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Im April verschwanden die Möwen aus dem Kolk. Sie waren eines Morgens plötzlich fort. Das Geländer war kahl und die Holzpflöcke, auf denen sie auszuruhen pflegten, standen verwaist. Ihre Stimmen erfüllten nicht mehr die kleine Straße, ihr Flügelschwung zog nicht mehr wie eine weiße Flocke an den Fenstern vorüber. Sie hatten den Winter über die guten und bösen Tage mit den Nachbarn am Kolk redlich geteilt. Aber nun waren sie fortgeflogen nach der großen See, um für die andere Hälfte des Jahres Gespielen der Wellen zu werden und der großen Schiffe. Die Häuser am Kolk blieben zurück wie die Frauen, deren Männer hinausfuhren auf das Meer und in die Abenteuer.

Stam Öffgen hatte lange nicht geschrieben. Es war seine Gewohnheit, in bestimmten Zwischenräumen von sich hören zu lassen, aber nun war die Zeit längst überschritten und der Postbote hatte nicht an die Türe geklopft: »Guten Tag, Frau Öffgen, ein Brief von ihm!« Meistens betrachtete er noch die Briefmarke, ehe er das Schreiben aushändigte. Also in Lissabon, sagte er freundlich, oder: also in Riga. Es war ein alter Beamter, der schon jahrelang die Post im Kolk austrug. Er kannte alle Anwohner und nahm Anteil an den Nachrichten, die er brachte.

Er wußte, daß Stam Öffgen seit Wochen schon wieder unterwegs war und er wunderte sich, daß er keinen Grund hatte, an Tinas Türe zu pochen.

Wenn er sie zufällig traf, legte er die Finger an die Mütze und rief:

»Nichts dabei, Frau Öffgen!«

Anfangs hatte sie ihn wohl auch gefragt oder wenigstens erwartungsvoll angesehen, aber nun ging sie an ihm vorbei und antwortete nicht mehr auf seinen Zuruf.

In dieser Zeit fühlte sie auf einmal, daß sie von Tag zu Tag müder wurde. Vielleicht dachte sie zuerst, daß die viele Arbeit, das späte Nachhausekommen und das frühe Aufstehen Schuld daran trügen.

›Wenn ich mich ein paar Tage ausruhe, wird es schon gehen‹, sagte sie sich. Die beiden Tage, die sie dann zu Hause blieb, waren voll Unruhe. Gitti, die nicht daran gewöhnt war, ihre Mutter den ganzen Tag um sich zu haben, wich nicht von ihrer Seite. Tina wäre gerne im Bett liegen geblieben, aber sie fürchtete, daß die Kinder glauben könnten, sie wäre krank, und daß sie sich um sie ängstigen würden. So stand sie um dieselbe frühe Stunde auf, und weil ihre Hände das Stillsein verlernt hatten, begann sie, sich mit kleinen Dingen im Haushalt zu beschäftigen. ›Das strengt mich weiter nicht an‹, dachte sie, ›und einmal muß es ja auch getan werden.‹

Als die Kinder herausbekommen hatten, daß sie zu Hause bleiben würde, gab es einen großen Jubel. Sie konnten sich nicht darauf besinnen, wann sie einen solchen Feiertag zum letzten Male erlebt hatten, Sonntags wohl, aber niemals mitten in der Woche.

Gitti begann damals kleine Handarbeiten zu fertigen. Nun wollte sie gute Ratschläge haben, und bald mußte Tina ihr dies oder jenes zeigen. Köppje kam mit allem Krimskrams, den er im Laufe des Winters gesammelt hatte, war ausgelassen und tobte durch die Stuben. Die Kinder waren nicht dazu zu bewegen, auf die Straße spielen zu gehen.

»Wir lassen dich nicht allein«, riefen sie.

Tina gab sich Mühe, auf alle ihre Fragen und Antworten einzugehen. Schließlich war sie froh, als sie, die Kinder an der Hand, durch die lauten Straßen ging, mit ihnen vor Schaufenstern stehen blieb und nicht mehr auf ihr kindliches Geschwätz zu hören brauchte, denn es gab in diesen Straßen so viel zu sehen, daß die Kinder vor diesem Übermaß keine Antwort mehr aus dem Munde ihrer Mutter verlangten.

Tina ging langsam und schwerfällig. Sie hatte einmal einen leichten Gang gehabt und Stam Öffgen hatte von ihr behauptet, daß sie besser zu tanzen verstünde als je ein Mädchen, das er in den Armen gehalten hätte. Aber bei dem ewigen Stehen vor Waschtrögen und der Nässe der kalten Fliesen, in der Dumpfheit der dicken Strümpfe, die sie bei ihrer Arbeit trug, war die Spannung ihrer Füße erloschen, die Knöchel gesenkt und die Adern schwer geworden und träge.

Zu jener Zeit war Tina dreißig Jahre alt, doch in den Falten ihres Gesichtes schien das Unglück eines langen Lebens geschrieben zu sein.

Wenn sie an ihre Jugend dachte, war es, als lägen Gebirge zwischen jener Zeit und den kleinen armseligen Tagen, die sie nun zu leben hatte, Gebirge, über die ihre Gedanken nicht mehr den Pfad fanden, sondern nur bis zu halber Höhe hinaufzuklimmen vermochten und dann umkehrten in seufzendem Verzicht. In jenem versunkenen Tale waren Gelächter gewesen, Gesang und bunte Stunden. Die Arbeit, die damals getan werden mußte, wurde aus frohem Herzen getan.

Wenn sie später in den Waschküchen fremder Menschen sich mühte, war manchmal unvermittelt ihr ein Lächeln angeflogen. Es war wie ein ferner Vogelruf, der plötzlich von irgendwoher durch die Luft schwebt. Sie hatte in solchen Augenblicken verwundert aufgehorcht, denn sie konnte sich nicht mehr erklären, woher für eine Sekunde eine Heiterkeit sie überfliegen konnte. Kam sie an solchen Tagen nach Haus, nahm sie den Gruß der Kinder mit helleren Augen entgegen. Sie erzählte dann von dem Vater, der nun fern auf einem Schiff wäre oder in einer fremden Hafenstadt an sie dächte.

Jetzt hatte Tina Öffgen solche Augenblicke nicht mehr. Sie bemühte sich wohl, an ihren Mann zu denken, aber sie sah nur jenen Lastkahn, hinter dessen grellem grünen Blumenfenster ein fremdes Gesicht stand. Ihr Körper war zu schwach, um zürnend dagegen aufzustehen. Sie ging unter einem schweren, grauen Himmel, vor dessen Entladungen sie sich fürchtete und unter dessen Last sie ihren Atem hinsterben fühlte.

Sie konnte sich keine Rechenschaft darüber geben. Sie war ein einfacher Mensch, der sein Leben nicht zu ergründen versteht. Sie ahnte nur dumpf ein Geschick, das sich nicht mehr abwenden ließe, aber wie ein Tier bis zum letzten Augenblick, ehe man es in das Schlachthaus führt, seinen Tag lebt und die dürre Weide hinnimmt, die sich ihm bietet, so setzte Tina Schritt vor Schritt in den alltäglichen Gang ihres Lebens.

Sie brachte ihren Kindern alle Wärme entgegen, die ihrem Herzen noch verblieben war. Sie gab sich Mühe, ihre laute Unbändigkeit mit guten Worten zu ertragen. Die Kinder hatten niemals einen harten Verweis aus dem Munde der Mutter gehört. So war sie ein guter Kamerad für sie geworden, von dem man verlangte, daß er zu allen Einfällen bereitwillig wäre.

Zu dem Vater aber sahen sie ernst und zuversichtlich auf. Er kam zu ihnen von langen Seefahrten zurück, wußte vielerlei Erzählungen, und es gab nichts, was er nicht am besten verstanden hätte.

Zuweilen war Köppje der schweigenden Duldsamkeit der Mutter überdrüssig. Dann erkundigte er sich ungeduldig, wann der Vater zurückkäme, der ihn wild auf den Knien reiten ließ, ihn auf die Schultern nahm und wie ein Pferd mit ihm durch die Stube tollte.

Gitti dagegen hatte eine große Selbständigkeit entwickelt. Sie besorgte in der Abwesenheit der Mutter das Haus so gut sie es vermochte, und sie war davon überzeugt, daß keiner es besser verstünde als sie. Sie setzte sich weinend in die Ecke, wenn die Mutter ihr eine Arbeit aus der Hand nahm, von der sie behauptete, daß das Mädchen noch zu klein dazu wäre.

»Ich bin groß genug«, schluchzte Gitti, und sie beruhigte sich erst, wenn die Mutter ihr die Arbeit zurückgab, denn Tina war froh, in den kurzen Stunden daheim Aufregungen zu vermeiden.

Sie hatte sich nie sonderlich zu den Nachbarn gehalten. Wenn sie früh morgens fortging, war die Straße noch leer, und wenn sie abends zurückkam, lag schon ein leiser Schlaf über dem Kolk. Das Schicksal hatte ihr einen engen Kreis gezogen, darin sie wie in einem Käfig rastlos auf und ab lief.

Als sie an jenem Abend mit den Kindern von dem Gang durch die Stadt zurückkam, stand Uhligs Handwagen vor dem Hause und der Invalide Olkers mühte sich, seine Habseligkeiten darauf zu verstauen. Uhlig half ihm dabei und Barbe Wiel stand daneben, einen Spiegel unter dem Arm.

Köppje lief hinzu und wollte sich als Pferd davor spannen.

»Nun geht es los, Frau Öffgen«, rief der Invalide.

Tina begriff es zuerst nicht. Sie konnte sich nicht erinnern, davon gehört zu haben, daß Schowe dem Invaliden die Wohnung gekündigt hatte.

Sie fragte:

»Weshalb denn?«

»Ich habe immer die Miete bezahlt«, antwortete Olkers.

»Das ist ja schrecklich«, sagte Tina.

Der Handwagen mit den wenigen Möbeln, der wie heimatlos im Abend stand, hatte sie verwirrt.

Es war das trübe Bild ausgewiesener Möbelfuhren, die sie auf ihren Heimwegen oft in den ärmeren Straßen gesehen hatte.

Olkers lachte:

»Jetzt geht's ein Haus weiter.«

»Er zieht zu mir«, erklärte Barbe Wiel, »ich habe eine Stube übrig. Wir haben es uns so überlegt.«

»Ein Haus weiter«, kommandierte Olkers. Es war ein grimmiges Vergnügen in ihm. »Fünfzehn Jahre hab ich ihm die Miete in den Rachen geworfen. Nun wird man mir nichts dir nichts rausgesetzt.«

»Sie bleiben ja bei uns im Kolk«, tröstete Atze Uhlig.

»Ich habe immer die Pferde schnaufen hören«, sagte der Invalide. »Sie scharrten manchmal den ganzen Abend.«

»Das ist schon was Rechtes«, rief Barbe Wiel dazwischen, »da wird es ihm wohl bei mir zu ruhig sein.«

»Ich hab' es fünfzehn Jahre gehört«, beharrte der Invalide, »es war auch ein Schwalbennest am Fenster.«

»Schwalben sind überall«, entgegnete Barbe Wiel. Sie fing an, sich über solche Einwände zu ärgern.

Man war endlich soweit, daß der Stuhl fest auf dem Schrank lag.

Der Invalide zog und Uhlig schob den Wagen. Barbe Wiel ging nebenher, sie trug vorsichtig den Spiegel. Köppje sprang voran und sang aus Leibeskräften.

Als sie mit der Fuhre ein Stück hin waren, wandte sich Uhlig verstohlen nach dem Hause um. In dem Fenster seines kleinen Ladens spiegelte sich die Laterne, die auf der Brücke hing. Uhlig mußte hastig mit der Hand über die Augen fahren.

»Mal sehen, wer der zweite ist«, hatte Olkers gerufen. »Er scheint ja was vorzuhaben mit seinem Haus.«

Tina sah dem Wagen nach. Es fiel ihr ein, daß sie sich bei diesem Umzüge vielleicht nützlich machen könnte. Sie tat ein paar Schritte, aber dann kehrte sie um. Sie wußte nicht, woher auf einmal ein Weinen über sie kam.

»Du kannst ruhig noch unten bleiben«, rief Gitti altklug von der Treppe, »ich koche schon die Kartoffeln.«

Tina blieb noch ein Weilchen vor der Haustüre stehen. Herr Peine ging an ihr vorüber. Er kam jetzt jeden Abend. Er grüßte sie nicht, denn er kannte die Leute nicht, die da im Hause wohnten.

Später besichtigte er noch mit Herrn Schowe die leere Wohnung. Er trug ein Metermaß in der Hand, einen Notizblock und einen Bleistift.

Am nächsten Morgen kamen schon die Maurer und rissen die Wand zwischen Stube und Küche ein.

*

»Was sollen wir lange reden, Uhlig. Ich will Ihnen einen Vorschlag in Güte machen«, sagte Herr Schowe.

Sie saßen in dem Abschlag vom Laden sich gegenüber, an dessen Tapetentür ein Schild angebracht war mit der Aufschrift »Kontor«. Dieses Kontor war drei Schritte lang und drei Schritte breit. Es besaß ein kleines Schiebefenster nach dem Laden hin.

Auf dem Drehschemel vor dem Pult thronte jetzt Herr Schowe. Er hatte dort gleich Platz genommen. Zu Beginn ihrer Unterredung war Uhlig an der Türe stehen geblieben und erst, als Schowe ihm zurief: »Warum setzen Sie sich denn nicht?«, hatte er sich den gelben Rohrstuhl herangezogen, der für Fremde bereit stand, wenn sie mit Angeboten Herrn Uhlig zu sprechen wünschten.

»Ich habe über die Zeit gewartet«, hatte Schowe gesagt. »Ich bin kein Unmensch.«

Man merkte ihm an, daß er sich bei diesem Gespräch nicht behaglich fühlte, aber die Sache mußte endlich ins reine gebracht werden.«

»Wie lange willst du eigentlich noch warten?« hatte Frau Schowe gefragt. »Die Kinder wollen doch zum Herbst heiraten. Ich dächte, da würde es Zeit.«

»Man soll nichts übers Knie brechen, auch eine Heirat nicht.« Das war anfänglich Schowes Ansicht gewesen, doch dann hatte er sich belehren lassen müssen, daß Herr Peine einen bestimmten Herbsttag in Aussicht genommen hatte, weil es der Hochzeitstag seiner verstorbenen Eltern war.

»Bis dahin muß doch der Umbau fertig sein, das siehst du wohl selbst.«

Das waren die letzten Worte gewesen, die Frau Schowe in dieser Angelegenheit gesprochen hatte. So wenigstens behauptete sie. Es hatte dann doch noch eine Auseinandersetzung gegeben, ehe Schowe einsah, daß er nun handeln müßte.

»Du hast kein Herz für Wally«, hatte Frau Schowe weinend gerufen. Sie zerknüllte das Taschentuch und drohte, mit ihrer Tochter zu Verwandten auf das Land zu fahren, falls Schowe nicht endlich handelte.

»Ich will Sie ja nicht ruinieren, Uhlig«, sagte er, »ich denke, gegen meinen Vorschlag ist nichts einzuwenden.«

»Ich hänge an meinem Geschäft«, hatte Uhlig ängstlich eingeworfen, »ich bin seit Jahren selbständig, ich habe das alles langsam aufgebaut.«

»Sie sind ein schlechter Kaufmann. Ein anderer hätte solche Bürgschaft nicht übernommen.«

»Er war doch mein Freund«, sagte Uhlig.

»Ein Betrüger ist er, das ist Ihnen wohl nun klar. Sie sind ein gutmütiger Mensch, aber damit kommen Sie heute nicht weiter. Ich will Ihnen keinen Strick daraus drehen, das haben Sie doch gehört. Ich verlange mein Geld nicht zurück. Ich will dafür nichts weiter, als daß Sie von dem Kontrakt zurücktreten, und mir den Laden überlassen. Ich will ja auch Ihre Vorräte übernehmen, wegen der Summe werden wir uns schon einigen. Das ist doch gewiß kulant. Ich tue es auch nur, weil ich Sie von klein auf kenne und weil Ihre Mutter immer in unserem Hause war.«

»Sie war mit Ihrer Mutter befreundet«, sagte Uhlig leise.

»Sie hat bei uns gearbeitet, wenn es auf dem Feld was zu tun gab oder in der Wirtschaft«, verbesserte Herr Schowe. »Aber das steht hier nicht zur Rede«, setzte er hinzu.

»Ich muß also von neuem anfangen«, sagte Uhlig aus seinen Gedanken heraus.

»Es wird sich schon was finden«, versuchte Schowe zu trösten.

»Wenn man Geld in Händen hätte, könnte man sich wo anders einrichten, aber ich habe doch nichts hinter mir.«

Uhlig schien nur noch zu sich selber zu sprechen. Schowe war aufgestanden und sah durch das kleine Schiebefenster in den Laden. ›Da ist ja der Malermeister Frommhold, ich könnte gleich mit ihm sprechen‹, dachte er, ›er soll mir aber nicht mit einer hohen Kalkulation kommen, es kostet sowieso schon genug.‹

»Ich bin hier im Kolk aufgewachsen«, sagte Uhlig, »nun ist man vierzig Jahre alt geworden, und das alles ist aus.«

Schowe drehte sich um.

»Wir wären nun wohl im klaren«, sagte er, »ich will Sie nicht vor die Tür setzen, aber wir müßten doch bald daran denken. Es muß hier alles umgebaut werden. Es soll ein Versandgeschäft werden.«

Er legte Uhlig die Hand auf die Schulter. »Man soll sich nicht unterkriegen lassen, wenn einmal etwas gegen den Strich geht. Sie konnten das mit Löders auch nicht voraussehen, und wie gesagt, ich verlange ja das Geld nicht zurück.«

Er holte ein Notizbuch aus der Tasche und entfaltete daraus ein Schriftstück.

»Es ist so eine Art schriftlicher Abmachung«, sagte er, »Sie können es sich durchlesen. Es steht darin, daß die bewußte Summe als Abstand für den Laden aufgerechnet wird. Wenn Sie es unterschrieben haben, gebe ich Ihnen gleich den Schuldschein zurück. Sie brauchen ihn auch, wenn Sie Löders mal verklagen wollen. Es könnte ja sein, daß er wieder auftaucht. Ich bin morgen vormittag zu Haus.«

Damit ging Herr Schowe.

»He, Frommhold«, rief er hinter dem Malermeister her. Sie standen dann ein Weilchen vor der Türe und sprachen lebhaft miteinander. Einmal trat Frommhold auch dicht an die Ladentüre und sah hinein. Er musterte prüfend den Raum, er berechnete wohl in Gedanken die Maße.

Uhlig stand an seinem Pult. Vor ihm lag das Schriftstück, das Schowe dagelassen hatte. ›Das alles sollte man mit vierzig Jahren gelernt haben‹, denkt er, ›nun ist es zu spät. Ich bin überall herumgelaufen, um das Geld aufzubringen. Es war umsonst. Schluß, nun wird also hier Schluß sein. Ich weiß keinen Rat. Ich will mit Barbe Wiel sprechen, einmal erfährt sie es doch.‹

»Um Gottes willen«, sagt Barbe Wiel. Sie setzt die Tasse hart hin, so erschrocken ist sie. Sie nimmt die Hand nicht vom Henkel. Das hat Zeit bis nachher. Erst einmal nachdenken. Alles ist gut gegangen lange Jahre. Nun auf einmal kommt es hageldick.

»Etwas kann ich dir geben. Will gleich mal nachzählen. Wo ist denn der Schlüssel?« »Nein«, sagt Atze Uhlig. »Das ist dein Altersgroschen. Es würde auch keinen Zweck haben. Er will den Laden für seinen Schwiegersohn. Ein Versandgeschäft soll es werden. Er hat mir alles erzählt. Sie heiraten zum Herbst. Da muß vorher noch umgebaut werden.«

»Es ist noch nicht alles Wasser aus dem Brunnen«, antwortete Barbe Wiel. Sie wischte mit der Schürze über den Tisch. Das war ihre Angewohnheit, wenn sie die Absicht hatte, jemand zu bewirten.

»Was wollte ich doch?« fragte sie. »Ich bin ganz konfus.«

Sie war wie ein aufgescheuchtes Huhn. Schließlich lief sie an das Spind und holte eine Tasse. Es war eine von den beiden Tassen, die einen goldenen Rand und eine Inschrift trugen und aus denen seit Jahren niemand mehr getrunken hatte. Sie standen in dem Spind dicht hinter der Glasscheibe, geputzt und in behäbiger Neugier, wie alte Frauen, die im Sonntagsstaat zu einem Schwatz sich an das Fenster setzen.

In ihrer Aufregung nahm Barbe Wiel eine dieser Tassen heraus. Erst als der Kaffee eingegossen war, merkte sie es. Sie schüttelte den Kopf über ihre Unachtsamkeit, aber dann sagte sie:

»Nun soll auch daraus getrunken werden.«

Sie schob Uhlig die Tasse hin. Er sah sofort den Irrtum.

»Das ist die gute«, antwortete er verwundert.

»Zum Trost«, nickte Barbe Wiel.

Er trank langsam. Er sagte:

»Es war alles in guter Reihe, nun wirft es mir Schowe durcheinander. Und wer weiß, was noch kommt.«

Barbe Wiel bewegte in ängstlicher Hast ihre Hände.

»Man soll das Unglück nicht rege machen«, warnte sie leise. »Wenn meine Mutter eine schlechte Nachricht bekam, machte sie das Fenster auf. Es soll sich nicht erst setzen, sagte sie immer. Zur Türe kommt es herein, zum Fenster muß es hinaus.«

Barbe Wiel sah Atze Uhlig an. Sie hoffte wohl, daß er aufstehen und das Fenster öffnen möge. Doch er blieb sitzen und antwortete nichts. Da erhob sich Barbe Wiel, schob den Tisch mit einem Ruck beiseite, ging an das Fenster und riß es auf.

»Mit Kopfhängerei ist nichts getan«, rief sie ärgerlich. Ihr Erschrecken über die Nachricht, die Uhlig gebracht hatte, war in Zorn umgeschlagen. Da niemand anders da war, ließ sie ihren Groll an Uhlig aus.

»Aber du bist kein Mann«, zankte sie, »man kann dich um den Finger wickeln. Dich werden noch ganz andere hineinlegen als Löders und Schowe. Das läuft in seiner Dummheit umher und nachher weiß sich's keinen Rat. Ich denke, du hättest mich lieber vorher fragen sollen. Nun wo der Kram kaputt ist, machst du den Mund auf. Löders soll mir bloß unter die Augen kommen. Es ist ein Unglück für dich, daß deine Mutter so früh starb. Du läufst ja wie ein Neugebackenes in der Welt rum!«

Atze Uhlig sah mit großen Augen auf ihre fuchtelnden Hände. Er verstand nicht, weshalb sie so über ihn in Erregung geraten war.

Als er fort ging, war er noch so verschüchtert, daß er vergaß, seinen Hut aufzusetzen.

Die Häuser im Kolk lagen dunkel da und der Widerschein des abnehmenden Mondes zitterte in ungewisser Form auf dem träge hinfließenden Wasser. Ein stumpfer Lichtkreis schwebte nahe der Uferwand, es war eine trübe Öllampe, die über den schwarzen Umrissen eines Frachtkahnes schwelte. Wenn man dicht an das Geländer trat, wurde ein kleiner Lichtschein hinter der Ankerwinde sichtbar. In dem runden Bootsfenster neben der steilen Treppe, die in das Innere des Kahnes führte, brannte noch Licht.

Uhlig war gedankenlos zwischen den Häusern und der Brücke auf und ab gegangen. Eine Verlassenheit war in ihn eingebrochen, die jeden Gedanken verscheucht hatte. Man war zu einem Menschen gegangen, um Trost und Rat zu holen, aber man wurde mit Vorwürfen weggeschickt. Nun blieb nichts weiter übrig als auf und ab zu gehen, auf und ab in einer Nacht, in der nicht einmal der Mond mehr ganz war. Vielleicht hätte man gut getan, sich im Bett zu verkriechen, die Knie bis unter das Kinn zu ziehen und sich so klein werden zu lassen, daß das Unheil es nicht mehr für wert hält, Notiz von einem zu nehmen. Für einen Augenblick wohl wird man den Kopf aus der Decke nehmen und in die Nacht horchen. Die Stille summt einem in den Ohren, aber noch ehe sie laut werden kann wie ein Schrei, wirft man den Kopf in das Kissen zurück, schließt die Augen und läßt sich hintreiben in schlaflosen Traum. Die großen Tiere, vor denen man sich in der Kindheit fürchtete, ziehen vorüber. Wenn sie fern und kaum noch wahrnehmbar sind, atmet man auf aus einem Alp. Die großen Traumtiere haben einem nichts getan. Warum sollte der Tag, der in Stunden anbricht, ungnädiger sein?

Doch man geht ruhelos auf und ab. Man bleibt auch an dem Geländer stehen, aber in den Füßen ist noch immer das rastlose Hin und Wieder, als könnte man vor dem Morgen davonlaufen, vor einer Entscheidung, vor seinem Schicksal.

Nun ist da ein kleiner, friedlicher Lichtschein im Boot. Wie oft hat man schon den Frieden abendlicher Lampen erlebt. Man ist so daran gewöhnt, daß man ihn hinnimmt wie ein Selbstverständliches. Es ist so einfach, eine Lampe anzuzünden, und man denkt nichts weiter dabei. Wenn man ein Brot anschneidet oder eine Lampe anzündet, sollte man eigentlich einen Spruch auf den Lippen haben. Nur in trostlosen Nächten ahnt man die heilsame Kraft des Lichtes. Es kommt daher wie ein Freund, es beruhigt und segnet.

Uhlig steht an dem Geländer. Er sieht den Schein einer Lampe im Boot. Er kennt alle Schiffer, die hier vorüber fahren und anlegen. Was sie brauchen, kaufen sie bei ihm im Laden.

Uhlig beugt sich vor, er kann den Namen des Kahnes nicht entziffern, aber er denkt, es wird Wiedemann sein oder Gülke, Aderholt oder Brose. Einer von denen, die im Grunde sich alle gleichen, breite, zuverlässige Gestalten, die mit jeder Last fertig werden. Sie haben ihre Sorgen und ihren täglichen Verdruß, aber das Wasser, das ihre Kähne trägt, hat ihnen in langen Jahren ein gleichmütiges Hingleiten gegeben, aus dem sie nur zuweilen in jäher Wucht auffahren, wenn ihnen das Schicksal zu hart zusetzt, so, wie ein Gewitter zürnend aufbricht, wenn die Luft voll war von Ersticken.

Man steigt ein paar Stufen zu dem Kahn hinunter.

»Du bist es, Uhlig«, sagt der Schiffer. Es ist Brose. Er hat die Luke beiseite geschoben. Er winkt ärgerlich.

»Das ist ein Gejammer da unten. Ich sage, wenn Frauensleute zusammen sind, sitzt das Heulen schon dabei.«

Atze Uhlig blickt in das helle Fenster. Er sieht Frau Brose und Tina Öffgen. Ihre Gesichter sind über den Tisch gebeugt.

»Was können wir dabei tun, wenn der Mann nicht wiederkommen will«, sagt Brose. »Nun sitzt sie schon den ganzen Abend da unten. Neulich war sie auch auf Gülkes Kahn. Wir sollen mit ihm reden. Nun sag mir einer, was das hilft. Er lebt mit einem Mädchen in Hamburg. Er hat sie hier im Winter kennen gelernt.«

»Stam Öffgen?« fragt Uhlig. Er ist ganz erschrocken. »Er wird doch wohl wiederkommen«, setzt er besorgt hinzu.

»Dreck!« schreit Brose. Weiter nichts: »Dreck!«

Uhlig sieht durch das Fenster auf Tina. Er antwortet nicht, er fragt auch nicht weiter. Er sieht nur die Frau, die jetzt mit der Hand über die Augen fährt.

»Wir könnten gut einen Schnaps vertragen«, sagt Brose, »aber da unten wird er sauer schmecken.«

»Komm«, sagt Uhlig. Er hat sich von dem Fenster abgewendet, er steht noch verwirrt da. »Komm«, bittet er.

Brose ruft in die Luke hinein:

»Wir gehen noch zu Uhlig! He! Wir gehen noch zu Uhlig!«

Er stapft breit über die Planken. »Verfluchtes Tau«, schimpft er noch.

Sie gehen über die Straße. Sie sind in dem Laden.

»Laß die Jalousie halb hoch, Uhlig, falls die Frauen noch kommen.«

Brose hat sich einen Stuhl an den Ladentisch gezogen. Er mustert jede Flasche, die Uhlig ihm hinhält.

»Hier ist Gin, Original-Gin«, sagt Uhlig, »hier ist Kirsch und hier Bismarck.«

Er baut alle Flaschen vor sich auf. Es ist plötzlich eine Lust in ihm, alle seine Schätze noch einmal herbeimarschieren zu lassen. Es ist eine Parade von Flaschen auf dem Tisch.

»Donnerlittchen«, sagt Brose. »Das läßt sich sehen. Daß unsere Eltern reiche Kinder kriegen«, lacht er.

Uhlig hat vier Gläser hingestellt. »Für die Damen gleich mit«, hat er gesagt.

»Da machen wir uns also eine vergnügte Nacht«, sagte Brose. »Das ist ein guter Einfall. Du bist ein Tausendkerl, holst mich da vom Kahn weg. Willst mir wohl einen aufhucken!«

Sie sind schon beim fünften Glas.

»Wie wär's mit einem Doppelkümmel?« zwinkert Uhlig. Er sieht dem Schiffer Brose mitten in das Gesicht. Das ist ein breites, rundes Gesicht wie eine Pfanne. Wie die Augen darin schwimmen. Brose hat auch einen breiten Rücken. Wer weiß, was sich dahinter versteckt. Uhlig schuddert ein wenig. Vielleicht blickt so eine Fratze über Broses Schulter weg und grinst. He, Uhlig, Atze Uhlig, nun ist's hier aus. So leb denn wohl, du altes Haus. Nun geht's hinaus mit Mann und Maus.

»Du singst akkurat wie der Kantor«, brüllt Brose. »Du bist ein fideler Mensch. So hab ich dich noch gar nicht gekannt. Natürlich trinken wir 'nen Doppelkümmel. Einen ganzen Kümmel, runter mit dem Lümmel!«

»Schade um jeden Tropfen«, sagt Uhlig. Er hat das Glas so voll gegossen, daß es überläuft.

In den kleinen süßen Teich auf der Tischplatte steckt Brose den Finger und läßt ihn schwimmen. Er hat ein O auf die Tischplatte gemalt, es kann auch eine Null sein.

»Da soll man nun mit Öffgen reden, das ist doch alles Unsinn. Wenn ein Mann nicht will, will er nicht. Was helfen da Weibertränen?«

Seine Zunge ist schon schwer. Er sagt:

»Das ist nämlich ein Bursche, der Öffgen. Der war als Junge schon nicht ohne. Damals trieb er sich auf allen Kähnen herum und wollte überall steuern. Er hing wie ein Wollknäuel an dem großen Steuerbaum, der Knirps. Ein Lausejunge. Jawohl!

Das hat seine eigenen Beine. Das läuft, wohin es will. Da kann man nicht dirigieren.«

»Nun kommt ein grüner Pfefferminz!« ruft Uhlig.

»Grün ist die Hoffnung, die Hoffnung ist grün«, gröhlt Brose.

Uhlig hat das eigene Glas leer gelassen.

»Nun?« fragt Brose und tippt an das Glas. »Man kann auch allein spazieren gehen«, sagt er dann und trinkt.

Uhlig blickt ihm wieder direkt ins Gesicht. Das ist schon ein Schädel, so ein runder stiernackiger Schädel, so ein Faß voll Hoffnung. Da hängt so ein voller Mond überm Ladentisch. Da möchte man doch mal an diese dicken, zuverlässigen Backen fassen.

»Brose«, freut sich Uhlig und grapscht ihm wie ein Kind ins Gesicht.

Brose ist ganz gerührt. Er fängt an zu salbadern. Er meint:

»Der Mensch ist ein Geschöpf für sich. Er wandelt seine Zeit und geht dahin. Er kommt nackt und bloß von der Mutterbrust. Es ist sein Unglück, daß er Beine hat und laufen lernen muß, Uhlig. Wenn ich nochmal solche Handvoll wäre, ich würde mich weigern, Uhlig, ich würde niemals wieder Laufen lernen. Und wenn sie zehn Pferde vorspannten, ich bliebe liegen. Prost, Uhlig. Aber wir haben alle die Hoffnung.«

Brose mußte sich die Augen wischen, aber Uhlig lachte. Er lachte, daß es von allen Wänden widerklang. Er erschrak über sein Lachen. Er sah besorgt auf eine Heringstonne, als könnte aus ihr ein Gespenst aufsteigen, dünn und lang wie eine Heringsseele. ›He, Uhlig, du lachst noch? Du weißt wohl nicht, woran du bist? Du scheinst noch obenauf zu sein, und morgen ist alles kurz und klein.‹

»Kurz und klein«, schreit Uhlig.

»So ist's richtig«, brüllt Brose, »kurz und klein!«

Er haut mit der Faust auf den Tisch, daß die Flaschen klirren.

Uhlig lacht wieder. Er tritt von einem Fuß auf den andern, daß es dröhnt.

»So ist's richtig«, schreit Brose, »jetzt soll Marie mal munter werden!« Er trommelt wie ein Besessener.

»Im Rosengarten«, singt er, nur immer diese Worte: »Im Rosengarten.«

»Pst«, sagt Uhlig. Er starrt auf die halb offene Jalousie. Was ist das für ein Kopf, der da hereinblickt? Das ist doch Schowe.

Brose hat sich umgewendet. Er sagt:

»Treten Sie näher, Herr Schowe.«

Da steht also Schowe, der Hauswirt, im Laden. Er hat nur die Hose übergezogen und sein Kopf guckt oben aus dem blau beränderten Nachthemd heraus. Sein Gesicht ist knallrot vor Ärger.

»Was ist das hier für ein Spektakel«, schimpft er. »Meine Frau kann nicht schlafen. Es ist ein Skandal!«

»Nicht doch, nicht doch, Herr Schowe«, sagt Brose. »Sie müssen doch den Menschen eine kleine Freude gönnen.«

Er schiebt Schowe einen Stuhl hin.

»Ein Gläschen gefällig?« fragt er. »Was soll'« sein? Ein Kümmel, ein Kirsch? Oder ein Klosterschnaps?«

»Ich verbitte mir das«, sagt Schowe noch einmal. Sein Blick kommt nicht von dem Ladentisch los.

»Das ist ja eine Batterie von Flaschen«, sagt er schon besänftigter.

»Das ist eine ganze Flottille«, schreit Brose.

»Nicht so laut, Herr Brose«, mahnt Schowe. »Es stört meine Frau. Sie hat Migräne.«

Er horcht zur Decke empor und winkt Uhlig ab, der etwas sagen will.

»Ich dachte schon, sie klopft«, sagt Schowe vorsichtig.

Nun halten auch Brose und Uhlig den Kopf hoch, aber es rührt sich nichts.

»Sie wird wieder eingeschlafen sein«, sagt Schowe. »Im allgemeinen hat Anna einen festen Schlaf.«

»Der Frau Gemahlin zur Gesundheit«, antwortet Uhlig. Sie stoßen mit Schowe an.

Schowe sagt: »Das ist eine angenehme Nachtruhe. Prost, meine Herren!«

»Auch um Mitternacht schmeckt der Schnaps«, erwidert Brose. Er hat seine Stimme gedämpft.

Die drei trinken schweigend. Ein Gläschen und noch eins.

»Der Kirsch ist gut«, sagt Schowe. Er bewegt nachschmeckend die Lippen.

»Wie's kommt, wird's gesoffen«, sagt Brose. Seine Stimme zittert etwa«, weil er sich bemüht, leise zu sprechen.

»Wir sind Männer«, sagt er, »wir lassen uns nicht unterkriegen. Und wenn es hageldick kommt.«

»Hageldick«, bestätigt Uhlig. Er sieht Schowe an.

»Es geht nicht immer nach Gefall«, antwortet Schowe. Er ist verlegen vor Uhligs Blick. »Wenn's nach mir ginge, Herr Uhlig, Sie können's glauben.«

Er hält Uhlig die Hand hin.

»Was ist denn?« fragt Brose.

»Nichts von Bedeutung«, erwidert Uhlig. Er hat in Schowes Hand eingeschlagen. Er ist verlegener als Schowe. »Grämen Sie sich nicht, Herr Schowe«, sagt er und scheint ganz nüchtern geworden zu sein. Aber auf einmal sind Tränen in seinen Augen. Er geht rasch in den kleinen Verschlag, an dessen Türe Kontor steht.

»Er ist ein guter Kerl, der Uhlig«, sagt Brose.

»Ein prima Mensch«, antwortet Schowe.

»Er hat den Laden in Schwung gebracht, alles was recht ist. Wir kaufen bei ihm.«

»So ist es«, bestätigt Schowe. Er hält den Kopf gesenkt.

»Vorhin hab' ich gesagt, Uhlig, hab' ich gesagt, wenn die Hoffnung nicht war, das habe ich gesagt, Herr Schowe! Ich bin nüchtern. Nach dem neunten Glas bin ich immer nüchtern, Herr Schowe, aber dann das dreizehnte, das bricht einem das Genick! Also ich bin nüchtern, Herr Schowe. Ich sage, der Uhlig ist ein Kerl. Ein Kaufmann ist er! Der hat aus dem Kolk was gemacht mit seinem Laden.«

»So ist es«, sagt Schowe. Er blickt auf die kleine Türe. Er ist unruhig, daß Uhlig nicht wieder zum Vorschein kommt.

Brose hat die Gläser wieder voll gegossen.

»Einen Augenblick«, sagt Schowe. Er geht an die kleine Türe und öffnet sie vorsichtig. Uhlig hockt vor seinem Pult und weint wie ein Kind. Schowe geht hinein, er legt ihm die Hand auf die Schulter.

»Na, na, na«, sagt er aufmunternd.

Uhlig springt auf. Er lacht und die Tränen laufen ihm über den Mund.

»Der Schnaps«, schluckt er. Er reibt sich das Gesicht. Er geht mit Schowe in den Laden zurück. Brose ist eingenickt vor den Gläsern. Die beiden setzen sich zu ihm. Sie stören ihn nicht.

»Es ist nicht mein Wille gewesen, Uhlig«, sagt Schowe leise, »aber was soll ich machen. Wally ist unsere einzige Tochter. Wir müssen an ihre Zukunft denken.«

»Sie haben recht, Herr Schowe«, antwortet Uhlig. »Es war nicht Ihr Wille.«

»Wir werden schon was für Sie finden, Uhlig«, tröstet sich Schowe. »Unsere Mütter waren Freundinnen, so war es. Sie können sich auf mich verlassen.«

Uhlig ist auf einmal vergnügt. Er stößt Brose an und lacht.

»Das schläft und schläft«, lacht er.

Brose fährt auf.

»Teufel auch!« brummelt er. Er tippt gegen die leeren Gläser. Das klingt für eine Sekunde wie Mückenton.

»Bim baum«, macht Brose, »die Gläser sind leer. Das soll uns keiner nachreden.«

Nun sind die Gläser wieder voll.

»Das dreizehnte«, ruft Brose. Er ist aufgestanden und hebt das Glas hoch.

»Nun halt dich fest, Brose«, ermahnt er sich.

Sie trinken. Sie setzen die Gläser langsam hin.

Da ist doch noch wer in den Laden gekommen. Da steht doch noch jemand zwischen uns? Es ist eine runde, gemütliche Kanne, eine große Kanne mit zwei Armen. Eine Kanne mit einem Kopf.

»He, Alte«, blinzelt Brose, »da seid ihr ja, ihr Weibervolk! – Kluck, kluck«, kichert er.

Tina ist an der Türe stehen geblieben.

»Was soll's sein?« fragt Uhlig höflich.

»Sie wollte gar nicht, aber ich hab' sie doch mitgeschleppt. Komm her, Tina«, sagt Frau Brose. »Setz dich dahin. Die Männer sind duhn.«

Schowe ist aufgestanden und gibt Tina seinen Stuhl. Er sagt sogar:

»Bitte, Frau Öffgen«, aber er taumelt ein wenig und stößt ihr den Stuhl gegen das Knie. Tina zuckt zusammen.

»Es hat doch nicht weh getan?« fragt Schowe besorgt.

»Nein«, sagt Tina und lächelt. Ihre Augen sind noch gerötet vom Weinen. Sie setzt sich. Sie sitzt steif auf dem Stuhl. Sie bewegt sich nicht. Sie sagt nur »bitte« und »danke«.

Uhlig will ihr einen Likör einschenken, aber sie wehrt ab.

»Nein, danke«, sagt sie.

Frau Brose hat den gelben Ingwer schon getrunken.

»Was soll ich Ihnen anbieten?« fragt Uhlig Tina.

»Nichts«, antwortet Tina leise.

»Hier wird getrunken«, lallt Brose.

Uhlig sieht sich im Laden um. Er mustert seine Schätze.

Er fragt:

»Soll's Bier sein?«

»Wenn Sie Karamel hätten«, sagt Tina schüchtern.

»Frauenbier«, poltert Brose.

Schowe hat vorsichtig die Jalousie herunter gelassen. Er klinkt die Türe fest zu.

»Doppelmalz«, lobt Uhlig, als er einschenkt.

»Es ist dick und schwer und berauscht nicht«, sagt Tina.

Brose ist wieder eingenickt und Schowe steht unschlüssig da. Er möchte wohl gehen, aber nun sind die beiden Frauen gekommen und man kann nicht unhöflich sein. Er spricht leise mit Frau Brose.

Uhlig steht hinter dem Ladentisch, er sieht Tina an und sagt:

»Es ist sozusagen ein Abschied.«

Tina blickt ihn fragend an.

»Ich werde ausziehen«, erklärt Uhlig. Er ist ganz ruhig und sagt jedes Wort so, als spräche er von einem Dritten. »Herr Schowe braucht den Laden für seinen Schwiegersohn. Es wird ein Versandgeschäft.«

Tina kann das nicht fassen. Sie sieht zu Schowe hinüber, aber der spricht noch immer mit Frau Brose.

»Ja, ja«, seufzt Uhlig.

Nach einer Weile antwortet Tina:

»Das ist wohl nur Ihr Scherz, Herr Uhlig.«

Sie kann es noch immer nicht glauben.

Zwischen beiden ist auf einmal eine große Niedergeschlagenheit. Die ist wie ein verregnetes Fenster. Man steht hüben und drüben, kann sich nicht genau erkennen und wünscht doch, sich dem andern verständlich zu machen. Wie man dann den Rockärmel nimmt und über das Fenster streift, um den andern zu erspähen, so fährt Atze Uhlig mit seiner Hand durch die Luft. Einmal, zweimal hin und her. Dazu fällt ihm ein, was Brose vorhin gesagt hat, und er erwidert:

»Wir kommen und gehen. So ist das nun einmal.« Und er setzt hinzu: »Wir haben keine bleibende Stätte.«

Dann, als er das herausgebracht hat, denkt er wohl: was habe ich da eigentlich gesprochen? Und um sich verständlich zu machen, erklärt er:

»Ich gebe das Geschäft auf.«

Tina hat sich nie sonderlich um Uhlig gekümmert. Sie ist täglich ein paarmal an seinem Laden vorbeigegangen, manchmal auch zu einer Besorgung eingetreten, aber sie haben nie viel Worte gewechselt. Nun hat sie vorhin in dem kleinen Wohnraum des Kahnes über ihre Verlassenheit weinen müssen. Sie hatte sich kaum darüber beruhigt, als sie, von Frau Brose mitgezogen, in Uhligs Laden kam. Als sie dann aber sein gutmütiges Gesicht erblickte, fühlte sie einen kleinen Trost. ›Der gute Nachbar ist noch da. Er ist freundlich und geht hinter seinem Tisch auf und ab‹, hatte sie wohl gedacht. Das ist wie ein kleiner Stern, der sich zwischen vielen Regenwolken hindurchzwängt, ein wenig funkelt und ein bißchen zuversichtlich macht. ›Der gute Nachbar‹, dachte sie. Nun hört sie, er geht – und sie erschrickt. Sie erschrak so, daß sie zitterte.

»Sie werden uns doch nicht verlassen?« fragte sie, und ihr Mund bebte.

Sie begann leise zu weinen.

Uhlig war bestürzt.

»Herr Schowe hat gekündigt«, sagte er entschuldigend.

»Was höre ich denn da?« fragte Frau Brose dazwischen.

Uhlig sah etwas ängstlich auf Schowe. Daß man auch nicht von dieser Ungelegenheit loskommt. Man hat ein Stündchen vergnügt gefeiert. Man war eine kurze Spanne ganz leicht im Kopf. Nun ist das Unheil wieder da, sitzt zwischen den Flaschen und balanciert auf jedem Gläserrand. Läßt sich hinunterschlucken, klettert wieder hoch und hockt im Kopf. Man will gar nichts von ihm wissen, aber es hämmert in den Gedanken herum.

Uhlig zieht das Taschentuch heraus und tupft sich die Stirn.

Herr Schowe hat umständlich die Sachlage dargelegt.

»So«, wettert Frau Brose, »das ist eine Gemeinheit. Sie machen ihn brotlos. So was sollte nicht erlaubt sein.«

Sie spricht so laut, daß Brose aufwacht.

»Das ist nicht erlaubt«, brummelt er.

»Nehmen Sie doch Vernunft an, Frau Brose«, verteidigt sich Schowe. »Was soll ich denn machen? Wally ist unsere Einzige. Wir sind als Eltern verantwortlich. Das gibt auch Herr Uhlig zu. Ich will ihm doch helfen, liebe Frau, das habe ich doch alles schon gesagt.«

Seine Stimme klingt weinerlich.

»Bin ich ein Unmensch?« fragt er.

»Sie wollen ihn also auf die Straße setzen«, beharrt Frau Brose.

Jetzt erst fällt es Uhlig ein, daß er nicht bloß seinen Laden und den Keller, sondern auch die Stube verliert. Also auch die kleine Stube, wo das Bett steht, der Schrank und die Waschkommode. Also auch das Fenster mit dem Fischglas und der Schusterpalme. Also auch die Wand mit den Tapetenblumen und dem Bild von Mutter Uhlig, mit dem Spruch und dem bunten Kalender. Also auch die Tür, durch die man jahrelang gegangen ist. Das alles. Daran hatte man noch gar nicht gedacht.

Atze Uhlig ist so erschüttert, daß er sich gar nicht zu helfen weiß. Er steht einen Augenblick wie eine Bildsäule da, dann bückt er sich pfeilschnell, nimmt ein Staubtuch unter dem Ladentisch hervor und beginnt ohne Sinn und Verstand die sauberen Kruken, darin Reis und Zucker aufbewahrt sind, noch einmal zu säubern. Er reibt an ihnen herum, guckt von rechts und von links, reibt wieder und immer wieder, nimmt den Deckel ab, hält ihn gegen das Licht, haucht dagegen und putzt und putzt, lege den Deckel in irgendeine Ecke und läßt die Kruke offen stehen, geht weiter in seinem Laden, immer hinter dem Ladentisch auf und ab, wischt hier und wischt da, zieht Kästen auf und schiebt sie zu, steht da und sieht seine Gäste an, glotzt von einem zum andern. ›Gute Nacht, meine Herrschaften‹, denkt er, ›gute Nacht, es ist nun Zeit.‹ Er geht um den Tisch, geht langsam durch den Laden. Er hat das Wischtuch wie ein Kellner unter den Arm geschoben, er geht bis zur Türe, er öffnet die Türe und zieht die Jalousie hoch. Er steht in der offenen Türe, das Wasser gluckert sich leise am Kolk vorbei, er sieht zum Himmel empor, es sind Sterne da, und der Kolk ist ganz still. Die Straßen, die unter den Sternen gehn, tragen ein mildes Gesicht, daß sie tagsüber in Tränen stehn, mitternachts wissen sie's nicht.

Uhlig tritt auf die Straße. Er geht bis an das Geländer. Über dem Kahn glimmt fahl und trübe die Öllampe. Er hört Schritte, die über die Steine schlürfen, er sieht sich nicht um, es werden ihm Worte zugerufen, er antwortet nicht.

Er steht lange an dem Geländer, dessen Eisen kalt in seinen Händen liegt. Er steht wie in Gedanken versunken, aber es sind gar keine Gedanken da, es ist ganz leer in seinem Kopf.

Als er sich endlich umwendet und in den Laden zurückgeht, ist der Laden leer. Die Gäste sind fort, nur die bunten Flaschen stehen auf dem Tisch, grüne, gelbe und rote Flaschen, und leere Stühle stehen da, und das Licht brennt noch immer.

*


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