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Wenn es zum Herbst ging, kamen die Möwen bis zu den Häusern im Kolk. Sie saßen auf dem Geländer der Holzbrücke, die über den Wasserlauf führte oder umkreisten die breiten Kähne, die hin und wieder sich langsam vorbeischoben, um ihre Ladung nach der Zuckerfabrik hinter dem Damm zu bringen und von dort mit neuer Fracht wieder auf die Reise zu gehen. Die heiseren Schreie der Möwen erfüllten tagsüber die schmale Straße. Seit Jahrhunderten sind sie die Gefährten der Seeleute, sie bewachen die Einfahrt und Ausfahrt der Schiffe, fast ist es so, als wären die bangen Abschiedsgrüße der Frauen am Ufer während all der Zeit in den Klang der Möwenstimme übergegangen, ihre Besorgnis, ihre Angst und ihre Warnung.

Diese plumpen, zärtlichen Vögel schwebten, von gleichmäßigem Flügelschlag gehalten, wie eine weiche Wolke über dem Leben im Kolk.

»Die Möwen sind da«, sagte der Invalide Anton Olkers. Er war verwundert darüber, daß es schon so spät im Jahre sein sollte, denn in dem winzigen Garten neben Barbe Wiels Haus blühte noch eine Rose so, als könnte sich der Sommer nicht vom Kolk trennen.

Barbe Wiel stand vor der Türe und nickte zu Olkers hin.

»Die Möwen sind da«, wiederholte sie. Ihre Sprache war betulich und trug jede Neuigkeit wie ein großes Ereignis.

»Es geht zum Winter, die Möwen kommen schon von der See«, sagte der Invalide noch einmal nachdenklich, ehe er an der Frau vorbei über die Brücke ging. Unter seinem schwerfälligen Schritt klang die Brücke dumpf wie ein Faß. Die Möwen stoben von dem Geländer auf. Für einige Minuten war ein wirres Kreischen.

Atze Uhlig öffnete die Tür seines Ladens und sah neugierig in den schwirrenden Möwenschwarm. Er hielt noch die Schaufel in der Hand, die er zum Abwiegen des Mehls gebrauchte.

»Die Möwen sind da«, sagte er vergnügt vor sich hin.

Wenn es zum Herbst ging, waren die faulen Monate des Sommers vorbei, in denen man nie wußte, wie die Menschen eigentlich lebten. Erst wenn die Tage kälter wurden, besannen sie sich darauf, daß sie auch Petroleum, Wolle und vielerlei Dinge gebrauchten, die Uhlig zu verkaufen hatte. Das alles gab es in seinem Laden. Es war erstaunlich, wie Atze Uhlig all diese Schätze in Regalen, Säcken und Fässern in dem engen Raum untergebracht hatte, so daß immer noch Platz für Menschen war, die beim Einkauf einen kleinen Schwatz liebten.

Barbe Wiel aber hatte das Recht, stundenlang auf einem Stuhl zwischen den Fässern zu sitzen und an allen Gesprächen teilzunehmen. Dafür stellte sie abends für ihn einen Teller Suppe bereit, zu dem er die Zutaten lieferte, und später noch eine Tasse Kaffee, bei der man die Neuigkeiten durchsprach, die man im Laufe des Tages in dem Laden gehört hatte. Sie besorgte ihm auch die Wäsche und half ihm, so gut es ging, die Stube in Ordnung zu halten.

Atze Uhlig ließ sich ihre Obhut gefallen. Wenn man vierzig Jahre lang am Schürzenband der Mutter gelaufen ist, hat man kein Zutrauen mehr zu jungen flattrigen Röcken.

In ihrer letzten Stunde hatte die alte Frau Uhlig den Sohn der Umsicht ihrer Nachbarin anvertraut, und es wäre undenkbar gewesen, daß einer von beiden sich dem Wunsche der Sterbenden entzogen hätte.

So war alles im gleichen Schritt geblieben. Oft wundert man sich, wie wenig durch den Tod eines Menschen sich ändert. Eine Türe öffnet sich, ein Mensch wird hinausgetragen, aber ein anderer tritt herein und das Leben geht weiter.

Uhlig stand am Geländer und warf den Möwen Brocken zu. Dabei ließ er die Ladentüre nicht aus dem Auge. Die Vögel schienen über seiner ausgestreckten Hand mit schlagenden Flügeln in der Luft zu stehen. Er lockte sie, aber sie waren noch zu vorsichtig, um ihm das Brot aus der Hand zu nehmen.

Hinter dem Damm tauchte ein Kahn auf, der mit langer Stange von einem Mann in der Mitte des Wassers gehalten wurde, damit die Planken nicht mit der Steinwand des Ufers in Berührung kämen.

»Holla, Atze Uhlig!«

»Du, Löders, wieder im Land?«

»Mit Kohlen für die Zuckerfabrik. Ich komme nachher zu dir.«

»Tu das, wir haben uns lange nicht gesehen.«

Der Kahn glitt schwerfällig vorbei.

»Da bist du ja«, sagte Uhlig später, als Löders in den Laden trat.

Zuerst wird hin und her geredet. Wie lange haben wir uns nicht gesehen, sagt man. Weiß Gott, wie die Zeit vergeht, und alles gut bei Wege? – Nun ja, so so. – Es sind böse Zeiten und jeder hat sein Päckchen zu tragen. Man muß zusammenhalten, versichert man einander.

Darauf trinkt man eins. Machandelschnaps ist immer gut. Auch am frühen Morgen. Wenn es, wie jetzt, auf Mittag geht, belebt er den Appetit.

»Nehmen wir noch einen«, sagt Löders, »einen für den Magen, einen fürs Herz. Das macht Mut.«

Er hat sich auf das Faß gesetzt und sieht zu, wie Uhlig das Mehl abwiegt.

Es ist alles gesagt.

Nach einem Weilchen beginnt Löders:

»Du kennst mich von Kind auf, Atze«, sagt er, »wir sind Freunde.«

»Das sind wir«, antwortet Uhlig und wiegt weiter ab.

Es ist schönes weißes Mehl, schneeweiß ist es und ohne jedes Tüpfelchen.

»Da ist kein Mausdreck zwischen«, sagt Uhlig.

Aber Löders hört nicht hin. Er will sich in seinem Gedankengang nicht stören lassen. Er geht jetzt grade aufs Ziel los.

»Jawohl, wir sind Freunde. Das sind wir«, wiederholt er.

Er hat was auf dem Herzen, denkt Uhlig, das merke ich doch, und aus seiner Gutmütigkeit heraus fragt er:

»Wo brennt's, Löders?«

Ja, das ist eine verteufelte Geschichte. Man hat Pech gehabt. Man hängt bei seinem Geldgeber. Aber man wird schon wieder rauskommen. Gott sei Dank ist man ja kein Kerl, der sich unterkriegen läßt. Aber im Augenblick sitzt man doch verflucht drin. Wenn man jetzt jemand hätte, der einem unter die Arme greifen könnte. Er kriegt alles auf Heller und Pfennig wieder. Dafür wird man schon grade stehen.

»Du hast wohl zufällig nichts flüssig, Atze?«

»Ich würde es ohne Bedenken tun. Das sei gesagt. Aber nun ist's solche Sache, Löders. Man lebt selbst von der Hand in den Mund. Auch muß man immer wieder was einkaufen und bar bezahlen. Wenn man erst anfängt, Kredit zu nehmen, dann schnürt's einem bald den Hals zu. Wie soll man hier in dem kleinen Laden auch zu Reichtümern kommen? Ist ja alles nur ein Pfenniggeschäft.«

»Weiß ich, weiß ich, Uhlig. Kenn ich selber! Was kommt heute schon dabei heraus, selbst wenn man sich von morgens bis abends schindet. Was hilft's. Trinken wir noch einen.«

Nun geht er, die Hände auf dem Rücken, nachdenklich auf und ab.

Die Kinder von Stam Öffgen kommen in den Laden.

Als andere noch Milchbrei und Pamps bekamen, hat Stam sie schon mit Heringen gefüttert. »Erst fressen wir sie, dann fressen sie uns«, sagt er von den Fischen. Sein Vater und sein Großvater sind draußen ertrunken, und jedesmal, wenn er wieder auf See geht, sagt er zu seiner Frau: »Ein Jahr warte wenigstens.«

Florentine Öffgen ist eine bleiche schmale Frau. Sie hat vom Leben nichts mitbekommen als ihren Namen.

»Tina« wird sie von ihrem Manne gerufen. Er ist stolz darauf, daß ihr Vater bei der Post angestellt war und daß sie selbst im Hause eines Reeders gedient hatte.

Damals, als Stam Öffgen sie kennenlernte, war er bei der Marine. Sie tanzten sonntags zusammen. Tina war ein Mädchen, mit dem man sich sehen lassen konnte. Als sie dann heirateten, zogen sie in die Stadt, denn Tina wollte nicht auf dem Dorfe leben. Stam Öffgen hatte gedacht, sich selbständig zu machen, ein Boot zu kaufen und auf Fischfang zu gehen. Auch ein kleines Haus hätte man haben können, einen Garten und ein Stück Vieh. Nun mußte er sich Arbeit in der Stadt suchen und kam in der Zuckerfabrik an. Es war schließlich gleichgültig, auf welche Weise man seinen Lebensunterhalt verdiente. So dachte er anfangs, aber bald stellte er mit Verwunderung fest, daß ihm eine Unruhe im Herzen saß.

»Ich werd' mich schon gewöhnen«, dachte er, doch gewöhnte er sich nicht.

Als ihn der Vorarbeiter einmal mit harten Worten antrieb, warf er die Arbeit hin. »Ich werd' mir doch von so einer Landratte nichts sagen lassen«, schimpfte er zu Haus.

Nun fuhr er schon jahrelang auf Schleppkähnen bis in die Hafenstadt und ließ sich dort auf großen Schiffen anheuern. Er konnte in vielen Sprachen radebrechen, und wenn er zwischendurch auf Tage oder Wochen zu Hause war, saß er bei Atze Uhlig im Laden und erzählte von fremden Städten.

Man mußte annehmen, daß er die ganze Welt schon bereist hätte. So genau konnte er das Land beschreiben, aus dem Zimt und Ingwer kamen, oder ein anderes, darin Kaffee und Kakao ihren Ursprung hatten. Er war auf Petroleumdampfern gefahren und auf schwedischen Seglern. Er verstand es, solche Berichte in anschaulicher Art zu geben, nicht etwa mit einem Schwall von Worten, sondern in kurzen, beinahe nackten Sätzen, so daß jeder Zuhörer darüber hinaus seine Phantasie spielen lassen konnte. Man hörte ihm gerne zu, und wenn er da war, gaben die Kunden noch ein halbes Stündchen darauf.

Atze Uhlig mußte oft verwundert den Kopf schütteln: so also sieht die Welt aus.

Das war Stam Öffgen. Er brachte seiner Frau bunte Tücher mit. »Sie hält was auf sich«, sagte er, »ihr Vater war bei der Post.« Aber Tina trug diese Tücher selten. Es war wohl so, daß sie mit ihrem Leben nicht zufrieden war.

Die beiden Kinder, die nun bei Atze Uhlig im Laden stehen, werden Gitti und Köppje genannt. Der Junge hält ein zerrissenes Zeitungsblatt in der Hand. Er ist hinter jedem Papierschnitzel her, um ihn schwimmen zu lassen. Er nimmt sich keine Zeit, erst ein Schiffchen zu falten, wie es die Schwester gerne möchte. Es genügt ihm, wenn es schwimmt.

Manchmal wirft er auch ein Stück Bindfaden von der Brücke ins Wasser.

»Das ist meine Angel«, sagt er. Er kommt mit der Hosentasche voll Steinen nach Hause. »Soviel habe ich gefangen«, ruft er und zählt die Steine auf den Tisch.

»Eins, zwei, drei, fünf.«

»Vier«, verbessert ihn Gitti, aber er bleibt dabei und beginnt von neuem: »Eins, zwei, drei, fünf.« Er verlangt auch, daß die Schwester ihm die Fische kocht. »Das sind Steine«, sagt Gitti. – »Fische sind's«, behauptet Köppje. Er wird ärgerlich, weil es die Schwester nicht glauben will, trampelt mit dem Fuß und sein runder Kopf wird rot.

»Du mußt dir die Hände waschen«, mahnt Gitti.

»Nein«, sagt er und spreizt die schmutzigen Finger. Er ist stolz darauf, daß sie schwarz sind und daß man sieht, wie er tagsüber zwischen den Teerstricken herumgekrochen ist.

»Willst du einen Bonbon haben?« fragt Atze Uhlig.

Köppje nimmt das Zuckerstück und steckt es in die Tasche. Da hinein tut er zunächst einmal alles, was er ergattert. Später wird es sich entscheiden, was er mit den Dingen anfängt.

Als die Kinder aus dem Laden sind, lacht Uhlig:

»Das wird mal ein tüchtiger Bursche, der Köppje.«

Seine Gedanken sind mit den beiden Kindern beschäftigt, daß ihm das Gespräch von vorhin ganz aus dem Sinn kommt.

»Es sind die Kinder von Stam Öffgen«, sagt er, »die Mutter kann froh sein, daß sie so verständig sind. Sie geht waschen, da sind die Kinder allein. Wenn der Mann zurückkommt, bringt er Geld mit, aber das reicht nicht lange. Er hat eine lockere Hand.«

»Ja, das Geld«, sagt Löders, »da hinkt der Hase. Das ist schon eine Not.«

Eine ganze Weile ist nichts als das Klappern der Waage, auf der Uhlig wieder das Mehl abwiegt.

»Wie gesagt«, beginnt Löders von neuem, »ich hab' gedacht, sprichst mal bei deinem alten Freund Uhlig vor. Vielleicht weiß der einen Weg. Ich kann mir schon denken, daß du nichts auf der hohen Kante hast, aber es könnte ja sein, daß du als Geschäftsmann, der Land und Leute kennt, einem einen Fingerzeig hättest geben können. Nun, wenn's nicht ist, schadet nichts. Darüber wollen wir in gutem Einvernehmen bleiben.«

»Halt«, sagt Uhlig.

Löders, der das leere Glas zwischen den Fingern gedreht hat, stellt es plötzlich hin.

»Was?« fragt er und sieht hastig auf.

»Ja«, sagt Uhlig. »Das wär's vielleicht. Komm doch heute abend noch mal. Ich will mit Schowe sprechen.«

»Schowe?« fragt Löders.

»Er hat wieder Acker an die Zuckerfabrik verkauft«, erzählt Uhlig, »der weiß schon, wie man Geld macht. Die wollen ja weiter bauen. Ein neues Maschinenhaus soll dahin. Es war ein schönes Ackerstück, aber die Fabrik fragt nicht danach, die frißt bloß.«

»Er hat doch viel in den letzten Jahren verkauft«, sagt Löders.

»Da sitzt die Frau hinter. ›Mein Mann ist Hausbesitzer‹, sagt sie, ›er macht Geldgeschäfte.‹ Krieg keinen Schreck, Löders, ein Halsabschneider ist er nicht. Das bleibt alles in seinen Grenzen. Aber sie möchte gerne, daß er was Besseres vorstellt als Ackerbürger. Sie geht auf den Rentier los. Du hast wohl schon gesehen, der große Dunghaufen auf dem Hof ist auch schon weg.«

»Ja«, sagt Löders. Er hat das leere Glas genommen und dreht es wieder nachdenklich zwischen den Fingern. »Es sollte mich ja wundern«, setzt er hinzu, »ich habe mit Schowe mein Lebtag keine zehn Worte gesprochen. Du kennst ihn ja besser, vielleicht tut er's.«

»Heute abend«, sagt Uhlig noch einmal, als er mit Löders schon vor dem Laden steht.

Über dem Damm ist Sonne und der Kolk ist ganz hell. Die Möwen sitzen jetzt auf dem Geländer zum Unterdamm. Ein Kahn fährt vorüber. Vom Deck flattert Wäsche. Ein Hund läuft bellend auf und ab vor der Kajüte. Der Schiffer grüßt laut herüber.

Löders ist gegangen. Er geht mit großem, ein wenig wiegendem Schritt, den Kopf hält er gesenkt. Auch der Rücken ist etwas gebeugt. Er hat Sorgen, denkt Atze Uhlig.

*

Das Haus, darin Uhlig wohnt, ist ein dreistöckiges graues nüchternes Haus. Es hat einen breiten Torweg, damit Schowes Wagen und Ackergeräte ein- und ausfahren können. Dieses Haus ist vor Jahren auf Betreiben von Frau Schowe gebaut worden. Ursprünglich stand hier ein kleines einfältiges Haus, worin zu ebener Erde der Ackerbürger Schowe wohnte, während in dem engen Obergeschoß Frau Uhlig mit ihrem Sohne lebte. Auf dem Hof hinter dem Hause zwischen den Stallungen und den Remisen hat Atze Uhlig seine Kindheit verbracht. Damals war von der Stadt nicht viel zu merken. Man lebte auf dem Lande. Frau Uhlig war mit der alten Frau Schowe befreundet. Sie half auf den Feldern mit, in den Kartoffel- und auf den Rübenäckern. Es gab Erntetage, an denen man nach schwerer Arbeit in der Küche bei Schinken und gebratenen Kartoffeln saß. Oft wurde auch Kuchen gebacken und den Kaffee, den man dazu trank, brannte man selbst. Vor dem Hause fuhren die Kähne vorbei nach der Zuckerfabrik. Aber damals hatte die Fabrik nur einen Schornstein und die Gebäude waren zum größten Teile noch Fachwerkbauten. Es war eine Fabrik, die nichts verschlang, eher war es eine gemütliche Werkstatt, darin gekocht und gesiedet wurde.

Wenn der alte Schowe seine Zuckerrüben dorthin fuhr, war für den kleinen Atze Uhlig jedesmal ein Festtag. Er stand dabei, wenn die drolligen, vielgestalteten Rüben in den großen Vorratsraum geschippt wurden, und war glücklich, wenn er von dem Lagerverwalter braunen Kandiszucker geschenkt bekam. Während der Hauptzeit arbeitete seine Mutter wochenlang in der Fabrik, denn der Vater war früh gestorben und die Mutter mußte jeden Pfennig Verdienst mitnehmen. Für Atze war das eine schöne Zeit. Er konnte dann auf dem Fabrikhof spielen, mit den Kindern des Portiers und des Inspektors. Abends ging er mit seiner Mutter nach Hause, und sie hatte immer irgend etwas von ihrer Arbeit zu erzählen. Für Atze stand es fest, daß die Zuckerhüte, die man zu Weihnachten beim Kaufmann sah, alle samt und sonders ihr Dasein einzig und allein seiner Mutter zu verdanken hatten.

Das war die Kindheit.

Nun war das alte einfältige Haus niedergerissen und an seiner Stelle erhob sich das neue, dessen Mietserträge pünktlich von Herrn Schowe einkassiert wurden. Bis zum Unterdamm reichten jetzt die Mietshäuser, in denen Menschen monatlich ihren Zins entrichten mußten, nur um in dieser sonderbaren Welt ein Unterkommen zu haben, vier Wände, die ihnen niemals zu eigen gehören würden und für die sie am Ende ihres Lebens eine Geldsumme ausgegeben hatten, mit der sie, wenn das Schicksal sie nicht von der Hand in den Mund leben ließe, längst eigenen Grund und Boden hätten erwerben können.

In dem Hause des Herrn Schowe wohnten Menschen, denen es schwerfiel, die Miete aufzubringen, obgleich man nicht hätte sagen können, daß diese Miete übermäßig hoch gewesen wäre. Es war sogar den andern Häusern gegenüber ein bescheidener Mietssatz. Frau Schowe drängte wohl oft auf eine Erhöhung, aber ihr Mann wehrte sich dagegen, weil er nicht wollte, daß es von ihm hieße, er zöge einem Mitmenschen das Fell über die Ohren.

An dieses Haus grenzte ein Ackerstück, das auch Schowe gehörte. Es wurde nicht sonderlich ausgenützt, es diente mehr für den Gemüsebedarf. Früher wurde es von der alten Frau Schowe mit besonderer Liebe bestellt, aber jetzt verwendete man wenig Mühe darauf. Es war auch ein Stück Land, das für eine Spekulation kaum in Frage kam. Wenn überhaupt einmal, so würde es doch lange Jahre dauern, bis man auf den Gedanken käme, aus dem Kolk eine neuzeitliche Straße erstehen zu lassen.

Auf der anderen Seite dieses Feldstreifens lag das Haus der Barbe Wiel. Wenn man auf dem Damm stand, hatte es den Anschein, als verkröche sich dieses Haus in die Erde. Eigentlich war es nur ein Dach, das wie ein brauner Pilz aus dem Boden wuchs. Hier lebte Barbe Wiel mit ihren freundlichen fünfzig Jahren.

Wie man ein Jahr in Jahreszeiten einteilt, so hatte auch sie ihr Leben eingeteilt, nach ihrer Mutter, nach ihrem Manne und nun, da beide tot waren, hieß der Herbst ihres Lebens Atze Uhlig.

Als sie jetzt aus der Türe trat, sah sie Löders die Stufen zu dem Boot heruntersteigen.

Sie hat einen dicken grauen Rock an, darüber eine blaue Schürze. Über der Bluse mit den ausgebuchteten Ärmeln trägt sie ein schwarzes Tuch. Ihr Haar ist glatt gestrichen. Von dem Tuch, das sie umhat, trennt sie sich nur selten. Was gegen die Kälte gut ist, hilft auch gegen die Hitze, sagt sie. So trägt sie es sommers und winters. Aber es ist noch ein anderes. Dieses Tuch hat ihr Leben mitgelebt. Es hat Schluchzen gehört und Lachen, aber es hat wohl mehr Tränen erfahren als Freuden. Dieses Tuch ist weich wie ein guter Abend. Es umschmiegt zärtlich die kleinen Wirrnisse eines einfachen Herzens.

Als Barbe Wiel zu Uhlig in den Laden kommt, fragt sie:

»War das nicht Löders?«

»Wir haben einen Schnaps getrunken«, sagt Uhlig.

»Daß er sich mal wieder sehen ließ«, antwortet Barbe Wiel und setzt sich auf den Stuhl, der zwischen den Fässern steht. »Er ist ein Gernegroß«, ihm paßte es hier nicht. Immer hatte er Flausen im Kopf. Bald dies, bald das. Er hätte mit seiner Erbschaft einen Laden aufmachen sollen wie du, aber statt dessen muß es ein Kahn sein. Abends geht's dann in die Hafenkneipe, das kennt man. Ich möchte wissen, was von dem Geld noch da ist.«

»Schowe hat den Acker verkauft«, lenkt Uhlig ab.

»Seine Tochter bekommt jetzt Klavierunterricht«, sagt Barbe Wiel.

Uhlig lacht. »Wally«, lacht er belustigt.

Wenn Wally Schowe die Treppe herunterkommt, schüttert das Haus. Sie muß rosa Kleider tragen. Junge Mädchen sind wie der Frühling, sagt Frau Schowe. Sie hat es irgendwo gelesen. Im Winter geht Wally Schowe eingezwängt in knapper Pelzjacke. Sie bekommt Schlittschuhe über den Arm gehängt und wird mit ihren Freundinnen auf die Eisbahn geschickt. Wally treibt Sport, nennt das die Mutter.

Wenn der große Hausbesitzerball ist, kommt die Friseuse schon vormittags. Wally soll einen griechischen Knoten haben, sagt die Mutter.

Es ist auch ein junger Mann da, der Wally verehrt. Herr Peine ist ein höflicher Mensch, urteilt Frau Schowe. – »Er hätte Sattler werden sollen wie sein Vater«, sagt ihr Mann, »so nennt er sich Kaufmann und ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Was ist schon ein Kaufmann, der kein eigenes Geschäft hat. Wenn's seinem Chef paßt, setzt er ihn an die Luft.«

»Herr Peine hat sein Vielliebchen verloren«, berichtet Wally, »er hat mir dies Bild geschenkt.« Es ist das Bildnis einer Sängerin im Silberrahmen. Es wird auf dem Klavier stehen, das Frau Schowe anzuschaffen beabsichtigt.

Manchmal kommt Wally in Uhligs Laden und kauft eine Tüte Zuckerwerk. Das darf niemand wissen. Zucker macht dick, hat die Mutter gewarnt.

Wally hat große Hände und dumme langsame Finger. Nun wird sie Klavierspielen lernen.

Wenn Atze Uhlig während der Geschäftszeit eine Besorgung hat, bleibt Barbe Wiel so lange im Laden.

»Ich will nur mal schnell zu Schowe hinaufspringen«, sagt Atze Uhlig etwas verlegen.

»Was ist denn?« fragt Barbe Wiel.

»Ich soll für Löders was fragen«, gesteht er zögernd, »ich hab's ihm versprochen.«

»Wohl Geld?« erkundigt sich Barbe Wiel, aber Uhlig ist schon aus dem Laden.

»Guten Tag, Herr Uhlig«, sagt Wally und errötet. Sie wird immer leicht rot.

Sie läßt Uhlig vor der Korridortüre stehen und ruft in die Stube hinein:

»Herr Uhlig ist da!«

Vom Sofa her sagt Schowe: »Kommen Sie herein, Uhlig!«

Die eine Ecke des Zimmers ist ausgeräumt.

»Da soll das Klavier hin«, sagt Schowe, »es kommt morgen.«

»Nußbaum mit goldenen Leuchtern«, setzt Frau Schowe hinzu.

»Ich störe doch nicht?« fragt Uhlig.

»Sie kommen wegen des Kellers«, sagt Schowe, »das können wir gleich perfekt machen. Ich denke, fünf Mark im Monat ist nicht zu viel. Da haben Sie eine schöne Niederlage.«

»Jawohl«, antwortet Uhlig.

»Wenn ihr es schriftlich gemacht habt, können wir essen«, sagt Frau Schowe und geht hinaus.

Atze Uhlig atmet auf. Er hätte im Beisein der Frau kein Wort wegen Löders herausgebracht. Nun will er die Zeit wahrnehmen, solange sie draußen ist.

Er sagt: »Ein Wort noch, Herr Schowe!«

»Fünf Mark ist doch billig.«

Schowe schiebt Uhlig den Vertrag hin. Alles muß seine Ordnung haben.

»Es ist nicht deswegen. Ich habe da einen Freund. Löders heißt er. Er fährt auf eigenem Kahn. Sie kennen ihn doch?«

»Löders? Löders?« überlegt Schowe. »Richtig, der!« Dabei bewegt er die Finger, als wollte er Löders' langes Gesicht in die Luft zeichnen.

»Stimmt«, sagt Uhlig.

Dann trägt er die Schwierigkeit vor, in die Löders vorübergehend geraten wäre. Er steht für jeden Pfennig grade. Da ist nichts zu verlieren.

»Was erzählen Sie mir das?« brummelt Schowe.

»Ich dachte, daß Sie ihm aus der Klemme helfen könnten«, sagt Uhlig bescheiden. »Sie haben doch jetzt das Geschäft mit der Zuckerfabrik abgeschlossen, wie man erzählt.«

Schowe ist geschmeichelt, daß man sich an ihn wendet und daß die Nachbarschaft etwas von seinen Geldgeschäften ahnt. Er steht auf und geht mit langsamen Schritten durch das Zimmer.

»Lieber Freund, was das hier alles kostet! Nein, so leid mir's tut, es geht nicht.«

»Wir sind alte Freunde von Kind auf, Löders und ich«, sagt Uhlig, »da muß man einer für den andern einstehen. Ich hätte es ihm selber gegeben, wenn ich's hätte. Tun Sie mir den Gefallen, Herr Schowe.«

»Lieber Freund«, antwortet Schowe wieder und verstummt.

Uhlig ist unruhig, daß Frau Schowe jetzt vielleicht in das Zimmer kommen könnte.

»Sie sind ein Mensch mit Herz«, sagt er, »die ganze Gegend weiß es.«

Schowe legt Uhlig die Hand auf die Schulter. »Ich bin jetzt über fünfzig und habe schwer gearbeitet in meinem Leben. Das ist bekannt. Ich kann doch mein Geld nicht so weggeben. Gehört denn Löders der Kahn?«

»Selbstverständlich«, sagt Uhlig.

»Das muß man wissen«, entscheidet Schowe. »Wenn ich es täte, wäre es nur Ihretwegen. Ich kenne Sie genau. Sie sind ein zuverlässiger Mensch. Aber Löders kenne ich nicht. Da müßte ich einen Bürgen haben.«

»Wenn Sie meinen«, wirft Uhlig ein.

»Gut«, sagt Schowe. »Wenn ich Ihre Unterschrift mitbekomme, können wir drüber sprechen. Über die Prozente werden wir uns schon einigen.«

»Meine Unterschrift?« wundert sich Uhlig.

»Ihre. Sie halten doch Löders für gut? Sonst wären Sie ja wohl nicht für ihn hergekommen. Es ist auch nur für alle Fälle.«

»Natürlich«, sagt Uhlig.

»Abgemacht, ich komme heute abend zu Ihnen hinunter. Wir wollen keine Frauensleute dazwischen haben.«

Schowe streckt seine Hand aus. Für ein paar Sekunden hängt sie derbe und schwer in der Luft. Dann schlägt Uhlig ein.

»Und, wie gesagt, der Keller ist wirklich preiswert«, sagt Schowe im Korridor.

Die Tür schlägt dann zu und das schlecht verkittete Fenster klirrt.

*


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