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Jedes Jahr Ende November ging der Invalide Anton Olkers mit einem Rucksack in die Stadt. Er hatte eine Anzahl Bekannte, von denen er vorjährige zerbrochene Spielsachen abholte, die er für wenig Geld zu Weihnachten wieder in Ordnung brachte, frisch bemalte und oft so aufs neue herrichtete, daß die Kinder sie kaum wiedererkannten.

In diesem Jahre gab es für ihn nicht viel zu tun. Das Geld war knapp und die Väter machten sich selbst an die Reparaturen, um den Groschen Arbeitslohn zu sparen. So hatte Olkers außer einem Holzpferd, das nur noch drei Beine besaß, und einem Segelschiff, dessen Mast abgebrochen war, nichts mitbekommen. Doch hatte ihm der Inspektor der Zuckerfabrik in Aussicht gestellt, ihn als Weihnachtsmann zu seinen Kindern zu rufen, wenn er sich auf Brummen und Poltern verstünde und den Kleinen mit ermahnenden Fragen den leibhaftigen Knecht Ruprecht vortäuschen könnte.

Der alte Olkers ging mit hartnäckigem Eifer an dieses Studium. Er wollte seinen Auftraggeber nicht enttäuschen. Von Barbe Wiel ließ er sich aus weißen Wollfäden einen langen Bart herrichten. Auch sollte sie ihm Watte wie Schneeflocken auf den Mantel heften.

In diesen Tagen wichen die Kinder von Stam Öffgen nicht von der Seite des Invaliden. Das Mädchen wollte sich überall behilflich zeigen und hatte allerhand Vorschläge, wie man wohl Antons alten Mantel noch schöner herrichten könnte.

»Ihr dürft mich aber nicht verraten«, sagte der Alte.

Einmal, mitten in all den Vorbereitungen, kam es ihm in den Sinn, daß Gitti und Köppje vielleicht selbst noch an die Wunder der Weihnachtszeit glauben könnten, darum sagte er entschuldigend:

»Man muß Knecht Ruprecht etwas Arbeit abnehmen. Es könnte sein, daß er bei den vielen Kindern irgendwo aufgehalten wird.«

Köppje antwortete:

»Er soll einen Esel haben, der alles trägt.«

Anton erschrak etwas über diese Worte. Er sann ein Weilchen nach.

»Grade der Esel ist oft schuld«, behauptete er endlich. »Er hat seine schwere Last und oft liegt der Schnee sehr hoch. Da geschieht es dann, daß Knecht Ruprecht nicht mit der Zeit auskommt.«

Köppje sah aufmerksam zu, wie der Invalide mit einer feinen Säge ein Bein für das Holzpferd herzustellen versuchte. Als er damit fertig war, ergab es sich, daß dieses vierte Bein zu groß geraten war. So mußte wieder ein Stückchen abgesägt werden. Das Pferd hatte zierliche schwarz lackierte Hufe, und Anton stritt lange mit den Kindern, weil sie behaupteten, daß der Huf des neuen vierten Beines größer wäre als die anderen.

»Das sieht man doch«, sagte Köppje.

Schließlich nahm der Invalide ein Taschenmesser und schnippelte an dem Huf, bis Köppje endlich zufrieden war.

Während dieser Zeit erzählte der Junge alles, was sich an seltsamen Geschichten über die heiligen Wesen, die um die Weihnachtszeit die Menschenkinder beglücken wollen, in seinem Kopfe angesammelt hatte.

Als er dann abends mit der Schwester die Treppe hinaufstieg, lachte er plötzlich.

»Das ist ja alles nicht wahr«, behauptete er. Aber am nächsten Tage saß er wieder bei dem Invaliden und berichtete merkwürdige Geschichten.

»Ich habe ihn selber gesehen«, sagte er, als Anton den Bart umband, den ihm Barbe Wiel angefertigt hatte.

»Sein Bart ist viel länger und weißer«, sagte Köppje.

In diesen Tagen erzählten die Kinder auch, daß ihr Vater zum Fest kommen würde.

»Er bringt mir Muscheln mit«, sagte Köppje, »ich will auch einen großen Fisch haben.«

Sie freuten sich, daß der Vater zurückkam, aber sie machten nicht viel Wesens davon. Sie waren zu sehr daran gewöhnt, daß er kam und ging.

Tina Öffgen kam in dieser Zeit später als sonst nach Hause. Überall wurde zu dem Fest noch einmal gewaschen und reine gemacht, und es gab an allen Ecken zu helfen. Sie war müder als sonst, und wenn sie sich an den Tisch setzte, um das Brot zu essen, daß Gitti schon aufgetragen hatte, geschah es oft, daß sie einschlief. Wenn sie dann die Kinder zu Bett gebracht hatte, war sie zu müde, um sich auszuziehen. Sie setzte sich in ihren Kleidern wieder auf den Stuhl, stützte den Kopf und schlief ein. Oft wachte sie erst mitten in der Nacht auf. Dann war das Feuer im Ofen erloschen und die Nachtluft zog eisig durch das gesprungene Fenster, dessen Riß mit Seidenpapier verklebt war. Tina schrak hoch, weil das Licht noch brannte und wieder ein paar Pfennige nutzlos vertan waren. Sie löschte hastig die Lampe und schlich leise in die Kammer, damit die Kinder nicht erwachten. Sie kleidete sich im Dunkeln aus und stieß sich oft an der harten Kante des Bettes. Wenn sie in die rauhen Kissen kroch, war es wie ein Verstecken.

So war es Tina Öffgen vom Schicksal bestimmt, die heilige Zeit vor Weihnachten zu erleben.

Ein paar Tage vor dem Weihnachtsfest kam Stam Öffgen. Er war groß und gesund. Man merkte ihm an, daß er von der See kam und daß die starke Luft des Meeres seine Lungen gefüllt hatte. Er brachte eine große Muschel für Köppje mit, einen geschnitzten Kasten für Gitti und ein Tuch für seine Frau. Er stand mitten in der Stube, hob die Kinder hoch und setzte sie lachend wieder nieder. Er legte seinen Arm um Tina, klopfte ihr die Wangen und sagte:

»Du siehst schmal aus.«

Dann setzte er sich, trank Kaffee und aß von dem Kuchen, den die Frau noch im letzten Augenblick gebacken hatte. Er behielt den ersten Schluck Kaffee im Munde, so als überlegte er, ob dieser braune Trank es wert wäre, hinuntergeschluckt zu werden.

»Es ist nur wenig Zichorie darin«, sagte Tina.

Stam Öffgen nickte. Er trank die Tasse langsam leer. Er sah seine Frau an, er nickte wieder und ließ sich eine zweite Tasse einschenken.

»Ich habe dir noch etwas zu beichten«, sagte er. »Es ist eine dumme Geschichte. Man hat mir in Marseille das Geld gestohlen.«

Tina Öffgen erschrak, aber sie faßte sich und antwortete nichts als:

»Ja.«

Sie blickte ihren Mann nicht an, denn sie fürchtete, daß er seinen Kopf senken könnte.

Er wollte ihr erzählen, wie es mit dem Gelde gewesen wäre und daß er den estnischen Koch in Verdacht hätte, aber Tina unterbrach ihn:

»Wir wollen jetzt nicht davon sprechen. Du brauchst dir keine Sorge zu machen. Ich habe ein paar Mark zurückgelegt. Vor Weihnachten gibt es ja immer etwas zu verdienen.«

»Du bist eine tüchtige Frau«, sagte Stam Öffgen.

Er streichelte ihre Hand, die für die rote aufgesprungene Haut zu fein gegliedert war. Damals als Stam Öffgen Tina kennen lernte, hatte er sich oft über ihre Hände gewundert: »Man sieht ihnen gar nicht an, daß sie arbeiten.«

Aber nun waren sie von dem ewigen Waschen und den ätzenden Seifenlaugen wund und zerrissen. Es tat Tina Öffgen weh, als der Mann ihr die Hand drückte. Doch ließ sie sich nichts merken.

Später ging Stam Öffgen zu Atze Uhlig in den Laden. Barbe Wiel half hinter dem Ladentisch. Die Kunden kamen und gingen. Es war noch allerhand einzukaufen für das Fest.

Stam Öffgen hatte sich auf eine Kiste in die Ecke gesetzt und ließ sich von jedem begrüßen.

»Wieder da?« fragten die Nachbarn, und er erzählte von seiner Fahrt.

»Was du alles zu sehen bekommst«, sagten die Nachbarn.

Mitten drin in einem solchen Gespräch rief Stam Öffgen plötzlich zu Uhlig hin:

»Weißt du, wen ich in Hamburg getroffen habe?«

Uhlig war mit dem Bedienen der Kunden beschäftigt und antwortete nicht sofort.

»Einen alten Bekannten«, sagte Stam Öffgen. Er nahm es nicht weiter übel, daß Uhlig seine Frage überhört hatte.

»Einen alten Bekannten«, sagte er. »Löders. Du kennst ihn ja. Er hat es satt, sich hierzulande zu quälen. Solch Kahn bringt ja auch nicht viel ein.«

Atze Uhlig hielt jäh inne. Er war gerade dabei, ein Stück Zeug abzuschneiden. Er klappte die Schere hastig zusammen.

»Wen?« fragte er.

»Löders«, sagte Stam Öffgen, »er hat sich anheuern lassen.«

Atze Uhlig bewegte sich nicht. Die Nachbarin, für die das Stück Zeug bestimmt war, sah ihn verwundert an.

Barbe Wiel lachte:

»Er macht ein Gesicht, als käme Post aus Frankreich.«

Uhlig stand noch immer stumm da.

Stam Öffgen sagte:

»Löders will nach Amerika. Das ist kein dummer Gedanke. Er kann's sich schon leisten, er ist ledig. Andere haben Frau und Kinder.«

Uhlig öffnete langsam die Schere und begann wieder das Stück Zeug abzuschneiden.

»Es wird schief«, rief die Nachbarin, »er hat kein Augenmaß mehr.«

Barbe Wiel sah ärgerlich hin.

»Gib her«, sagte sie. Sie schnitt mit umständlicher Vorsichtigkeit weiter.

»Ich muß Lichter heraufholen«, sagte Uhlig leise.

Er ging aus dem Laden. Barbe Wiel schüttelte den Kopf.

»Das hätte doch Zeit bis nachher«, sagte sie zu der Nachbarin.

Uhlig ging in den Keller, den er von Schowe zugemietet hatte. Es war ein grauer, mürrischer Keller gewesen, darin Spinnen gehaust hatten und Würmer. Aber unter Barbe Wiels Fegen und Scheuern hatte sich dieser trübe Raum in ein freundliches Gelaß verwandelt. Nun standen auf sauberen Regalen die Vorräte, die Uhlig für seinen Laden gebrauchte. An dem Tage, an welchem dieser Keller in Benutzung genommen wurde, hatte sich Barbe Wiel gar nicht von dem Anblick trennen können, den er nun bot:

»Du hättest ihn schon früher mieten sollen«, hatte sie gesagt.

»Was Gutes kommt immer zurecht«, gab Uhlig zur Antwort. »Es geht vorwärts, wir haben uns vergrößert.«

Nun stand er in diesem Keller inmitten seiner kleinen Welt, die sauber geordnet aus Holzgestellen ihm entgegenwuchs. Es waren bescheidene Dinge aus aller Herren Ländern. Getrocknete Früchte, die auf großem Schiff gekommen waren, Gewürze, unter fremder Sonne gereift, Heringe von Island und Zündhölzer aus Schweden. Darüber hatte er oft versucht, mit Barbe Wiel zu reden.

»Was alles so zusammen kommt«, hatte er gesagt. »Das liegt nun hier in meinem Laden.«

Barbe Wiel konnte nicht viel damit anfangen.

»Das gibt es doch bei jedem Kaufmann«, hatte sie geantwortet.

Uhlig war immer vergnügt gewesen, wenn er einen Grund fand, in seinen Keller hinabzusteigen. Nun stand er da, sah in die leere Luft und sagte nur:

»Löders ist fort.«

Er kauerte sich auf den Schemel. Seine Gedanken liefen hin und her. Was ist das für eine Welt? Man kommt ihr freundlich und offenherzig entgegen und sie bedient sich eines Freundes, um einen zu Fall zu bringen.

Auch ein Schönwettermorgen hat schon seine List in sich, denkt Atze Uhlig, das sollte man mit vierzig Jahren gelernt haben. Man hatte gut geschlafen, seinen Kaffee getrunken und ging dann an die Arbeit. Die Möwen waren auch schon früh auf den Beinen und warteten auf ihre Brocken.

Man warf Krumen von seinem Frühstücksbrot hoch in die Luft und sie fingen es im Fluge. Auf einmal tauchte am Damm ein Kahn auf. ›Holla, Atze Uhlig!‹ – ›Du, Löders, wieder im Land?‹ – ›Ich komme nachher mal zu dir, Uhlig.‹ – ›Schön, schön‹, – so hatte es begonnen. ›Wir sind Freunde gewesen von Kind auf‹, hatte Löders gesagt, ›kannst du mir nicht helfen?‹ – Da war man zu Schowe gegangen und hatte alles in Bewegung gebracht. ›Ich will aber Ihre Unterschrift‹, hatte Schowe gesagt. Am Abend waren dann die beiden, Löders und Schowe, zu ihm in den Laden gekommen. Schowe hatte den Schuldschein schon ausgestellt. ›Du schreibst noch immer wie gestochen, Atze Uhlig. Schon auf der Schule warst du der Beste. Also dann dank ich auch. Ich wußte ja, auf dich kann man sich verlassen. Wenn du selbst einmal –‹, das hatte Löders gesagt. ›Schon gut, schon gut, Löders, lassen wir das.‹ – ›Wie gesagt, Uhlig, es ist kein Risiko für dich. Ich halte die Frist pünktlich inne, präzise auf Heller und Pfennig.‹ – ›Schon gut, Löders!‹ – Nun war er also fort. Er hatte sich anheuern lassen. Dann war also auch der Kahn nicht mehr da. ›Er gehört Ihnen doch, Löders?‹ hatte Schowe gefragt. ›Selbstverständlich, Herr Schowe!‹ – ›Nun, ich kann mich ja auf Uhlig verlassen!‹

Damit war Schowe gegangen. Ein Vierteljahr war vorbei. Man hatte noch ein Vierteljahr Zeit. Sechs Monate genügen, hatte Löders gesagt, es ist ja nur eine momentane Verlegenheit.

Warum sitze ich hier? denkt Atze Uhlig. Was ist schon passiert? Es ist ja noch Zeit. Er wird bis dahin zurück sein. Er kann das Geld auch schicken. Das wird er schon tun. ›Wir sind ja Freunde von Kind auf‹, hat er gesagt.

Ich bin doch kein Mädchen, das sich gleich einen Schreck einjagen läßt, aber es hat mir doch den Atem verschlagen, denkt Atze Uhlig. Das ist Unsinn! Barbe Wiel hält nicht viel von Löders. Ich kenne ihn besser. Wir haben als Kinder oft unser Brot geteilt. So was bleibt für's Leben.

Atze Uhlig richtet sich hoch, aber er bleibt noch ein Weilchen sitzen.

Vor der halb geöffneten Kellertüre war ein kleiner, erschrockener Schrei. Gitti hatte ihn ausgestoßen. Nun steckte Köppje seinen Kopf durch die Tür und rief:

»Es ist bloß Herr Uhlig!«

Dann war ein lautes, gutmütiges Lachen. Uhlig kannte es. Es gehörte dem Invaliden Anton Olkers. Er war mit den Kindern in den Keller gegangen, um Kohlen zu holen. Während er die großen Stücke kleinschlug, verlangte Köppje eine Geschichte zu hören.

»Aber eine gruselige«, hatte er gesagt.

Der Invalide mußte lange überlegen. Endlich erzählte er:

»Hier im Kolk hat einmal ein Mann gewohnt. Dem war die Frau gestorben. Aber das wollte er nicht glauben, und er wartete darauf, daß sie wiederkäme. Er ging jeden Tag bis zur Brücke und sah das Wasser entlang, denn er bildete sich ein, daß sie auf einem großen Boot mit weißem Segel zurückkäme. Zuerst war er sehr fröhlich gewesen in diesem Gedanken. Er pfiff sich eins, wenn er auf der Brücke stand. Aber nach Jahr und Tag verlernte er das Pfeifen. Das nächste Jahr hat er Tag für Tag auf der Brücke gewartet, ohne einen Ton von sich zu geben. Er stand immer da wie eine Salzsäule. Das Jahr darauf aber begann er während des Wartens zu singen. Er sang Lieder, wie man sie sonst nur in der Kirche hört. Er hatte sich wohl überlegt, daß man Menschen, die vom Tode zurückkommen, nicht mit Trommeln und Pfeifen empfangen darf, sondern nur mit Klängen, die Gott wohlgefällig sind. Aber er wartete vergebens auf der Brücke. Als er das eingesehen hatte, dachte er wohl, daß er zu Hause bleiben müßte, um seine Frau dort in Empfang zu nehmen. Er hat dann immer in seiner Stube gesessen auf dem Stuhle, welcher der Türe gegenüber stand. So ging das wieder ein Jahr. Als die Frau auch in dem nächsten Jahre nicht zurückkam, vergaß er wohl, weshalb er wartete. Wenn er über die Straße ging, blieb er vor jedem Nachbar stehen und fragte: ›Haben Sie nichts für mich?‹ Manchmal dachten die Menschen, daß er betteln wollte, und gaben ihm einen Pfennig. Er nahm die Pfennigstücke und zählte sie Abend für Abend. Wenn man ihn so durch das Fenster unter der Lampe sitzen sah, konnte man wohl annehmen, daß er ein Geizhals wäre, der sich nur mit seinem Gelde beschäftigte. Eines Abends merkte er, daß ein paar Kinder ihre Nasen gegen die Scheibe drückten und ihm etwas zuriefen. Von dieser Stunde an zählte er seine Pfennigstücke nicht mehr in der Stube, sondern er ging damit in den Keller. Wenn man dann abends über den Kolk ging, konnte man einen Lichtschein sehen, der aus dem Kellerloch unter der Straße flackerte. Die Kinder fürchteten sich vor diesem flackernden Licht und sie sagten, es wäre ein böser Zwerg, der in dem Keller zwischen den Kohlen wohnen sollte.«

»Das war hier im Kolk?« fragte Köppje. »Wo ist denn der Zwerg geblieben?«

Bei dieser Frage gingen die drei schon den dunklen Kellergang entlang und die Kinder hielten sich dicht an den Invaliden.

»Manchmal soll er hier noch herumspuken«, sagte Anton. »Da kannst du das Gruseln lernen, Köppje.«

In diesem Augenblick hatte Gitti vor Uhligs Kellertüre aufgeschrien, aber Köppje hatte allen Mut zusammengenommen. »Es ist bloß Herr Uhlig!« rief er.

Als Uhlig wieder in den Laden kam, fragte Barbe Wiel:

»Wo hast du denn die Lichter?«

Uhlig stand mit leeren Händen da.

»Dazu ist der Mensch nun in den Keller gegangen«, meinte Barbe Wiel. Sie mußte wieder den Kopf schütteln.

Stam Öffgen saß noch immer auf der Kiste und erzählte.

»Aber es ist doch so, daß man froh ist, mal wieder zu Hause zu sein«, sagte er

Wenn die Ladentüre sich öffnete, wurde das Schreien der Möwen vernehmbar.

»Es gibt Frost«, sagte Stam Öffgen, »ich höre es.«

*

Am frühen Silvestermorgen schon stand Köppje vor Uhligs Laden und sang. »Heute ist Silvester«, sang er. Auch hielt er die große Muschel, die sein Vater mitgebracht hatte, in der Hand und tat so, als bliese er darauf. Uhlig schenkte ihm eine Handvoll Nüsse.

»Eins, zwei, drei, fünf«, zählte Köppje, als er sie mit Gitti teilte.

Von Barbe Wiel erhielt er ein Stück Weihnachtsstolle für seinen Gesang. Da ihm die Kälte hart zugesetzt hatte, verlangte Barbe Wiel, daß sich Köppje in der Küche ein bißchen aufwärmte, aber er hatte keine rechte Ruhe.

»Ich will noch am Unterdamm singen«, wehrte er ab, »sonst kommen die anderen früher.«

Doch dann lockte es ihn, aus der großen buntgeränderten Tasse warme Milch zu trinken.

»Aber bloß fünf Minuten«, sagte er wie ein Erwachsener.

»Das hab' ich früher auch so gemacht, zu Silvester gesungen«, erzählte Barbe Wiel. »Mit Schowe, euerm Hauswirt, der damals ein Junge war, ging ich von Haus zu Haus. Seine Mutter war jedesmal ärgerlich darüber, aber sein Vater lachte dazu und meinte, das wäre so Brauch. Wir bekamen manchen Dreier zusammen, denn damals war es noch nicht so, daß man jeden Pfennig zehnmal umdrehen mußte, ehe man ihn ausgab. Von dem Geld kaufte Schowe Punsch und von seiner Mutter ließ er sich ein Stück Kuchen einwickeln. Damit gingen wir am Silvestertag, wenn es schummrig wurde, zu einer alten Waschfrau, die am Damm wohnte. Wir haben dann mit ihr den letzten Tag des alten Jahres gefeiert.«

»Mit Herrn Schowe?« fragte Köppje.

»Damals sah er nicht anders aus als du«, antwortete Barbe Wiel, »später kam er auf die höhere Schule. Man will nämlich wissen, daß es mit der Welt besser wird, wenn die Menschen klüger werden. Ich hab' nichts davon gemerkt. Nun, Schowe ist wohl nicht weit genug gekommen auf der hohen Schule.«

Barbe Wiel lachte.

»Du hast mit Herrn Schowe gespielt?« wunderte sich Köppje.

Für ihn war der Hauswirt die Respektsperson im Kolk. Er besaß Pferde und Wagen und jagte einen aus dem Stall, wenn man mit den kleinen wunderlichen Ferkeln spielen wollte. ›Als wenn sie davon kaputt gingen‹, dachte Köppje.

Am Monatsersten steckte die Mutter Geld in eine Tüte. »Das bekommt Herr Schowe, es ist die Miete«, sagte sie. Sie war ängstlich, wenn ein paar Groschen noch daran fehlten. Köppje war stolz, wenn seine Mutter ihn mitnahm. Herr Schowe saß dann vor einem großen Schreibtisch, über dem ein Bild hing, das einen Engel darstellte, der zwei

Kinder, die über eine Brücke gehen wollten, beschützte. Auf dem Schreibtisch lag ein Hund aus Porzellan. Wenn Köppje ihn streicheln wollte, sagte Herr Schowe:

»Liegen lassen. Er ist aus China.«

Herr Schowe hatte sich eine goldene Brille aufgesetzt und zählte das Geld nach, das die Mutter gebracht hatte. Er zählte das Geld langsam und machte dann in einem großen Buche einen Vermerk.

»Sie wohnen wirklich spottbillig, Frau Öffgen«, sagte er immer, »aber ich will keinem das Fell über die Ohren ziehen.«

Die Mutter wagte dann nicht mehr zu sagen, daß die Stube vielleicht einmal gestrichen werden müßte. Sie antwortete nur:

»Schönen Dank, Herr Schowe.«

*


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