr meinet, sondern das ist es, das durch den Propheten zuvor gesaget ist: Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Ältesten sollen Träume haben.«

Daniel Timm hielt das geschlossene Buch hoch, so als wollte er einen Stern in seine Stube stellen.

Gitti blickte ihn unverwandt an. Seine Augen glühten und seine Lippen bebten, während er sprach. Es war auch so, daß sein Gesicht zuckte.

Der Geigenbauer hielt den Kopf gestützt und sah zwischen den Knien auf den grauen Boden.

Gitti begann sich zu fürchten. Warum sieht der Geigenbauer nicht einmal auf und in Daniel Timms Gesicht? Er würde sehen, wie es darin glühte und zuckte, und er würde wohl wissen, wie man das abstellen könnte. Doch er saß da in tiefem Nachdenken und bewegte sich kaum.

»Über die Erde wird Gottes Feuer fahren«, rief Daniel Timm, »es wird verbrennen und segnen. Wie das Feuer das Stroh frißt, aber den Docht der bereiten Lampe lieblich erstrahlen läßt, so werden die Feuer Gottes uns anfassen.«

Daniel Timm warf sich plötzlich auf die Knie und betete. Er betete hastig und mit einer fliegenden Inbrunst, als könnte er mit seinem Gebet bis zu Gottes Ankunft nicht fertig sein.

Der Geigenbauer stand auf und ging hinaus. Er ging sehr leise, um den Betenden nicht zu stören. Gitti sah ihn in Gedanken über den Hof gehen.

Nun war sie allein mit Daniel Timm, dessen Worte unaufhörlich hervordrängten, unaufhaltsam wie Blut.

Gitti hatte nicht gewagt, sich von dem Sitz zu erheben, auf dem sie kauerte. Jetzt aber, als Timm den Kopf mehrmals bis tief zur Erde neigte, als wollte er einen Vorüberwandelnden grüßen, sprang sie erschrocken auf, drückte sich scheu an ihm vorbei und stürzte aus der Türe.

Sie kam zu Barbe Wiel gelaufen. Man wurde nicht klug aus ihren Worten, aber man merkte, daß mit dem Lumpenhändler etwas geschehen sein müßte.

Barbe Wiel lief vom Tisch weg zu ihm. Olkers folgte, so schnell es das lahme Bein zuließ. Auch Schowe ging mit. Gitti aber setzte sich, noch immer furchtsam, in den Lehnstuhl am Fenster.

Ein paar Frauen, die im Kolk standen, sahen die Hast der Vorübereilenden. So gingen sie mit.

Im Torbogen, unschlüssig, stand der Geigenbauer. Barbe Wiel fragte ihn, doch er konnte auch nichts weiter sagen, als daß der Lumpenhändler betete.

Sie gingen dann alle langsamer und mit Beklemmung zu ihm hinein.

Mittlerweile wollte es Abend werden und in dem Raume herrschte schon eine Dämmerung. Aber sie sahen doch deutlich den Lumpenhändler, und wie er da auf den Knien lag, die Hände gefaltet und die Stirne auf der grauen Diele.

Sie standen betroffen um ihn herum und wagten nicht, ihn anzurühren. Sie bekamen auch kein Wort heraus, es war, als wären ihnen die Kehlen zugeschnürt.

Sie standen also da und rührten sich nicht.

Als Daniel Timm sein Gebet beendet hatte, erhob er sich und zündete ein Licht an, das von der Decke herabhing. Sie achteten auf jede seiner Hantierungen und betrachteten auch lange das Licht. Sie hatten es vorher nicht gesehen. Es hing in einem dünnen Drahtstern an drei Schnüren von der Decke herab. Es war ein dickes, gelbes Licht und noch ungebraucht. Nun aber brannte es, zuerst flackernd und ungeschickt, wie es neue Lichter zu tun pflegen, dann aber klar und mit ruhigem Glanz.

Während dieser ganzen Zeit bewegten sich Daniel Timms Lippen, aber sie vernahmen kein Wort. Er beachtete sie auch nicht und tat so, als wären sie gar nicht da, vielleicht hatte er sie auch gar nicht gesehen.

Also nicht für sie war das Licht von ihm angezündet worden. Aber nun, da es vor ihnen brannte, hatten sie für einen Augenblick doch eine Freude an dem Glanz. Dann aber gingen ihre Blicke wieder zu Daniel Timm, der nun unter dem Licht stand, die Arme ausgebreitet und wie in großer Verzückung. Seine Lippen bewegten sich nicht mehr. Er hatte den Mund etwas geöffnet, wie Menschen es tun, die angestrengt lauschen.

Die andern sahen sich an und wußten nicht, was sie tun sollten.

»Ich will ihn ansprechen«, sagte Olkers leise zu Barbe Wiel, »er muß zu sich kommen.«

Aber sie gab ihm ärgerlich einen Stoß, und so schwieg Anton Olkers wieder.

Sie hörten jetzt, daß Daniel Timm ganz deutlich sagte:

»Gottes Geigen singen noch immer!«

Das war ein schönes Wort und Barbe Wiel mußte sich schneuzen. Sie tat es leise, um nicht zu stören.

Auf einmal aber erschraken sie, denn Daniel Timm sang jetzt mit lauter Stimme. Er sang so laut, wie sie es nie geglaubt hätten. Er hatte sonst eine stille, manchmal sogar etwas leidende Stimme. Aber jetzt war es eine gewaltige geworden.

›Wie eine Trompete, so laut‹, dachte Olkers.

Was ist das für eine Stimme? Diese Stimme kommt aus tausend Lungen.

Daniel Timm singt: »Komm, komm, o Himmelstaube! Komm, komm, o werter Geist! Komm, komm, dieweil mein Glaube dich schon willkommen heißt.«

Es ist ein Gesang wie Posaunen, wann der König einziehen will. Von allen Mauern soll es dröhnen und von allen Türmen soll es rufen. Deine heilige Stadt steht bereit. Die Torflügel sind geöffnet. Wir haben Palmen über die Straßen gestreut. An den Wegen stehen wir und warten auf dich, wir Menschen aus der heiligen Stadt der Armut. Das wenige, das das Leben uns schenkte, wollen wir vor dir ausbreiten. Komm, komm, o Himmelstaube! Komm, komm, o werter Geist.

Wir sind abtrünnig gewesen und andere Wege gewandelt, wir haben dir den Rücken gekehrt, oftmals und vielfach Tag für Tag. Aber du hast neben unserer Armut gestanden, mildtätig und voller Gnade. Davon aber wollten wir nichts wissen. Vielleicht auch konnten dich unsere Augen nicht sehen, weil all die Armut dazwischen stand, und vielleicht konnten dich unsere Herzen nicht hören, weil viel Stöhnen war und vielerlei Geschrei. Aber nun wissen wir, daß du da warst und daß du um uns bist alle Zeit.

Und Daniel Timm singt:

»Im ärgsten Ungewitter guckst du schon durchs Gegitter hart hinter meiner Wand.«

Was geschieht nun? Daniel Timm wendet sich um. Er muß uns jetzt sehen. Aber nein, er sieht uns nicht, er ist an uns vorbeigegangen. Er ist durch uns hindurchgegangen. Wir sind beiseite getreten, als hätte er es befohlen. Nun geht er schon singend über den Hof. Nun steht er in dem Torbogen. Er steht auf der Straße. Vielleicht können wir jetzt mit ihm reden. Sein Gesang ist beendet. Doch da sind schon zwei, die ihn ansprechen wollen. Uhlig und Tina. Es ist eine Aufregung im Kolk. Da stehen Menschen und abseits von ihnen Daniel Timm. Was mag sein, wir wollen ihn fragen.

Er sieht unseren Gruß nicht. Wir bekommen auch keine Antwort. Er steht da und blickt zum Himmel empor. Was ist das? Ein weißer Vogel schwebt da, eine Möwe.

Es ist ein langes Gleiten. Die Möwen sind in diesem Jahre länger geblieben. Es war ein kalter und feuchter Mai. Sonst waren sie schon längst zu Pfingsten fort, aber dieses Mal sind sie noch in dem Kolk geblieben. Es ist schön, daß sie noch da sind. Sie wohnen hier und gehen nur über Sommer auf Reisen.

Eine Möwe also, denken sie alle.

Warum aber breitet Daniel Timm ihr die Arme entgegen? Es ist eine Möwe!

»Komm, komm, o Himmelstaube«, singt Daniel Timm.

Einige starren auf seinen Mund. Andere reden miteinander.

Nun ist die weiße Möwe verschwunden.

»Komm, komm, o Himmelstaube«, singt Daniel Timm noch immer.

Es ist doch wohl eine Möwe gewesen, nicht wahr? Das war doch bloß eine Möwe! Aber sie war lautlos dahingeglitten, weiß und lautlos. Es war doch wohl eine Möwe? Sie ist sehr hoch vom Himmel gekommen. Sie kam aus dem Abend. Aber wo ist sie nun geblieben? Sonst sitzen sie auf dem Brückenholz oder auf den Pflöcken im Wasser. Es sitzt aber keine Möwe da. Es war doch wohl eine Möwe?

Was geschieht nun? Daniel Timm geht davon. Er geht mit großen leichten Schritten.

Wo willst du hin, Daniel Timm?

Er hört nicht, er wendet sich nicht um. Er geht barhäuptig und mit offenem Hemd, so wie er nachmittags in der Stube saß.

Die Leute aus dem Kolk gehen ihm nach. Zuerst alle, dann bleiben welche zurück und lachen. Was für ein Unsinn? Da geht Daniel Timm und wir laufen ihm nach. Warum soll Daniel Timm nicht über die Straße gehen? Das hat er schon tausendmal getan, und wir haben nichts dabei gefunden. Auf einmal laufen wir ihm hinterher. So närrisch sind die Menschen.

Auch andere kehren um, lachen oder reden ernst miteinander. Schließlich ist nur noch Barbe Wiel an seiner Seite. Anton Olkers ist ärgerlich darüber. ›Was läuft sie da noch mit, es ist doch gar nichts, sagen die anderen.‹ Aber er humpelt weiter, bleibt mal stehen und setzt sich wieder in Bewegung, immer so, daß er die beiden noch im Auge hat.

Barbe Wiel geht neben Daniel Timm. Sie hat ein neues graues Kleid an, das wird sie auch zum Standesamt tragen. Sie schnauft schon beim Gehen, denn Daniel Timm schreitet weit aus. Sie merkt, daß sie nicht lange mehr wird Schritt halten können. Bis jetzt hat sie nichts gesagt. Sie ist eigentlich bloß ängstlich nebenher gelaufen. Sie ist eine gute Frau und möchte gern allen helfen. ›Er hat einen Anfall bekommen‹, denkt sie. ›Es ist nicht gut, wenn man solche Zufälle kriegt. Dann sind die klaren Gedanken weg und man weiß nicht, was geschieht. Nun, er wird sich schon beruhigen und wieder zu sich kommen. Dann will ich ihn mit nach Hause nehmen, und er soll einen starken Kaffee haben. Das ist das beste. Und dann schlafen. Er muß sich einmal tüchtig ausschlafen. Die ganze Nacht soll er oft über Büchern sitzen. Das hält auch der gelehrteste Kopf nicht aus.‹

Barbe Wiel hat jetzt ein paarmal seinen Namen gerufen. Zuerst leise, damit die vorübergehenden Menschen nicht stutzig werden. Als er jedoch nicht hörte, rief sie ihn lauter. Doch auch das hörte er nicht.

›Ich kann doch nicht auf der Straße schreien‹, denkt Barbe Wiel, und sie will ihn resolut am Arm packen. Aber was ist das? Sie greift vorbei. Man konnte ihn nicht halten.

Nun bleibt auch Barbe Wiel zurück. Sie denkt noch: ›Lieber Gott, hilf ihm‹, und sie denkt mit einem kleinen Lächeln: ›Es wird nicht so schlimm sein. Was ängstigst du dich überhaupt.‹

Sie ist stehengeblieben und sieht ihm nach, und plötzlich ruft sie ganz laut seinen Namen: »Timm!« ruft sie, und »Daniel!«

Er hört es nicht. Barbe Wiel steht erschrocken über ihren Ruf da. Nun ist Anton Olkers neben ihr, schüttelt den Kopf und holt sie nach Haus.

Diesen Abend saßen sie aufgescheucht um den Tisch. Barbe Wiel sagte oft, wenn sie an Daniel Timm dachte: »Ach, du lieber Gott.«

Anton Olkers erzählte langatmig eine Geschichte von einer Frau, die es einmal am hellichten Tage gepackt hätte. Da wäre sie, wie sie ging und stand, vom Herd weg auf die Straße gelaufen, hätte gelacht und geschrien, geflucht und gebetet. Sie hätte auch gesungen und dabei getanzt. Anton Olkers behauptete, daß er das beschwören könnte. Er wäre damals zwar noch ein Junge gewesen, aber er hätte nahe dabei gestanden.

»Sie hatte das Religiöse«, setzte er hinzu.

Schowe äußerte sich zu all diesen Reden nicht. Er saß am Tisch, das Gesicht in dummer Verwunderung.

»Davon verstehe ich nichts«, gab er zu. Aber es war doch unterhaltsam, einmal anderes erlebt zu haben und von anderen Dinge zu hören als von den alltäglichen.

»Was es so alles gibt«, staunte er, »man kann froh sein, wenn bei einem alles glatt ist.«

Tina und Uhlig saßen still nebeneinander. Es hatten Vögel am Tage gesungen, Falter waren geflogen und die Blumen standen weiß und gelb an den Rainen. Dann war das alles erschrocken davon. Sie hatten ängstlich neben dem verzückten Manne im Torbogen gestanden, jäh herausgeworfen aus einer bescheiden zärtlichen Stunde. Nun, in Barbe Wiels Stube, fanden sie langsam zurück. Es gingen seltsame Gespräche an ihrem Ohr vorbei, Barbe Wiels kleine, furchtsame Ausrufe, Anton Olkers' humpelnder Bericht und Schowes Kopfschütteln. Das alles glitt an ihnen vorbei, doch sie selbst saßen versteckt in Besinnlichkeit und im weichen Gedenken an ihre Nachmittagsstunden. Es hatten Vögel gesungen, Falter waren geflogen und die Blumen standen an den Rainen.

Es war spät geworden, und Daniel Timm war noch nicht zurück. Sie hatten ein paarmal Gitti hinüber geschickt, daß sie nachsehen möchte. Sie ging ungern und ängstigte sich noch immer. Sie war wiedergekommen, ohne Timm zu Hause gefunden zu haben. Später hatte Olkers nach ihm ausgesehen und dann auch Schowe einmal.

Nun kamen die Nacht und die Sterne, und er war nicht zurück.

Am zweiten Pfingsttage hatte sich die Angst um ihn etwas gelegt. Man fühlte, daß nichts Sonderliches geschehen sein könnte. Uhlig hatte gesagt: »Ich weiß, daß er schon einmal davongelaufen ist und alles im Stich gelassen hat. Viel mehr als jetzt. Damals ist er reich gewesen und doch hat ihn das alles nicht halten können.«

Barbe Wiel sagte: »Er wird seine Berufung gehabt haben. Davon hat er ja öfter gesprochen.«

Schowe kam vom Gasthof zurück, aber dort hatte man nichts gehört. Der Wirt wußte nicht einmal, daß Daniel Timm weg war. Ja, er kannte ihn kaum. Wie sollte er auch einen Menschen kennen, der niemals hereinkommt und ein Glas Bier trinkt.

»Dann wird nichts passiert sein«, meinte Anton Olkers. »Der Wirt weiß es immer zuerst, wenn was los war.«

Damit beruhigten sie sich.

Es waren an diesem Tage auch allerlei Vorbereitungen zu treffen, denn am nächsten Vormittage sollte man auf das Standesamt gehen. Am Nachmittag wollten sie dann bei dem Pastor mit vorsprechen. Wenn man auch glaubte, für Kranz und Altar zu alt zu sein, und wenn man auch einsah, daß man für sich alleine nicht eine ganze Kirche bemühen könnte, so wollte man doch eines geistlichen Wortes nicht entbehren.

Nun gab es also vielerlei zu tun. Barbe Wiel stand auf dem Hofe und schwenkte die Kohlenplätte. Erst im Luftzug entzünden sich die Holzkohlen. Olkers hatte die schwarze Hose über die Leine gehängt und bürstete auf ihr herum, neben sich eine Schüssel mit Kaffeesatz, weil Barbe Wiel wußte, daß man dadurch den früheren schwarzen Glanz wieder herstellen könnte.

So trafen die beiden die Vorbereitungen für ihre Hochzeit.

Nein, man brauchte sich nicht zu verstecken. Es war sogar eine Kutsche da. Schowe hatte den Wagen bei einem Bekannten ausgeliehen. Nun waren seine Pferde davorgespannt und Albert saß auf dem Bock. Es war ein stattliches Gespann, und es hätte wohl keiner gedacht, daß Pferde und Kutscher sonst mit Ackerwagen und Jauchefaß zu tun hatten. Es war wirklich ein städtisches Gespann, darin sie nun zu viert saßen, das Brautpaar und die beiden Trauzeugen, Schowe und Uhlig.

Ja, ja, da stehen nun die lieben Nachbarn und gucken hinterher. Guckt nur, es ist wirklich Anton Olkers. Ein lahmer Bräutigam zwar, aber doch noch gut bei Wege. Wie der Gehrock ihm sitzt. Da ist nichts zu eng und nichts zu weit. Er hat sogar einen kleinen Myrtenstrauß auf dem Aufschlag.

»Das muß sein«, sagte er, »damit sie auf dem Amt wissen, wer der Bräutigam« ist.«

Das war ein behagliches Rumpeln über die krummen Steine im Kolk. Schowe hatte kleine Witze bereit, die wußte er noch von Wallys Hochzeit. Darüber mußten sie lachen. Und Olkers schlug Uhlig aufs Knie und fragte:

»Wer ist der zweite?«

Als sie über den Marktplatz fuhren, zog Schowe das Wagenfenster herunter. Er lehnte sich etwas hinaus und sagte: »Da drüben wohnt sie. Wir sind nun schon siebenundzwanzig Jahre verheiratet.«

Er sah die Fensterreihe im ersten Stock ab, und weil er glaubte, an dem Eckfenster ein Gesicht gesehen zu haben, griff er grüßend an den Hut.

*


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