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Gorlice

Mit wenigen Strichen sei zuvor der hauptsächliche Gang der Ereignisse in diesem Kriegsabschnitt gezeichnet.

Die vom Generaloberst v. Mackensen unmittelbar befehligte 11. Armee sollte bei Gorlice, die ihm ebenfalls unterstellte österreichische 4. Armee nördlich davon bei Tarnow durchstoßen. Südlich hatte sich der linke Flügel der k.u.k. 3. Armee anzuschließen. Der Angriff begann am 2. Mai. Am 16. Mai erreichten die Anfänge Przemysl. Die Garde ging bei Jaroslau über den San. Der Widerstand am San hielt aber noch bis Ende Mai. Am 1. 6. fiel Przemysl. Am 12. 6. wurde die Sieniawa-Stellung genommen und in Richtung Lemberg durchgestoßen. Am 19. 6. waren die Russen bei Rawa Ruska geschlagen.

Man entschloß sich Ende Juni, die Offensive nach Norden fortzusetzen, und dabei die neugebildete Bug-Armee rechts der 11. Armee zu unterstellen. Der Russe setzte bei Kraßnik einen starken Gegenstoß an. Gleichzeitig mit der Fortsetzung der Offensive Mackensens wurde die 12. und Teile der 8. Armee offensiv über den Narew angesetzt. Die österreichische 2. und die Südarmee sollten in Ostgalizien vorrücken. Sie erreichten Mitte Juli die Zlota Lipa. Gleichzeitig trat Mackensen wieder an. Im August wird Brest-Litowsk genommen. Danach wurde die Frontlinie noch bis Cernowitz-Pinsk-Naroc-See vorgetrieben.

Ehe man zu den Ereignissen des Durchbruchs von Gorlice-Tarnow selbst kommt, wird man sich ganz kurz die beiden führenden Männer, den Oberbefehlshaber und seinen Generalstabschef, als Persönlichkeiten und ihr Verhältnis zueinander vor Augen führen müssen. Es ist dies sonst schon geschehen. Dennoch wird es hier nicht völlig fehlen können.

Es ist unrichtig, wenn man bei dem Verhältnis zweier so eigener Persönlichkeiten von außerordentlichem Wert immer wieder nach einer Schablone der Benennung sucht. Der Vergleich mit Blücher-Gneisenau reicht nicht aus, schon deshalb, weil das Verhältnis von Blücher und Gneisenau zu oft falsch charakterisiert worden ist. Blücher hat in all seinem Herzenstakt stets versucht, die Fülle der Ehren so zu verteilen, daß Gneisenau den ihm zukommenden Teil abbekam. Nicht anders hat Mackensen gehandelt. Es sind manche Äußerungen von Blücher über Gneisenau so gewertet worden, als wenn Blücher ein primitiver Draufgänger und Gneisenau allein der feine Kopf gewesen wäre. So war es nicht. Sie haben sich gegenseitig in einer Weise ergänzt, die der Außenstehende nachträglich doch nicht mehr aufspüren kann. So ist denn der Vergleich mit diesem ersten großen Führerpaar sowohl für die Einheit Hindenburg-Ludendorff wie für die Einheit Mackensen-Seeckt von vornherein nicht recht zu halten. Seeckt selbst hat an sein Verhältnis zu Mackensen gedacht, als er über die Stellung des Oberbefehlshabers und seines Chefs zueinander schrieb Seeckt: »Gedanken eines Soldaten«.. »Der Führer befiehlt verantwortlich selbst, und er hat nur den Rat eines Mannes zu hören, der ihm beigegeben ist, seines Chefs. Unter vier Augen wird der Entschluß gefaßt, und wenn die beiden Männer heraustreten, so ist es eben ein Entschluß, sie haben ihn zusammengefaßt, sie sind beide eins. Gingen die Meinungen auseinander, so wissen am Abend dieses glücklichen militärischen Ehelebens die beiden Hälften selbst nicht mehr, wer nachgegeben hat. Die Außenwelt und die Kriegsgeschichte erfahren von einem Ehezwist nichts. In dieser Verschmelzung der beiden Persönlichkeiten liegt die Sicherheit der Befehlsführung.« Immer aber ist es Seeckt selbstverständlich gewesen, daß der, der die Verantwortung trägt, vor der Mitwelt und Nachwelt an erster Stelle bleibt. Er mag wohl gelegentlich das Wort, ein Generalstabsoffizier müsse mehr sein als scheinen, auch zitiert haben. Er hat diesem Gedanken aber von sich aus eine viel härtere und seinem ganzen Wesen entsprechend bedingungslose Form gegeben, als er das Wort niederschrieb: Generalstabsoffiziere haben keinen Namen Man hat diesen Satz: »Generalstabsoffiziere haben keinen Namen« gelegentlich für ein von Seeckt selbst geprägtes Wort gehalten, weil es in den »Gedanken eines Soldaten« steht und dort nicht als Zitat erkenntlich ist. Die »Gedanken« sind 1928 erschienen. Seeckt hat aber gewußt, daß das Wort nicht von ihm stammte. Im Januar 1916 machte ihm jemand, der Biographien der »Geistigen Führer Deutschlands« herausgeben wollte, den Vorschlag, auch eine Seeckt-Biographie zu schreiben. Seeckt schrieb eine Ablehnung an den Rand und fügte den erwähnten Satz hinzu, hier aber bewußt als Zitat in Anführungsstrichen. Übrigens sind Seeckts Randbemerkungen in diesem Brief auch sonst recht interessant. Der Antragsteller schreibt: »... Wiederholt ist mir, namentlich auch in militärischen Kreisen, die Euer Hochwohlgeboren Leistungen hoch und richtig einschätzten, usw.« Seeckt schreibt daneben: »Das genügt mir vollkommen.« Der Briefschreiber gibt dann eine seiner Ansicht nach »irrige Auffassung« über die Stellung Seeckts zum Feldmarschall v. Mackensen wieder. Seeckt schreibt daneben: »Wie sollte mich eine irrige Ansicht zur Aufgabe der meinen veranlassen!« Zum Schluß meint der Briefschreiber: »... Man kann nicht über einen Marschall Vorwärts schreiben, ohne seinen Gneisenau zu kennen.« Die Randbemerkung Seeckts dazu: »Das ist das Ende des Historikers!«. Freilich, ihm hat die Geschichte auch als Generalstabsoffizier einen Namen gelassen. Diese Tatsache sagt viel aus über ihn, ganz gewiß aber noch mehr über die echte Größe seines Oberbefehlshabers. Wenn in den Ausführungen über den Feldzug in Galizien und später über den in Serbien die Persönlichkeit Seeckts mehr hervortritt, als die seines Oberbefehlshabers, so hat das also lediglich seinen Grund darin, daß es sich hier um den Anteil Seeckts an den Ereignissen handelt. Er selbst wäre der letzte gewesen, der die übergeordnete Verantwortlichkeit seines Feldmarschalls nicht anerkannt und betont hätte.

Man hat Generalfeldmarschall v. Mackensen allzu häufig mit Blücher verglichen. Man tut ihm damit sicher unrecht. Daß beide recht gute Reiter sind, beide in hohen Lebensjahren von einer erstaunlichen Frische, beide zu siegen gewußt haben und schließlich beide Husaren sind, zwingt alles ja noch nicht dazu, Mackensen als einen zweiten Blücher und zweiten Marschall Vorwärts zu kennzeichnen. Feldmarschall v. Mackensen ist unbedingt eine Persönlichkeit, die ihr eigenes Recht hat. Mackensen ist tatsächlich Mackensen, und das soll man ihm lassen. Freilich hat er mit Blücher etwas gemeinsam, was zu betonen ist, nämlich den ungewöhnlichen Herzenstakt und die Gabe, die Menschen zu einen. Wenn es schon bei Blücher falsch ist, ihm wohl das Können zu lassen, aber das Wissen abzustreiten, so ist das bei Mackensen noch verkehrter. Er besitzt ein ganz bedeutendes praktisches und theoretisches Wissen. Zu seinen Kritiken drängte sich auch der junge Leutnant. Er kam, selbst wenn es ihm freigestellt wurde, fortzubleiben. Die Sprache Mackensens war überaus lebendig. Wer eine gelegentliche Bemerkung über Mackensen als den Hofmann weitergab, der kannte diese Edelmannsnatur nicht so, wie das gesamte Offizierkorps seines Armeekorps ihn kannte. Übrigens hat hierzu Seeckt einmal in einem Brief eine Bemerkung gemacht: »Mackensen imponierten weder Titel noch Orden noch Rang. Durchaus nicht weil er sie mißachtete, sondern weil er an sie gewöhnt war. Er stand über diesen Dingen, die der Fernstehende selbst dann zu hoch bewertet, wenn er sie gering zu achten versucht.« Das trifft das Wesentliche, die Eigenschaft, die Dinge nicht gering zu achten und doch über ihnen zu stehen. Seeckt hat selbst zum 80. Geburtstag des Feldmarschalls über seinen alten Oberbefehlshaber geschrieben: »... Ein preußischer General! Mackensen wird auf diesen Titel nicht verzichten wollen. So gern verbindet man mit diesem Preußentum den Begriff abweisender Härte. Ich bin Zeuge gewesen, wie dieser Preußengeneral im Kriege der ideale Bundesfeldherr wurde, wie Österreicher und Ungarn, wie Bulgaren und Türken mit Vertrauen, ja mit Liebe ihm folgten, wie seine ritterliche Persönlichkeit, sein Verständnis für andere Menschen und andere Verhältnisse, die gleichbleibende Ruhe in Wort und Haltung, die sichere und taktvolle Wahrung seiner Stellung nicht nur seiner Person, sondern in ihr der deutschen Führung Achtung verschafften … Die Grundlage menschlicher Größe ist nicht der Intellekt, nicht das Wissen, sondern der Charakter. Aus ihm stammt das Können, die Tat; er ist das Entscheidende beim Soldaten, beim Feldherrn. Wie die Kriegskunst keine Geheimwissenschaft, sondern das Ergebnis logischen Denkens, so ist auch das Feldherrntum die Summe menschlicher Charaktereigenschaften. Ich will versuchen, mit wenigen Worten das Bild des Feldmarschalls zu umreißen, wie seine Gestalt überzeitlich ist. Die Tatkraft steht in erster Linie, der Wille zum Sieg, der Untätigkeit mehr scheut als den Fehlgriff bei der Wahl der Mittel. Die Verantwortungsfreudigkeit für den Entschluß und zugleich das Verantwortungsgefühl für den Einsatz. Die Selbstlosigkeit, die nur an das Ziel, nicht an den Nachruhm denkt. Das Selbstgefühl des zum Befehl Berufenen und die Bescheidenheit gegenüber der höheren Gewalt. Das Maßhalten im Erfolg und das Ausharren im Unglück. Liebe und Fürsorge für jeden, der seiner Führung anvertraut ist, und die Treue für den Kameraden.« Und der Feldmarschall hat wiederum Wolfgang Foerster, Mackensen. über Seeckt geschrieben: »... So ungern ich mich von meinem vortrefflichen Armeechef General Grünert getrennt hatte, so erkannte ich doch vom ersten Augenblick des Zusammenwirkens mit dem neuen Chef dessen hervorragende Eignung für den schwierigen Posten. Militärisch hochbegabt und vielseitig gebildet, von durchdringender Verstandesschärfe, klar, knapp und bestimmt im Urteil, beherrschte Seeckt alle Zweige des Generalstabsdienstes und der Armeeführung mit vollendeter Sicherheit. Bei aller Gründlichkeit und Genauigkeit im Erfassen und Durchdenken der jeweiligen Lage bis in ihre Einzelheiten, wahrte er sich stets beherrschenden Überblick über das große Ganze. Unbestreitbar lag etwas Geniales in seiner Natur, das ihn zu hohen und höchsten Führerstellen befähigte … Zeitlebens fühle ich mich General von Seeckt zu unauslöschlichem Danke verbunden, nicht nur für das, was er ein Jahr hindurch an meiner Seite geleistet hat, sondern auch für die selbstlose, des preußischen Edelmannes würdige Art, wie er seinen Dienst versah …«

Am 20. 4. setzen sofort in Teschen die Besprechungen ein. Etwas »benehmend«, wie Seeckt sich ausdrückt, ist die Menge der neuen Menschen; »lauter Erzherzöge«. Zunächst bespricht er sich ganz kurz mit seinem neuen Ia, dem Major von Bock. Alsdann kommt eine längere Konferenz mit Conrad und mit dem Chef der Operationsabteilung, General Metzger, und die Meldung beim Erzherzog Friedrich. Am 21. siedelt Seeckt in das neue Hauptquartier der 11. Armee, Neu-Sandec, über. Vier Tage darauf Das Amtliche Kriegswerk gibt den 22. irrtümlich an. trifft Generaloberst von Mackensen ein, und kurz danach kommt der grundlegende Befehl des österreichischen A.O.K. Er enthält nach Sinn und Wortlaut das gleiche wie die Weisung der deutschen O.H.L. k. u. k. A.O.K., Op.Nr. 9354 v. 22. 4.15. Das Datum ist wohl nachträglich festgelegt. Seinem Inhalt nach war dieser Befehl jedenfalls am 20. Seeckt bekannt. Der Befehl enthält vor allen Dingen den Auftrag:

»...

2. Die 11. Armee wird über die allgemeine Linie Gorlice–Gromnik nach Osten vorstoßen, um im Verein mit der 4. Armee die russischen Stellungen zu durchbrechen und im weiteren Verlauf die russische Karpatenfront westlich des Lubkower Sattels unhaltbar zu machen. Allgemeine Richtung für den stark zu haltenden Südflügel Zmigród– Dukla–Sanok.

3. Die einheitliche Leitung der Offensive der 11. und 4. Armee wird dem Kommandanten der deutschen 11. Armee, Generaloberst v. Mackensen, übertragen. Das 4. Armeekommando wird ihm für die Durchführung dieser Aktion unterstellt, deren Schutz in der nördlichen Flanke im Raum bis zur Weichsel eine wichtige Aufgabe der 4. Armee bilden wird.

...

5. Die 3. Armee deckt die Südflanke der 11. Armee …«

Sinn und Zweck des ganzen Unternehmens ist also ganz deutlich eine Entlastung der Karpatenfront. Man muß sich hier schon einmal vergegenwärtigen, was das A.O.K. 11, am endgültigen Erfolg gemessen, aus diesem Auftrag nachher gemacht hat.

Der erste Eindruck: »... Es ist eine komische Legend um Neu-Sandec. Der Ort ist einer der schönstgelegenen Städte im weiten Talkessel, umgeben von schneebedeckten Bergen … Wäre sie aber landschaftlich nicht so schön, so könnte man hier schon verstehen, daß sie keinen Wert auf das alte Galizien legen und etwas Sorge haben, wir wollten ihnen die schlechten Garnisonen zurückerobern. Die Bevölkerung in den Städten ist unerfreulich … Auf dem Lande Unterwürfigkeit und Armut … Was deutsch und was ungarisch ist, das ist gut, und in dieser Erkenntnis liegt Österreichs Zukunft …«

Seeckt weiß, daß die Lage drängt. So drängt er selbst und verlangt Schnelligkeit in allem. Es ist eine außerordentliche Leistung, die nicht als selbstverständlich hingenommen werden sollte, wenn tatsächlich in rund einer Woche sämtliche Vorbereitungen durchgeführt sind. »... Es sind spannende Tage, die Bewertung der eingehenden Nachrichten, das Festhalten am gefaßten Plan manchen Eindrücken und Einflüssen gegenüber, die sich aber mehr aus dem Innern als aus äußeren Dingen ergeben … Alle Stellen scheinen mir guten Mutes zu sein, namentlich auch die österreichischen, denen die Masse der Hilfe imponiert Wir fechten ja hier nicht um Galizien, sondern für unsere eigenen und eigensten Interessen. Wo wir das tun, ist schließlich ganz gleich … Singende Truppen ziehen vorbei, hannoversche Regimenter, Gestern war der Kom. General von Emmich mit seinem Chef Graf v. Lambsdorf hier. Emmich war einst Adjutant meines Vaters …«

Die Spannung nimmt weiter zu. Am 27. April ruft der Chef des Generalstabes des Feldheeres in den Abendstunden Oberst von Seeckt an General v. Zwehl erwähnt in seinem Buch über Falkenhayn auf S. 134 eine Unterredung Falkenhayns mit Seeckt über die Vorverlegung des Angriffs, in der Seeckt ablehnt. Es kann hierbei eigentlich nicht ein anderes Gespräch als das hier wiedergegebene vom 27. 4. gemeint sein. Die Ablehnung findet sich auch hier. Der Wortlaut ist bei Zwehl aber etwas anders. Andererseits ist eine Verwechslung mit dem späteren Gespräch vom 5. 6. wohl kaum zu vermuten.:

Frage Heeresarchiv Potsdam, Akte 305. Die umfangreiche Vorarbeit der Durchsicht des gesamten Quellenmaterials hat Generalleutnant Lieber durchgeführt.: »Ist Aussicht, daß Ihr Unternehmen bald beginnt?«

Antwort: »Hoffe am 1. abends zu beginnen und am 2. auszuführen.«

Frage: »Gewisse Umstände machen den Beginn so bald wie möglich notwendig, aber natürlich darf darunter der militärische Erfolg nicht leiden. Nach den heutigen Nachrichten ist den Gegnern der Transport jetzt bekannt geworden. Er wird also nicht zögern, Gegenmaßregeln zu treffen. Haben Sie diese auch in Rechnung gestellt?«

Das Gespräch ist mit Fernschreiber geführt. Man sieht selbst bei dieser Art der Niederschrift, daß die Frage Seeckt etwas getroffen hat. In der Antwort ist das »Ja« nachdrücklich wiederholt. Da der Schreiber so mitschreibt, wie der Sprechende spricht, hat also Seeckt im Augenblick etwas ungeduldig geantwortet:

»Ja, ja. Heute vormittag nach sicheren Meldungen schon Truppenverschiebungen gegen unsere Front. Ich glaube aber nicht, vor dem gegebenen Termin mit den Vorbereitungen fertig zu werden. Wege und Transportverhältnisse sehr schwierig. Weiterer Aufschub voraussichtlich ausgeschlossen.«

Schlußsatz Falkenhayns: »Sie wissen ja jetzt, wie wichtig Eile nottut, und werden daher gewiß alles tun, um die Angelegenheit soviel wie möglich zu beschleunigen. Es hängt sehr viel davon ab.«

Dies Gespräch beweist ziemlich deutlich, daß Falkenhayn den Oberst von Seeckt nicht sehr eingehend kennen konnte. Seeckt war kaum der Mann, den man treiben mußte. Er war aber auch ganz sicher nicht der Mann, den man durch Drängen davon abbrachte, die Dinge so zu leiten, wie er sie militärisch für richtig hielt. Tatsächlich waren nicht nur, wie das ganz unvermeidlich ist, nach und nach die Transporte dem Gegner nicht verborgen geblieben. Es bestand auch die Gefahr, daß er unmittelbar Nachrichten aus der Front hatte. Es waren an zwei Stellen österreichische Soldaten übergelaufen. Konnte man in einem Falle noch hoffen, daß sie nichts ausgesagt hatten, so war im andern Falle stark zu vermuten, daß sie Aussagen gemacht hatten. Daran ließ sich nun nichts mehr ändern. Es blieb dabei, daß mit dem Vorbereitungsfeuer und den übrigen Einleitungen des Angriffs am 1. 5. begonnen und der Angriff für den 2. 5. morgens festgesetzt wurde. Es ist bemerkenswert, wie stark sich Seeckt persönlich in der Vorarbeit einsetzt. Nicht nur die meisten wesentlichen Befehle und Weisungen sind von seiner eigenen Hand, sondern er bemüht sich auch mit handschriftlichen Bemerkungen oder selbstverfaßten wichtigen Meldungen um Einzelheiten. Man spürt überall, daß, wenn schon der Ursprungsentschluß und die Auswahl der Angriffsstelle nicht sein Eigentum sein konnten, nunmehr die Durchführung sein eigenes Werk sein sollte. Sein Werk, soweit dies die Natur der Dinge zuläßt. Denn eines fällt dem Chef niemals zu, die Verantwortung. Die bleibt allein Sache des Oberbefehlshabers.

siehe Bildunterschrift
siehe Bildunterschrift
siehe Bildunterschrift
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Handschriftlicher Entwurf zum Armeebefehl für den Durchbruch von Gorlice 2. Mai 1915

Am 29. 4. ergeht der eigentliche Armeebefehl zum Angriff. Der Entwurf stammt ebenfalls von Seeckts eigener Hand. Er weicht von dem tatsächlich herausgegebenen Befehl 11. Armee, Ia 210 geh. v. 29. 4. 15. nur in einer Nebensächlichkeit ab.

Es wird jedem Generalstabsoffizier, der das Original des Befehlsentwurfes betrachtet, auffallen, wie wenig Streichungen und Verbesserungen er enthält. Seeckts befehlstechnisches Können war derart geschult, daß er die Befehle fast so niederschrieb, wie sie nachher herausgehen konnten. Im übrigen ist festzustellen, daß Seeckt im Befehl den ganzen Angriff auf den Sturm der Infanterie nach der Uhrzeit gründete. Er hat also hier das Verfahren übernommen, das bei Vailly noch nicht als Regel feststand, das von der 1. Armee nach Soissons als Lehre festgelegt wurde und das dann nach Gorlice so ziemlich unabänderlich bestehen blieb. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß das Verfahren hier richtig war. Völlig überrascht war der Russe nicht mehr. An ein Artilleriefeuer, wie man es hier anwendete, war er aber bisher nicht gewöhnt. Das Überraschungsmoment lag also in der Wucht des Vorbereitungsfeuers. Das mußte in plötzlichem Vorbrechen ausgenutzt werden. Ein unabänderliches Musterbeispiel sollte mit dem Befehl von Gorlice wohl nicht festgelegt werden.

Am 1. 5. um 6 Uhr nachmittags, als schon die Batterien mit dem Einschießen beginnen, wird der Sturm auf den 2. Mai 10 Uhr vormittags festgesetzt. Dieser 2. Mai beginnt für den Stab des A.O.K. mit jenen schweren Stunden, die jeder führende Stab dann durchmacht, wenn die Handlung nach den ausgegebenen Befehlen abrollt und ihn zur vorübergehenden Untätigkeit, der schwersten Nervenprobe im Kriege, verurteilt. Der Oberbefehlshaber hatte die innere Ruhe, zu Pferde zu steigen. Der Chef war an den Kartentisch und Fernsprecher gebunden.

»Es ist ½8 Uhr morgens. Die Sonne fällt durch das weit offene Fenster. Die Tische liegen voll von Karten. Im Nebenzimmer hämmert leise ein Apparat, und die Stimmen der arbeitenden Herren dringen zu mir herüber … Seit 6 Uhr donnern die Kanonen … An 200 Batterien zeigen unseren Willen an. Um 10 Uhr beginnt auf 40 km langer Front der Sturm der Infanterie. Gott schütze sie und führe sie zum Siege! Vorbereitet ist in diesen Tagen alles; ich hoffe aufs Beste und Ausreichende. Nebeneinander kämpfen eine bayrische Division, neben der Österreicher stehen, posensche Regimenter, das neue XLI. Korps (François), dann Österreicher, Schlesier, schließlich die Garde, an die sich Tiroler anschließen. Sie alle lenkt heute ein Wille, und ein Ziel zieht sie an. Ich sehe dem Ausgang zuversichtlich entgegen. Erst alles vorbereiten, dann ihnen vorn Freiheit des Handelns geben, dann die Folgerungen ihrer Taten ziehen und Neues einleiten. Das ist in wenigen Worten meine Aufgabe … Es wird kein kurzer Schlag wie am 13. Januar bei Soissons siegreichen Angedenkens. Aber ich hoffe auf eine größere Wirkung entsprechend den größeren Massen …« Es war also durchaus der Wille Seeckts, eine größere Wirkung aus dieser Operation herauszuholen. Wenn er aber überhaupt noch einen Vergleich mit Soissons zieht, so beweist dies, daß er selbst mit der Größe der Ostaufgabe in ihr erst gewachsen ist und das Maß, das sie annahm, ganz natürlich anfangs auch nicht in vollem Umfange vorausgesehen hat.

Je mehr der Tag steigt, desto mehr wächst die Spannung. Der Schwerpunkt des Kampfes liegt auf dem Südflügel. Von ihm hängt zunächst das Gelingen des taktischen Durchbruchs ab. Man merkt an mancherlei Anzeichen, daß die Nervenbeanspruchung auch den sonst so beherrschten Seeckt erfaßt, freilich nur an Anzeichen. An und für sich bleibt er die Ruhe selbst. Aber sogar die Schrift sieht verändert aus, etwas hastig, anders als sonst. Mancher Befehlsentwurf mag auch unterwegs oder im Stehen geschrieben sein.

»2. 5., nachmittags 4 Uhr. Der Kampf tobt, und bis jetzt bin ich mit dem Verlauf zufrieden. Aber der Gegner scheint sich gut zu halten. Immerhin ist man an allen Stellen ein gutes Stück vorwärts gekommen. Alle Einzelheiten fehlen noch. Gefangene schon eine ganze Zahl gemeldet. Doch alles noch nicht annähernd zu übersehen. Wir haben das ganze X. Korps noch in Reserve …« Das dauerte allerdings nicht sehr lange. Schon am Nachmittag entschloß sich kurzerhand das A.O.K., das halbe X. A.K. im Schwerpunkt einzusetzen, um Seeckts Drängen, den Angriff ständig in Fluß zu halten, zu genügen. Am Nachmittag des 2. Mai kommt der junge Erzherzog Thronfolger zum A.O.K. 11. Er machte auf Seeckt einen sympathischen Eindruck. »Er ist ein wirklich lieber Kerl.« »... Ganz famos ist mein Oberbefehlshaber … Äußerlich jedenfalls ganz ruhig, und Erzherzöge imponieren ihm nicht. Das ist die gute Folge davon, wenn jemand in der allernächsten Nähe des allerhöchsten Herrn selbst war …« Gegen 7 Uhr abends klärt sich die Lage und gibt Hoffnung, daß die 11. Armee »ihren Auftrag erfüllen wird Heeresarchiv Potsdam, Akte 308.«.

»... Weiteres gutes Vorgehen. Wunderbar die Garde. Welch eigenes Gefühl, an dies Korps zu befehlen und das alte Regiment unter denen zu haben, die man, will's Gott, zum Siege führt. Sehr gut auch die Bayern in den Bergen. Ebenso die Österreicher, die zwischen den beiden deutschen Korps gut vorwärts gekommen sind …« Der nächste Satz zeigt in aller Schlichtheit und Kürze, wie schwer eine solche Operation zu leiten ist, die für den nachträglich sie Betrachtenden fast mit einer gewissen Selbstverständlichkeit abläuft. Es ist der typische Fall des Zwanges, ins Ungewisse hinein disponieren zu müssen. Der Führer, der das nicht kann, dem Phantasie und Ahnungsvermögen nicht gegeben sind, wird im Kriege stets in die Hinterhand kommen: »Der Tagesabschluß ist noch nicht zu übersehen. Aber ich mußte einen vorausahnen, um für morgen alles zu gliedern und neu vorzubereiten. Der morgige Tag kann noch heißer werden als der heutige, da er wohl von allen Seiten neue Kräfte heranbringen wird. Immerhin, einige Regimenter Russen sind schon unterwegs in die Gefangenschaft … Vor 102 Jahren war Groß-Görschen der erste Ehrentag der Garde. Sie war auch heute wieder ganz glänzend. Damals mit den Russen, heute gegen sie.« Eine der wesentlichsten Maßnahmen für den 3. 5. war, das Vorgehen der 11. Armee und der mitunterstellten k. u. k. 4. Armee in Einklang zu halten. Seeckt schreibt den äußerst kurzen Armeebefehl selbst. Das Interessanteste an ihm ist die einzige und scheinbar geringfügige Verbesserung im Wortlaut:

»An 4. Armee.

11. Armee setzt morgen den Angriff in den für heute befohlenen Gefechtsstreifen fort.

Die 4. Armee wird im Anschluß an den linken Flügel 11. Armee (Gardekorps) den Angriff in den heute eingeschlagenen Richtungen fortsetzen …«

Ursprünglich hieß der Absatz: »Die 4. Armee wird im Anschluß an den linken Flügel 11. Armee (Gardekorps) sich dem Angriff in den heute eingeschlagenen Richtungen anschließen.« Es ist ein psychologisch feiner Zug, wenn Seeckt aus dem etwas passiven »sich anschließen« ein aktives »fortsetzen« machte.

Mehrere Hinweise der O.H.L. im Laufe dieses Tages, Gastruppen einzusetzen, lassen darauf schließen, daß hierin eine Meinungsverschiedenheit zwischen der O.H.L. und dem A.O.K. 11 bestanden haben kann.

Das Ergebnis des ersten Angriffstages war ohne Zweifel, daß der russische Widerstand in der ersten Angriffszone überall gebrochen war. Wir übersehen nachträglich leicht, daß das keineswegs selbstverständlich war. Wenn auch der Russe nicht sehr starke Kräfte an der Front, die angegriffen wurde, hatte, so war sein Stellungssystem doch vorzüglich und mit allen Mitteln ausgebaut. Ein Tag voller Spannungen und Erfolge war also zu Ende. Ein Tag noch größerer Spannung mußte folgen. Das hindert Seeckt nicht, ausgezeichnet zu schlafen und um 8 Uhr morgens seelenruhig an einem Brief zu schreiben, während die Herren seines Stabes nebenan die Meldungen zusammenstellen. In solchen Minuten der Entspannung schlägt bei ihm der angeborene Humor stets durch. Er amüsiert sich darüber, daß man ihm zu seinem einige Wochen zurückliegenden Geburtstag Kiebitz- und Möveneier geschickt hat, die nun schon fast lebendig zum Entsetzen der Feldpost bei ihm angekommen seien. Er meint, es wäre nur gut, daß seine Schwester ihm nicht wie sonst wohl üblich zum Geburtstag mit solcher Verspätung einen Karpfen verehrt habe. Dann wieder schildert er, wie er seinen Burschen zum Gefreiten befördert hat, »obgleich er mich gestern den Erzherzog ohne Achselstücke empfangen ließ. Da es aber die Österreicher als Huldigung auffaßten, weil sie selbst keine tragen, machte es nichts. Wie schnell man alle diese Äußerlichkeiten lernt. Ich kann schon die Menschen und Dinge unterscheiden und weiß, ob einer Feldmarschalleutnant ist oder Intendant! Das uns unterstellte VI. österreichische Korps hat bisher vollkommen seine Schuldigkeit getan, auch die benachbarten Teile. Es scheint mit einem Male Zug in die Sache gekommen zu sein.«

Damit ist er schon wieder mitten in den Ernst der Lage zurückgekehrt. Es sind ja immer nur ganz kurze Minuten, in denen er die Gedanken arbeitsfreie Wege gehen lassen kann.

»Der 3. Mai mittags. Alles geht gut und vorwärts. Im berechtigten Wunsch auf die Wirkung nach außen wird heute die O.H.L. eine Siegesdepesche erlassen, wir bewahrheiten sie noch heute und in den nächsten Tagen. Tausende von Gefangenen zogen vorbei. Doch ein eigentümlich befriedigender Anblick. Was für ein Volk! Sie wandern alle erst in die Entlausungsanstalt …« In der Tat hatte Seeckt am 3. 5. mittags eine sehr günstige Auffassung von der Lage, so daß er »nicht mehr mit einheitlichem Feindwiderstand« rechnete. Das A.O.K. erweiterte infolgedessen die Tagesziele bis an die Wisloka und befahl, daß für den 4. sogar bereits der Übergang über die Wisloka vorbereitet werden sollte. Es ist ein Entschluß, der seine Erklärung sehr einfach im Vorwärtsdrang des A.O.K. 11 findet. Man sieht dem von Seeckt selbst geschriebenen Befehlsentwurf an, daß er in Eile und mit fliegender Hand hingeworfen ist. Die Dinge entwickelten sich dann nachher nicht ganz so günstig. Der Armeebefehl vom Abend des 3. 5. trägt klar der nunmehr wirklichen Lage Rechnung, indem er befiehlt, »es komme darauf an, den Feind im Rückzug zu halten und den Wislokaübergang zu erzwingen, bevor neue feindliche Kräfte eingesetzt sind Heeresarchiv Potsdam, Akte 309. …«

Der 4. Mai ist der Tag des vollen taktischen Erfolges. Der rechte Flügel der 11. Armee stößt durch die russische 3. Armee durch, kommt in den Rücken der Karpatenfront, und die russischen Reserven können nur noch den Rückweg decken. Jetzt handelt es sich nicht mehr um die k.u.k. 4. Armee und um die 11. Armee allein. Jetzt muß auch die 3. Armee mit in die Offensive sofort hineingestoßen werden. Man fühlt es nach, mit welcher inneren Freude Seeckt dem A.O.K. 3 die Nachricht übermittelt, daß der rechte Flügel der 11. Armee die Straße nach Zmigród bereits unter Feuer hat. »Es scheint nunmehr der Lage zu entsprechen, schärfste Offensive der ganzen 3. Armee einzuleiten Heeresarchiv Potsdam, Akte 310..« Das Wort »ganzen« ist nachträglich eingefügt. Nach Seeckts eigener Angabe hat ursprünglich von anderer Seite für die 3. Armee ein anderer Befehl bestanden, der erst durch sein plötzliches Eingreifen verhindert wurde. Seeckt bezeichnet diesen Vorgang geradezu als einen kritischen Moment In einem Brief.. Man sieht, die Dinge steigern sich, und dennoch läßt sich der Armeechef von keinem Rausch der Zahl der Beute und von keiner Siegesnachricht abbringen, die Dinge sachlich in ihrer ganzen Schwere zu beurteilen. »Es geht so brav überall vorwärts, aber nicht in schnellem Siegeslauf, sondern Berg um Berg, Dorf um Dorf. Immer neue Massen kann der Russe heranwälzen, aber uns nicht aufhalten. Doch auch die Zahl allein schon leistet Widerstand, wenn auch die Art schon mehr als mittelmäßig ist. Es kostet Blut, und unser gutes Blut … Ich schrieb schon einmal: Opfer fordern ist auch nicht leichter als Opfer bringen. Es muß sein, und es muß vorwärtsgehen. Ich kann nur wiederholen, daß die Bundesbrüder sehr gut ihre Pflicht tun und vollkommen mit uns vorgehen. Dabei leicht zu regieren sind. Für unsere Art klarer Befehle sind sie dankbar. Es fehlt ihnen ja manches … Aber ich habe doch wieder etwas gelernt. Man gehört zusammen für die Zukunft auf Gedeihen und Verderben. Von gegenseitigem Aufgeben kann gar keine Rede mehr sein, nachdem so viel Blut in einem Strom fließt. Das fühlt nur der, der es erlebt.«

Am 5. 5. mittags reift ein großer Erfolg heran. Der wiederum von Seeckt selbst geschriebene Armeebefehl von 2 Uhr nachmittags trägt dem Rechnung. Obwohl die O.H.L. an Verstärkungen nur noch die 56. I.D. geben konnte, ist in diesem Fall von einer Entlastung der Karpatenfront vor der 3. Armee nun schon gar keine Rede mehr. »Die Armee wird Heeresarchiv Potsdam, Akte 311. nach Überschreiten der Wisloka zunächst gegen die Linie Dukla-Krosno weiter vorstoßen. Es kommt darauf an, in ununterbrochenem Vorgehen nach Osten zu bleiben, um dem Feind den Rückzug aus den Karpaten zu verlegen …« Das ist nichts anderes als das Streben, aus einem einfachen Sieg eine Niederlage zu machen, die den Feind vernichtet. Die Weisung an die 3. Armee enthält sogar die Worte, man müsse den »Erfolg ausnützen und nunmehr auch die russische Karpatenfront bis zum Raum bei Lupkow entscheidend schlagen«. Damit ist der Begriff der Entscheidung in diese ganze Operation als Forderung hereingebracht. Freilich eine Entscheidung wirklich herbeizuführen, konnte niemals im Machtbereich der 11. Armee, sondern immer nur in dem der O.H.L. liegen. Seeckt ist sich aber durchaus dessen, was erreicht war, bewußt gewesen. »Das ist der Erfolg, wohl ein Sieg. Die Russen räumen unter unserm Druck … Der mir gestellte Auftrag ist erfüllt, und nun kommt es darauf an, das Erreichte zu vervollständigen und die Früchte zu ernten. Dazu soll alles eingeleitet werden. Es wird also in den nächsten Tagen noch gründlich weitergekämpft werden müssen …« In diesem unbeirrten Vorwärtsdrang steckt ein Hauch Gneisenauschen Geistes. Dabei ging durchaus nicht alles so glatt, wie man es gehofft hatte. In der Mitte bei Jaslo leisten die Russen an der Wisloka über Erwarten starken Widerstand. Es bleibt bei aller Energie des Vorwärtsdranges nichts übrig, als sich den Verhältnissen in den Befehlen anzupassen. Seeckt schreibt noch am 6. 5., daß am 5. 5. viel Reibungen zu überwinden waren.

Am Abend dieses Tages trafen Sven Hedin und der türkische Zekki Pascha beim A.O.K. 11 ein. Der Pascha war der erste höhere türkische Würdenträger, mit dem Seeckt in Berührung kam. Es wäre nicht ausgeschlossen, daß Zekki sich später einmal dieser Begegnung entsonnen hätte Die Ähnlichkeit der beiden Namen bei schlechter Aussprache hat gelegentlich zu komischer Verwechslung geführt. Frau v. Seeckt wurde einmal in Konstantinopel gefragt: » Vous n'êtes pas Ottomane de naissance?« Man hatte statt Seeckt den Namen Zekki verstanden..

Der 6. Mai ist der Tag, der den vollen Erfolg bringt, an dem nun allerdings auch die Entschlüsse gefaßt werden müssen, die für die weiteren Operationen grundlegend werden sollen. Denn mit dem Erfolg dieses Tages ist der erste und ursprüngliche Auftrag zweifellos erfüllt. Es ist ungemein charakteristisch für Seeckt, wie bei ihm die Spannung deutlich zum Ausdruck kommt, und wie er doch sich selbst auf Nebensächliches so weit abzulenken versteht, daß die Nerven in Ruhe ausschwingen. »Wieder ein Tag von überwältigender Frühlingsschönheit. Das Tal im zarten Grün. Die Obstbäume dicht vor dem Aufbrechen. Alle Linien rein und klar. In der Ferne der Schnee noch auf den Höhen und weiter noch der ewige Schnee der Tatra. Unter der Spannung der Tage werden alle Nerven empfindlich, und so wirkt dieser Frühling auf mich wieder einmal wie etwas nie Gesehenes und Erlebtes. Ich machte einen kurzen Morgenspaziergang vor dem Haus und freute mich über all die Schönheit, die das polnische Nest umweht.«

Es ist gelungen, die russische Karpatenfront bis zum Lupkower-Paß zu Fall zu bringen. Man kann den Stolz nachempfinden, mit dem Seeckt das A.O.K. 4 anweist, die Kavallerietruppen-Division in Richtung Debiza anzusetzen, ganz gleich, ob dieser Einsatz der Kavallerie zu einem Verfolgungskampf wirklich wird oder nicht. Es ist schon viel, den Versuch wagen zu können.

Viel ist gestritten worden, ob der Entschluß des A.O.K. für den 7. und weitere Entschlüsse die Lage ausreichend ausgenutzt hätten. General von François ist der Ansicht gewesen, der Durchbruch hätte größere Früchte des Sieges bringen können. Auch General Alfred Krauß deutet an, daß eine genauere Prüfung erwünscht sei, ob nicht eine größere operative Auswirkung zu erreichen gewesen wäre. Seeckt hat sich zu der Frage einmal selbst später geäußert Mitteilung an das Reichsarchiv vom 14. 4. 25.. Er findet dabei ziemlich scharfe Worte und meint, wer etwa an eine Umfassungsoperation im großen, »an ein Einschwenken der 4. Armee und des linken Flügels der 11. Armee nach Süden gedacht hat, der hat den Sinn der Durchbruchsoperation nicht verstanden. Der Durchbruch selbst hatte eine Front nach Ostnordost. Diese Front mußte zunächst beibehalten werden, um dem Feind an der Klinge zu bleiben und in gerader Angriffsfront Der Widerspruch zu der gelegentlich der Westpläne geäußerten Ansicht über das Angehen gegen Stellungen ist doch wohl nur ein scheinbarer. vor die folgenden Stellungen zu kommen. Am 6. 5. war der erste Auftrag der Armee, Freimachung der Karpatenfront bis zum Lupkower-Paß, erfüllt. Es ergab sich für das Oberkommando nun der eigene Entschluß der Fortsetzung der Offensive gegen den San. Daher die Ostdrehung der Verfolgungsstreifen. In dieser Richtung ging die Masse des Feindes zurück, von hier konnten ihm Verstärkungen kommen. In dieser Richtung konnte die Armee hoffen, auch die übrige Russenfront einschließlich Przemysl zu Fall zu bringen. Die vorübergehende Staffelung war bedeutungslos.« Wenn am 6. abends vorübergehend eine Linksschiebung befohlen war, so hatte das lediglich seinen Grund darin, den Anschluß sicherzustellen. »Eine Linksschwenkung im operativen Sinne war nicht beabsichtigt. Ich mache hier besonders darauf aufmerksam, wie elastisch und einfach sich die Armeeführung durch die Einspannung in Gefechtsstreifen gestaltete. Ihrer Richtung brauchen nicht immer operative Erwägungen zugrunde zu liegen. Sie folgen auch taktischen Erwägungen …«

Jedenfalls konnte es niemals Sache des A.O.K. 11 sein, auch wenn man es bei seiner Einwirkung auf die 3. und 4. Armee ohne weiteres als eine Heeresgruppe auffaßte, aus der mit dem Angriff auf Gorlice beginnenden Operation noch mehr zu machen, als es tatsächlich daraus gemacht hat. Es mag sein, daß der Gedanke, eine Entscheidung zu suchen, vielleicht in die Tat umzusetzen war. Wie gesagt, es mag sein. Beweisen kann man nachträglich solche Ansichten, die eben nicht zur Ausführung kamen, nicht. Man darf nicht vergessen, daß in jedem Falle den Russen die ungeheure Weite des Raumes zur Verfügung stand. Wenn aber die Entscheidung gesucht werden sollte, dann war dies eine Aufgabe der O.H.L. Es fragt sich, ob es die überhaupt gab. Denn hier mußten ja beide Mächte zu einheitlichem Entschluß kommen. Aber gesetzt den Fall, es hätte ein Entschluß der deutschen O.H.L. genügt, so blieb eben zu allem die Voraussetzung, daß diese O.H.L. die Kräfte zu entscheidendem Schlage bereitstellte. Das hat sie nicht getan. Man muß General von Falkenhayn zubilligen, daß er seine Gründe hatte, die Westfront nicht durch Abgabe weiterer Kräfte zu schwächen. Ob diese Gründe stichhaltig waren, ist eine andere Sache; für ihn waren sie stichhaltig. Allerdings ist zuzugeben, daß es nahelag, Kräfte aus dem Bereich des Ob.Ost ohne Schwächung der Westfront herauszuziehen und an eine Entscheidung bei der 11. Armee zu setzen. Wie dem auch sei, die 11. Armee konnte von sich aus nichts anderes tun, als mit den gegebenen Kräften das höchste Maß eines Erfolges anzustreben. Das hat das A.O.K. 11 ganz gewiß getan und auch erreicht.

Der 7. 5. bringt den Stoß der gesamten 11. Armee zum Wislok. Die k.u.k. 4. Armee, die nach Norden abschwenken will, wird von Seeckt persönlich scharf nach Osten gewiesen. Im gleichen Sinne greift das A.O.K. Teschen ein, um dann für die 11. Armee gleich darauf die neue operative Weisung über den Wislok hinaus zu geben. Das schien durchaus der Lage zu entsprechen. Sie war, wie man sie an diesem Tage sah, doch so, daß sich die Auswirkung des Angriffs weithin bis über die Weichsel nach Norden bereits fühlbar machte, freilich sah man ganz unwillkürlich die Gesamtlage am 7. etwas zu günstig an. Das kam noch am 8. in dem Inhalt dessen zum Ausdruck, was Seeckt den Korpschefs in einer Besprechung sagte: »Der taktische und operative Durchbruch ist im vollen Umfange geglückt. Der Feind ist entscheidend geschlagen, die k.u.k. 3. Armee zu anderer Verwendung frei geworden. Aufgabe der 11. Armee ist es, den Feind unaufhaltsam zu verfolgen und so den Erfolg zu vervollständigen …« Es ist an diesem Tage bereits von einer Stoßrichtung nördlich und südlich Przemysl vorbei gesprochen worden. So ging es nun doch nicht. Und wenn Seeckt in der Chefbesprechung von einem entscheidenden Schlage sprach, so drückte er mehr das aus, was er wollte, als das, was zu erreichen war. Der Russe leistete am 8. recht unerwarteten Widerstand, und am 9. kam es ziemlich plötzlich zu sehr harten und schweren Kämpfen. Ja, es traf sogar eine Unglücksnachricht ein. An anderer Stelle, bei der 7. Armee des Generals v. Pflanzer-Baltin, war der Russe zu einem leider erfolgreichen Angriff vorgegangen.

General von Falkenhayn ist inzwischen insoweit selbst vordringlich mit der Ostoperation beschäftigt, daß er einsieht, er müsse den Dingen näher sein. Am 9. 5. ist das Gr.H.Qu. an die Ostfront nach Pleß verlegt. Falkenhayn trifft selbst in Begleitung von S.M. bei der 11. Armee ein. Klar erkennt er, daß es fehlerhaft wäre, der Armee v. Pflanzer-Baltin zu helfen. Hier bei der 11. Armee wird der Kampf entschieden. Klar erkennt aber auch der Armeechef Seeckt, daß die Hoffnungen des 7. und 8. Mai nicht alle reifen können. Es heißt jetzt am 9., da der General von Falkenhayn weitere Kräfte nicht geben will, nunmehr, man wolle dem Gegner »einen nicht wieder auszugleichenden Hieb versetzen«. Das Ziel ist Jaroslau. Eine letzte Hoffnung: Stellt sich der Gegner am San, dann mag es vielleicht doch noch zu einer Art Entscheidung kommen. Zunächst aber ist es schon so, daß man sich große Ziele und sehr schwere Aufgaben stellt, daß man aber von einer Entscheidung nicht sprechen kann, wenn sie die O.H.L. nicht erzwingen mag.

Mitten in diese Spannungen des 9. Mai fiel der Quartierwechsel des A.O.K. nach Jaslo und dort der eben erwähnte Besuch S.M. Der Kaiser begrüßt Seeckt mit den Worten: »Das ist ja genau wie bei Soissons.« Man merkt Seeckts Aufzeichnungen an, daß es ein ungewöhnlich unruhiger, an den Nerven reißender Tag ist. »Paschas, Munitions- und andere Chefs nehmen jetzt mehr von meiner Zeit in Anspruch, als sie verantworten können … Eben kam Falkenhayn. Die letzte Nacht waren militärische und politische Konferenzen in Teschen.

siehe Bildunterschrift

Mit Offizieren des Stabes der 11. Armee in Jaroslau, Mai 1915
1. Oberst von Seeckt, Chef 2. Major von Bock, Ia 3. Hauptmann Dunst, Ib 4. Hauptmann Giehrl 5. Hauptmann Blankenhorn, beim Ia 6. k. und k. Hauptmann Albrecht

Italien? Wir hatten natürlich lange Gespräche und Meinungsaustausch hier … Und wennschon, ich ginge ganz gern in die Lombardei … Bei uns bisher alles im Vorgehen. Die Zeitungen sind ja voller Freude und nachträglicher Weisheit …« Es darf hier nicht übersehen werden, daß Seeckt ganz im Gegensatz zu anderen dem Gedanken zustimmend gegenübersteht, den Krieg gegen Italien, wenn er kommt, im Angriff zu führen. Man ist berechtigt, aus anderen Äußerungen zu entnehmen, daß diese Briefstelle vom 9. Mai keine belanglos hingeworfene Äußerung war. Ist es an sich wichtig, daß Seeckt überhaupt der Ansicht war, einen Krieg gegen Italien offensiv zu führen, so ist das Wichtigste, daß er es schon in diesem Zeitpunkt gewesen ist.

siehe Bildunterschrift

Am 17. 9. 1915 beim k. und k. A.O.K. in Teschen
vorn: General-Feldmarschall von Mackensen und Generaloberst von Conrad

Erst der 10. Mai brachte vollen Erfolg und das deutliche Zusammenbrechen des russischen Widerstandes. Damit war der Weg zum San frei, und es handelte sich nun also darum, ob der Gegner sich am San zur Entscheidung stellen wollte. Seeckt ist sich des Erfolges bewußt. »... Ein richtiger östlicher Frühlingstag heute. Blauer Himmel und strahlender Sonnenschein, Kastanien im Aufbrechen und doch Kälte … Heute nacht ein fast orientalisches Bild vor meinem Fenster. Ein Haufen Gefangener eng zusammengedrückt, meist auf der Erde gehockt, das leise Gemurmel, alles erinnert an Indien. Wie viele es jetzt eigentlich sind, läßt sich gar nicht übersehen. Offiziere sind fast gar nicht dabei, sie haben wenig … Der Haufen schlägt sich einmal ganz zähe und gut und läuft an anderen Stellen in Scharen über … Alles steht sehr gut. Die Folge des Durchbruchs der Armee ist ungeahnt groß und noch nicht ganz abzusehen … Heute werden nun wohl die hunderttausend Gefangene voll geworden sein … Ein Segen, denn unter hunderttausend zählt ja das liebe Vaterland nicht, und anderen Leuten sind auch die zu berichtenden Trophäen die Hauptsache. Wenn man die Bande sieht, findet man es nicht so glorreich, sie zu fangen. Die Stimmung zu Hause scheint ja bedenklich nachzulassen. Oder kommt mir das nur so vor. Und das alles trotz der Opfer, die die Armee täglich bringt.«

siehe Bildunterschrift

Kaiser Wilhelm II. zu Besuch beim Stabe Mackensen

Am 10. setzten erneute Verhandlungen der beiden O.H.L. über die Durchführung der Operationen ein. Man muß hierbei feststellen, daß Seeckt in dieser Zeit sehr häufig an den Rücksprachen mit General von Falkenhayn beteiligt war. Es war natürlich, daß die beiden Männer sich in diesen Monaten näher kennen und achten lernten.

Die Unsicherheit der italienischen Haltung beeinflußt dauernd die Überlegungen sowohl bei der deutschen wie bei der österreichischen Heeresleitung. Falkenhayn und Conrad sind der Auffassung, daß man den Angriff der 11. und k.u.k. 4. Armee durch neue Kräfte nähren müsse. Conrad will deutsche Truppen haben, die Falkenhayn ablehnt. Falkenhayn regt die Heranziehung österreichischer Truppen vom serbischen Kriegsschauplatz an, was Conrad ablehnt. Conrad hat außerdem noch Sorgen um die k.u.k. 7. Armee. Der Angriff auf Kolomea droht. So wird denn vieles erwogen. Was herauskommt, ist die Tat des Oberkommandos Mackensen, nämlich die Verfolgung vom 11.–13.5. bis zum San. Seeckt hat für diese Verfolgung für die 11. Armee Richtung Jaroslau, für die k.u.k. 3. Armee Przemysl, für die k.u.k. 4. Armee Sandomierz vorgeschlagen.

Als es weiter vorwärts geht, ist Seeckt voll Freude. Er freut sich auch über den sehr gnädigen Erlaß des Obersten Kriegsherrn, der den Taten aller Truppen, die unter Mackensens Befehl standen, warmherzigen Dank und hohes Lob ausspricht. Es sind viele, die voller Bewunderung in diesen Tagen an Seeckt schreiben und »von der größten Operation des Feldzuges« sprechen. Er selbst schreibt: »Heute der 11. Tag der Operation und morgen steht die Armee vor dem San. In 12 Tagen haben wir Westgalizien wiedererobert und den Russen gezwungen, auch den Westteil Polens zu räumen, ihn weit von der oberschlesischen Grenze vertrieben, Krakau und Ungarn gesichert, ihm eine Armee ganz zerschlagen und zwei andere zum Rückzug gezwungen. Das ist schon ein Resultat und dabei die Armee noch völlig leistungsfähig, noch drei ganz unverbrauchte Divisionen in Reserve. Wie es nun weitergeht, kann ich Dir nicht verraten, weil ich es selbst nicht weiß. Aber unter uns, ich sehe mich in nicht zu ferner Zeit wieder auf dem Wege nach dem Westen …« Diese letzte Bemerkung ist sehr merkwürdig. Seeckt hat den Westen nicht wiedergesehen. Aber da eine Entscheidung bei Falkenhayn nicht anders als im Westen zu haben war und Seeckts ganzes Wesen auf die Entscheidung hindrängte, mag der Gedanke, nach solchen Erfolgen zum letzten Schlag im Westen eingesetzt zu werden, im Innern Seeckts wohl Gestalt angenommen haben. Es ist, als ob er dann sofort sich selbst warnen wollte, die eigene Person bei solchen Überlegungen auch nur etwas zu sehr in den Vordergrund zu schieben. Er weiß natürlich, wie jeder selbstbewußte Mann, was er getan hat. Aber er fügt dem Brief einen Spruch des Laotse bei:

»Er setzt sein Selbst hinten an,
Und sein Selbst kommt voran.
Er entäußert sich seines Selbst,
Und sein Selbst bleibt erhalten.
Ist es nicht also:
Weil er nichts Eigenes will,
Darum ward sein Eigenes vollendet.«

Die Sehnsucht, das Eigene zu vollenden, ist Seeckt niemals ganz erfüllt worden. Selbst dann nicht, als er sogar die Heimat des Laotse aufgesucht hatte.

In den Rücksprachen dieser Tage ist gelegentlich auch über die Bezeichnung der bisherigen Schlacht gesprochen worden. Die O.H.L. entschied für Gorlice-Tarnow. Generaloberst von Mackensen hatte Jaslo gewünscht, weil es das erste Ziel war. Seeckt schreibt: »Ich wollte nach dem Vorbild der Winterschlacht in Masuren gern als Namen die Maienschlacht in Galizien. Aber für feinen Humor war kein Verständnis, höchstens bei Falkenhayn, vorhanden.« Tatsächlich ist damals Seeckts Vorschlag der »Maienschlacht« wirklich ernst genommen worden.

Der 11.5. ist ein leichter Kampftag. Es geht gut vorwärts. Nach einigem Hin und Her zwischen den beiden O.H.L. wird es schließlich so gemacht, wie Seeckt es vorgeschlagen hat. Die Forcierung des San unterhalb von Przemysl bleibt Aufgabe des A.O.K. Mackensen. Auch der 12. findet die Russen in vollem Rückzug. Es wird lediglich bekannt, daß sie offensichtlich den San zu verteidigen beabsichtigen. Jedenfalls ist Seeckt dieser Ansicht gewesen Heeresarchiv Potsdam, Akte 318.. Freilich ist die Absicht der Russen nicht ganz sicher, und so trägt der 13. den Stempel der Ungewißheit, ob es nun tatsächlich zu entscheidendem Widerstand am San kommt oder nicht. Der Armeebefehl trägt beiden Möglichkeiten Rechnung. Die Ergänzungen, die dazu notwendig waren, sind von Seeckts eigener Hand. Er verfaßt außerdem selbst ein besonderes Schreiben an die Korpschefs, in dem er das Wesentliche nochmals unterstreicht.

Falls der Gegner am San hartnäckigen Widerstand leistete, war die Operation taktisch also so gedacht, daß man ganz planmäßig den Sanübergang erzwingen wollte, sich hierfür die Tage vom 14.–16. als Vorbereitung nahm und den eigentlichen Kampf auf den 17. ansetzte. In der Tat war diese Bewegungspause, wenn sie nicht aus taktischen Gründen schon notwendig gewesen wäre, dringend erwünscht mit Rücksicht darauf, daß die Nachschubentfernungen übermäßig groß geworden waren. Für den Fall, daß der Gegner die Flußlinie ohne ernstlichen Widerstand preisgäbe, sollten die Korps »dem abziehenden Gegner unmittelbar folgen«.

Man hat es bemängelt U. a. General von François., daß das A.O.K. nicht klar befahl, was zu tun sei, sondern gewissermaßen den Generalkommandos die Wahl zwischen zwei verschiedenen Fällen ließ. Man muß zugeben, daß diese Befehlsgebung, wie jeder Kompromiß, seine Mängel hatte. Tatsächlich war der Verlauf nachher ja auch so, daß die Truppe vorstieß, ohne die Voraussetzungen dafür wirklich zu haben. Seeckt konnte aber für sich in Anspruch nehmen, daß die von ihm selbst verfaßten, am 27. 4. bereits herausgegebenen »grundlegenden Direktiven für den Angriff« von vornherein Fälle kennzeichneten, in denen das A.O.K. nicht glaubte, starre Befehle geben zu können. Seeckt schrieb in diesen Direktiven: »Der Angriff der 11. Armee muß, wenn er seinen Auftrag erfüllen soll, schnell vorwärtsgetragen werden. Das ist aus Gründen der Operation erforderlich; es liegt aber auch nur in der Schnelligkeit des Angriffs die Gewähr, den Feind am erneuten Widerstand in hinteren Stellungen und am planmäßigen Einsatz stärkerer Reserven zu hindern … Das schnellere Vordringen eines Teils der Front wird oft das schwierigere und vielleicht vorübergehend stockende Vorgehen an anderen Stellen erleichtern und erneut in Fluß bringen … Andererseits setzt sich der Teil, dem es gelingt, weiter vorwärts zu kommen, der Gefahr aus, flankiert zu werden. Dann würde gerade die Truppe, die es dank ihres schnellen Fortschreitens am wenigsten verdient, sich Rückschlägen aussetzen. Diese Überlegung zwingt dazu, von seiten der Armee Linien zu bestimmen, deren einheitliche und möglichst gleichzeitige Erreichung erwünscht ist, ohne damit die Truppen an sie zu binden, wenn es möglich ist, noch die nächsten Abschnitte in gemeinsamem Handeln zu erreichen. Jedes Vorkommen des Angriffs wird von der Armee dankbar begrüßt und verwertet werden … Heeresarchiv Potsdam, Akte 305.

Seeckt hatte also aus dem Sinn dieser grundlegenden Direktiven heraus das Recht, eine Linie zu befehlen, die erreicht werden sollte und andererseits nochmals die Ausnutzung günstiger Gelegenheiten zu empfehlen. Im übrigen betonte er hier etwas, was ebenfalls später angegriffen ist, und was er trotzdem nachträglich noch als seine Ansicht unterstrichen hat Zuschriften an das Reichsarchiv vom Jahre 1927.. Er hält daran fest, daß »die Korps in ihren Angriffsstreifen bleiben und vorwärts gehen müssen. Das Bestreben, eigenes Vorwärtskommen durch Vorgehen gegen die Flanken des Feindes in den Nebenabschnitten, wo der Angriff noch nicht so weit vorgedrungen ist, auszunutzen, also nach rechts oder links aufzurollen, ist begreiflich, muß aber im Interesse des Ganzen immer wieder bekämpft werden. Sonst kommt der Gesamtangriff ins Stocken und löst sich in Teilkämpfe auf. Die untere Führung sieht den möglichen taktischen Erfolg, die oberste muß das operative Ziel vor Augen behalten. Natürlich kann ein solches Einschwenken auch richtig sein, wenn dadurch die endgültige Vernichtung des Feindes zu erreichen ist …« Man darf wohl hinzufügen, daß das Einschwenken auch dann richtig ist, wenn der für die Durchführung der Operation notwendige taktische Erfolg anders nicht zu erreichen wäre. Im ganzen wird es operativ immer richtig sein, vorwärtszugehen ohne nachbarliches Bedenken, solange man selbst kann. In einer anderen Niederschrift An das Reichsarchiv Mitte 1926. rechtfertigt Seeckt die Befehlsgebung des A.O.K. ebenfalls. »Tempo! Das war das Leitwort für die Offensive. Es mußte immer wieder beschleunigt werden, denn die verlangsamenden Elemente nahmen im Laufe der Tage zu. So lag immerhin die Möglichkeit vor, daß das eine oder andere Korps sich … zu unnötig langwierigen Vorbereitungen zum Angriff führen ließ, statt den Verfolgungscharakter der Operation im Auge zu behalten General Krafft v. Dellmensingen bemerkt in seinem 1937 erschienenen Buch »Der Durchbruch«, S. 47: »Auch für den zweiten Angriffstag, den 3. Mai, wird an dem Verfahren des Vorgehens von Abschnitt zu Abschnitt auf Befehl der Oberleitung festgehalten, auffälligerweise aber der Beginn des Angriffs nicht zeitlich geregelt.« Das stimmt an sich. General v. Dellmensingen stellt damit zunächst einmal fest, daß die Befehlsentwürfe Seeckts hinsichtlich der Zeit frei vom Schema sind. Die Festlegung von Linien macht General v. Dellmensingen wie andere der Führung zum Vorwurf. Man kann unbeschadet dessen, daß die Tatsache stimmt, den Vorwurf wohl nicht aufrechterhalten.

Der Abend des 13. 5. bringt noch eine Episode, die recht geeignet ist, Seeckts Feinfühligkeit zu zeigen, mit der er die Menschen zu behandeln verstand. Von der O.H.L. kommt folgendes Telegramm an das A.O.K. 11 Heeresarchiv Potsdam, Akte 318.:

»Obschon ich die Sorge, daß Russen versuchen sollten, über untersten San und durch San-Weichsel-Ecke vorzustoßen, nur in beschränktem Maße teile, würde ich doch empfehlen, A.O.K. 4 zur sofortigen Heranführung und Verwendung von Stacheldraht anzuhalten. Unsere Verbündeten schätzen diese vortrefflichen Hilfsmittel fast immer erst, wenn es zu spät ist. von Falkenhayn. Nr. 1132.«

Dieses in seiner ironischen Schärfe etwas unfreundlich gehaltene Telegramm sieht nun in der Fassung, in die es Seeckt mit eigener Hand umformt, so aus:

»An 4. A.O.K. Da linkem Flügel 4. Armee Deckung gegen unteren San und San-Weichsel-Ecke zufällt, wird dringend empfohlen, sogleich Vorsorge für Heranschaffung von Stacheldraht zu treffen, um durch völlige Absperrung des dort befindlichen Feindes möglichst viel Kräfte zum Vorgehen über den San freizumachen. A.O.K. 11. Ia 1035.«

Der eine schreibt, die 4. Armee werde ja doch nur bestenfalls einen russischen Vorstoß abwehren. Sie möge dann wenigstens alles zur Abwehr tun. Der andere gibt unter Vermeidung jeder unfreundlichen Wendung die Sache weiter mit einem Hinweis zu offensivem Handeln. Man kann wohl sagen, daß es das Wesen der Männer charakterisiert, wie sie ein und dieselbe Sache ausdrücken, und daß es bei einer fast nebensächlichen Angelegenheit ein Kabinettstück psychologischer Kunstfertigkeit Seeckts ist.

Trotz der Unsicherheit, was der 14. bringen wird, oder gerade weil man vielleicht mit einem Halt wird rechnen müssen, gibt sich am 13. abends Seeckt selbst vom Erreichten Rechenschaft. »Die Beute sind 133+500 Gefangene, 96 Geschütze, 265 Maschinengewehre. Da die Operation der uns unterstellten 4. Armee von uns geleitet wurde, die 3. Armee nur den Feind verfolgte, den wir ins Weichen gebracht hatten, so können wir uns über das gesamte Resultat wohl freuen. Der nicht in Zahlen auszudrückende Erfolg ist größer und noch nicht abzusehen. Der Zustand der russischen Armee ist zum Teil recht schlecht, ihr Halt hier wenigstens stark erschüttert. Doch wir wollen abwarten und weiterkämpfen. Es sind viele Feinde im Felde. Falkenhayn erhielt gestern abend den schwarzen Adler. Also muß der Kaiser wohl mit ihm zufrieden sein. Ich entnehme daraus, daß die Lage sich auch politisch geklärt hat. Vielleicht befestigt das auch die Stellung des Kanzlers … Wir sind am 14. Mai nach Rzeszow übergesiedelt, … Die Garde ist heute mittag in Jaroslau eingedrungen und wird, wie ich sie kenne, morgen über den San gegangen sein … Hier Sonnenschein und blühende Kastanien. Ich habe Heimweh nach dem Landwehrkanal In Berlin; die Ufer sind mit Kastanien besetzt.. Irgendwohin muß der Mensch doch eine Art Heimatgefühl haben. Obstblüte, Fahnen aus allen Häusern in der noch nicht gesehenen Zusammenstellung von Schwarz-Weiß-Rot, Schwarz-Gelb und dem polnischen Rot-Weiß. Alles zum Willkommen den Befreiern von dem im Grunde der Slavenseele vielmehr als das deutsche geliebten russischen Joch. Eine Nation von Sklaven, dieses galizische Volk, vom stupiden saumküssenden Bauern an bis zum Besitzer des benachbarten Schlosses, der die Erhaltung seines Besitzes von den jeweiligen Eroberern loskaufte; von unserm Vorgänger hier, dem russischen General Radko Dmitrijew mit Geld, von uns mit der Androhung der Freundschaft … Auf der Fahrt sah man wohl ein Dutzend ausgebrannter Schlösser. Da der Russe nicht glaubte, wieder hierherzukommen, hat er dergleichen angesteckt, wie er Bahnen und Brücken verbrannte … Unsere Truppen stehen am San und kämpfen noch um den Übergang. Aufregend genug, nichts Genaues von jeder Stelle zu wissen – und doch die Sicherheit: sie werden es schon machen … Es ist ein Krieg voller Gegensätze und Merkwürdigkeiten. Die Lusitania ist in jeder Beziehung ein guter Schlag. Armer Bethmann, was wird er weinen. Der Rechtsstandpunkt, freilich heute der gleichgültigste, ist unbestritten. Und das Geschrei ›Mörder!‹ beweist nur, wie recht wir hatten … Von Pinon Noch immer Stabsquartier des Gen.Kdos. III. schickten sie mir Maiglöckchen. Lieb und nett, aber ich denke, Karpathenlorbeer ist besser …«

Es mußte sich nun entscheiden, wie im großen die Operation weitergeführt werden sollte. Schon am 8. 5. war von Falkenhayn die Frage erörtert, ob der Stoß der 11. Armee südlich oder nördlich Przemysl weitergeführt werden sollte. Generaloberst von Mackensen war von Anfang an für die Stoßrichtung auf Jaroslau. Die inzwischen einsetzenden fast täglichen Rücksprachen zwischen Falkenhayn und Conrad drehen sich immer um das Verhalten gegen Italien und Serbien. Da General von Falkenhayn durchaus die Frage eines Einsatzes der 11. Armee gegen einen dieser beiden Gegner unter dem Oberbefehl Mackensens prüfte, mußte ihm daran liegen, die Operation in Galizien so zu beeinflussen, daß er bald Kräfte für andere Zwecke frei bekäme. Man muß sich also vergegenwärtigen, daß zu dem Problem, wie der Angriff gegen die Russen weiter zu gestalten sei, Falkenhayn naturnotwendig ganz anders stehen mußte, als das an Ort und Stelle führende A.O.K. General v. Falkenhayn dachte von der augenblicklichen Kampfstelle fort, und der führende Stab mußte seine Gedanken dort festhalten. Allerdings ist Seeckt offenbar darüber unterrichtet gewesen, daß man an eine andere Verwendung dachte. Er schreibt selbst am 17. 5.: »Die Sache sieht doch aber nach dem Erfolg hier ganz anders aus. Wir werden nun wohl hier in die Defensivstellung gehen, um den Österreichern Kräfte gegen Italien frei zu machen. Am liebsten packte ich die ganze 11. Armee ein, futterte sie erst 8 Tage mit Menschen, Hafer und Munition und zöge dann mit ihr gegen die Lombardei. Doch noch ist es nicht so weit.« So wie Seeckt hoffte, ist es dann allerdings nicht gekommen.

Es war freilich klar, daß für alle vom galizischen Kampfplatz fortstrebenden Pläne die Voraussetzung das Erreichen der Linie San–Wisznia–Dniester war. Es ist auch nicht zu leugnen, daß die Generalstabschefs beider Heere entschlossen waren, falls diese Linie noch nicht genüge, die Operation über den San und Dniester auf Lemberg und Rawa Ruska weiterzuführen.

Der 14. Mai gibt etwas überraschend den Eindruck, als wolle der Russe dem Entscheidungskampf am San ausweichen. Der Eindruck ist falsch. Das kommt im Kriege vor. Die Korps gingen vor und trafen überall auf scharfen Widerstand. Die Kämpfe, die sich daraus am 14. und 15. entwickeln, sind also etwas improvisiert und daher von äußerster Heftigkeit. Man muß zugeben, daß die Anordnung des A.O.K.s vom 13. für zwei Möglichkeiten, so wenig sie zu vermeiden sein mochte, sich in diesem Falle nicht gerade glücklich auswirkte.

Am 15.5. gibt es beim A.O.K. 11 in Jaslo hohen Besuch. »Etwas viel Erzherzöge heute. Vormittags zur Besprechung Joseph Ferdinand von der 4. Armee. Ich finde ihn überaus natürlich und von einfachster militärischer Form. Jedenfalls hat seine Armee ihre Sache bisher sehr gut gemacht, und auch äußerlich haben sich keinerlei Schwierigkeiten ergeben. Ferner der Erzherzog-Feldmarschall Friedrich, der zur Besitzergreifung und als Zeichen der Wiedergewinnung des von uns eroberten Landes kam. Mit ihm kam der Thronfolger: Glockengeläut, Geistlichkeit, feierliche Aushändigung der verliehenen Orden an den Oberbefehlshaber und mich auf offener Straße. Alles etwas zeitraubend für den großen Krieg. Doch das gehört wohl auch dazu. Der junge Thronfolger ist nett und war sehr vergnügt, weil er am Abend zu Zita fahren durfte. Währenddessen kämpfen unsere Korps am San, die Garde in Jaroslau. Ob sie gleich herüberkommen, steht dahin … Der Thronfolger erzählte, die Ententemächte hätten bei ihren Besprechungen eine vollkommene Verzettelung der italienischen Armee verlangt: die Masse in Frankreich gegen uns, einen großen Teil an den Dardanellen und wenig gegen Österreich … Schade, daß es jetzt in Frankreich einen kleinen und an sich bedeutungslosen Rückschlag Arras. gegeben hat, worüber nun Geschrei entsteht. Ich hatte ihnen schon vor ein paar Wochen diese Stelle als kaum zu halten bezeichnet.«

In den Tagen des 16., 17. und 18. Mai erzwingen die Truppen gegen schweren Widerstand den Flußübergang, ohne daß trotz aller Erfolge bis zum 18. abends etwas Entscheidendes erreicht wurde. Der endgültige Umschwung kommt erst am 19.

Am 17. 5. trifft S.M. der Kaiser beim A.O.K. 11 ein. Seeckt erhält den Pour le mérite. Er schreibt darüber noch am 17. an seine Frau: »Es war ein schöner Moment, als der Kaiser mich heranrief und mir den Pour le mérite verlieh, das höchste Anerkennungszeichen für den preußischen Soldaten. Ich hatte wirklich gar nicht daran gedacht, und konnte ihm gerade nur danken. Er freute sich über meine Freude und sagte dann gleich: Daran wird Lochow seine Freude haben … Ich habe es sachlich vielleicht, persönlich sicher nicht um ihn verdient. So telegraphierte ich es gleich Dir, dann meiner Mutter und Lochow … Die Hofleute gratulierten mir mit sauren Gesichtern, nur Reischach voller Wonne und Freude. Heute haben Kenner ausgerechnet, ich sei der zweitjüngste Ritter und der einzige Generalstäbler, da Ludendorff General sei. Freude aber macht er mir in der Tat sehr …«

Nach wenigen Tagen schreibt er der Mutter: »... Ich möchte wohl, daß Vater es erlebt hätte … Daß mir der Kaiser selbst und in ehrender Weise die Mitteilung machte, erhöhte natürlich die Freude, und ihm tat es entschieden so wohl, Freude zu machen. Als ich ihm sagte, dies sei das höchste Ziel des preußischen Soldaten seit des großen Königs Zeit, bekam ich noch einen ganz besonderen Händedruck … Er nimmt so ungemein ein durch seine vollkommene Natürlichkeit und Schlichtheit im Verkehr mit uns … sprach und hörte mit seinem regen Interesse. Er war in meinen Büroräumen und bekam ein denkbar einfaches Butterbrot … fuhr dann zur Front, sprach seinen Sohn Eitel-Fritz … und konnte Garde und Hannoversches Korps kämpfen sehen. Ich fürchte jetzt, er wird sich Italiens Abfall sehr zu Herzen nehmen. Er betrachtet dergleichen immer als persönliche Kränkung, was sie gar nicht sind.«

Es ist eigenartig, wie der Eindruck, den das Eiserne Kreuz I. Klasse auf Seeckt machte, äußerlich viel mehr zum Ausdruck kommt, als jetzt der Eindruck des Pour le mérite. Die Ereignisse selbst sind größer und schwerer geworden. Das eigene Ich tritt notwendig mehr und mehr zurück, jedenfalls nach außen hin. Er hatte schon einmal Worte von Laotse angeführt. Ein Brief vom 18. 5. endet: »Wer sein Licht erkennt und dennoch im Dunkeln weilt, der ist der Spiegel der Welt, sagt Laotse.« Es ist deutlich zu erkennen, daß die Ehrung der eigenen Person hinter der eigenen Handlung fast verschwindet. Seeckt wächst an seinen Taten, aber er wächst bewußt.

Am 18. und 19. drängt General von Falkenhayn auf beschleunigtes Vorgehen gegen Wisznia-San und weist auf die Möglichkeit einer anderen Verwendung der 11. Armee hin. Beschleunigtes Vorgehen war schon am 18. abends etwas Schwieriges. Am 19. geht aber der Russe, der Verstärkungen erhalten hat, seinerseits zum Angriff über. So wird der 19. ein Tag voller Schwierigkeiten. Auch General von Falkenhayn muß schließlich zugeben, daß die Möglichkeit einer anderweitigen Verwendung der 11. Armee erst bestehen kann, wenn der Russe aus seiner jetzigen Stellung geworfen ist. Es entsteht im Verlauf des Tages ein heftiger Meinungsaustausch zwischen der O.H.L. und dem A.O.K. 11. Falkenhayn ist der Ansicht, daß der Russe sich vor der 11. Armee bereits schwäche, und daß ein Vorstoß der 11. Armee nach Süden und Südosten zu beiden Seiten der Wisznia wünschenswert sei, um bei Radymno und Przemysl Luft zu machen. Falkenhayn fängt an, bei der rapiden Zuspitzung der militär-politischen Lage, Przemysl stark in den Bereich seiner Erwägungen zu ziehen. Fest steht seit dem 19. jedenfalls, daß O.H.L. und A.O.K. Mackensen sich darüber einig sind, man wolle sich nicht mit dem bisher Erreichten begnügen. Damit steht die 11. Armee vor einer neuen Aufgabe, zu der sie ihre Vorbereitungen treffen muß.

Noch während des 19., an dem alle Angriffe des Russen abgewiesen werden, gibt Seeckt die Richtlinien an die Korpschefs aus für die Vorbereitungen, die darauf abzielen, erneut die russische Stellung zu durchbrechen. Mit welchen Mitteln gearbeitet wurde, um die Dinge wieder in Fluß zu bringen, erkennt man daraus, daß auch die Postfahrzeuge laut Tagesbefehl Munition vorbringen sollten. Der Eisenbahnendpunkt lag annähernd 120 Kilometer zurück, eine im Frieden kaum für möglich gehaltene Entfernung. Hatte Seeckt ursprünglich den 22. zur Fortsetzung der Operation vorgeschlagen, so stellte sich später heraus, daß man zu den Vorbereitungen doch die Zeit bis zum 24. nötig hatte. Das A.O.K. in Teschen faßte am 20. die neue Aufgabe so: »2. und 3. Armee sollen ostwärts Przemysl die Verbindungen der Festung nach Osten durchschneiden, 11. Armee an den Brückenköpfen bei Jaroslau und Sieniawa gegen Nordost sichern und unter Zusammenfassen starker Kräfte mit Gros nach Südosten vorstoßen.« Man ist berechtigt, anzunehmen, daß die Wahl der neuen Stoßrichtung, die ja in Teschen und Pleß gemeinsam gebilligt Allerdings hatte Falkenhayn die neue Stoßrichtung nach Südosten schon am 18. 5. der 11. Armee zugedacht. wurde, durch eine von Seeckt verfaßte Beurteilung der Lage beeinflußt wurde.

Die Zeit des Stillstandes benutzt der Armeechef, um nach vorn zu fahren. »In Jaroslau traf ich das Alexander-Regiment endlich. Lütcken und ich umarmten uns auf offner Straße. Mein altes erstes Bataillon, das Bataillon Seeckt von 1870, hatte mich erkannt, als ich durch die Stadt fuhr. Sie warteten auf mich, als ich vom österreichischen Generalkommando herauskam, das heißt der Rest, der mich noch kannte. Wie selbstverständlich werden die Opfer gebracht. Das ist das Allerschönste. Und dann der Stolz, daß ein alter Alexandriner mitgeführt hat. Es geht bald weiter. Es kann ein blutiges Pfingsten werden. Die Stimmung ist überall vor allem vertrauensvoll. Die Österreicher sind so mitten unter uns recht brav, vor allem unendlich willig, und nur der heilige Ernst fehlt bei den Großen. Aber bluten können sie auch ohne Murren … Przemysl werden wir wohl auch noch kriegen, nur nicht sogleich … Italien hat bis heute mittag noch nicht bestimmt Farbe bekannt … Ich ginge zu gern mit der Armee hin. Allein macht Österreich es doch nicht. Siehe Serbien. Mit uns könnte es eine ganz gute Sache werden.«

Am 22. wird die k.u.k. 1. Armee nördlich der Weichsel der 4. Armee unterstellt. Dadurch erhält das A.O.K. 11 wiederum erweiterten Einfluß. Der Armeebefehl für den Durchbruch entsteht. Das Ziel ist, den Gegner hinter den Dniester-Wisznia-San zu werfen, Przemysl einzuschließen und später zu nehmen. Damit war der Schwerpunkt vom rechten Flügel fortverlegt. Seeckt hat es später Zuschrift an das Reichsarchiv 1926. für notwendig gehalten, darauf ausdrücklich hinzuweisen. »Ich glaube, es wird verkannt, daß in dieser Periode der Schwerpunkt der Offensive nicht mehr auf dem rechten Flügel der 11. Armee lag, sondern auf dem linken und in der Mitte: durchstoßen!«

Der 23. vergeht mit den letzten Vorbereitungen zum Angriff. Die 11. b.R.D. soll gegen Przemysl zunächst nur abwehren. Hierüber waren die Ansichten anscheinend geteilt gewesen. Insbesondere gibt Seeckt zu, daß man noch nicht klar sah, ob der Gegner Przemysl zu halten beabsichtige oder nicht. Übrigens haben nachweisbar bei den Russen die Absichten über die Verteidigung von Przemysl auch geschwankt. Das Oberkommando »legte aber auf die Fortnahme von Przemysl zu dieser Zeit weniger Wert als auf die Durchführung der Offensive … Die Ansichten über Przemysl schwankten noch am 23. Am 24.5. war meine Ansicht, die ich in einem Schreiben an die Korpschefs niederlegte, daß der Feind gegen seine frühere Absicht Przemysl halte.« Tatsächlich hat sich die Auffassung, sich gegenüber der Festung Przemysl nur defensiv zu verhalten, in wenigen Tagen gewandelt.

Am 24. setzte der sorgsam vorbereitete Angriff ein. Das Korps François durchbrach die russischen Stellungen und stürmte den Brückenkopf von Radymno. Seeckt kommt tagelang nicht dazu, persönliche Aufzeichnungen zu machen. Diese Stunden nehmen seine volle Arbeitskraft in Anspruch. Ein kurzer Brief am 24. enthält jedoch eine Stelle, die auffallen muß. »Wieder aus aufregenden Stunden geschrieben. Gott sei Dank anscheinend ein Erfolg. Ein kräftiger Schlag ist in den letzten Tagen mit Anspannung aller Kräfte vorbereitet worden, um die Sache erneut ins Rollen zu bringen. Es scheint zu gelingen. Eben meldet François allein bei einer Division an Beute 16 Offiziere, 2000 Mann und 11 Geschütze. Bei der anderen konnten sie die Zahlen noch nicht feststellen. Das Korps bäte um Unterstützung, nicht um Gefangene zu machen, sondern um sie abzutransportieren. Glückt diese Operation, dann kann ich mal von meinem Privaterfolg sprechen. Denn bei dieser Sache ist kein Tropfen fremden Einflusses oder Willens dabei. Freilich und natürlich, wie leicht ist das alles mit dieser Truppe und mit diesen Führern …, junge und alte Regimenter, deutsche und österreichische. Ich kann das VI. österreichische Korps Kommandierender General Feldm.Lt. Arz v. Straußenburg, 1917 Nachfolger Conrads. nicht genug loben. Wenn die Russen nicht so vorsichtig wären und ihren Rückzug immer so rechtzeitig vorbereiteten, dann finge man immer noch mehr. Wir kommt es wahrhaftig nicht auf Zahlen an zum Triumphieren. Aber endlich muß es doch die Masse bringen und endlich muß man sie doch klein kriegen …« Es ist nirgends ersichtlich, warum Seeckt den 24.5. als seinen eigenen Erfolg angesehen hat. Die Behauptung kann sich bei seiner ganzen Einstellung zu seinem Oberbefehlshaber unmöglich gegen diesen richten. Mit Generaloberst von Mackensen fühlte er sich eins. Es mag aber wohl sein, daß er sich über eine Fülle von Schwierigkeiten hinweg die Selbständigkeit gegenüber beiden Heeresleitungen gewahrt hat, und daß es auch nicht immer leicht war, den Willen des A.O.K. nach unten hin durchzusetzen. Wir wissen, daß beim Einsatz der 11. b.R.D. persönliche Schwierigkeiten entstanden, die Seeckts eigenes Eingreifen erforderten. Der Kommandierende General des XLI. Korps, v. François, war gewiß auch kein einfach zu nehmender Untergebener. Trotz alledem hat man keine rechte Erklärung dafür, warum Seeckt gerade diesen 24. Mai für sich bucht in einer Weise, die er bei allem Selbstbewußtsein sonst niemals angewendet hat. Seeckt hat jedoch auch später stets gezeigt, daß er die Kriegshandlung in Galizien fast als den Höhepunkt seines militärischen Lebens empfunden hat. Es läßt sich vermuten, daß in seinem Empfinden hierbei der 24. Mai den Vorrang vor dem 2. Mai und allen anderen Daten behalten hat. Es bleibt aber ungeklärt, warum er gerade diesen Tag so einzigartig bewertet. Da er es aber tut, wird man ihm den Ruhm dieses einen Tages lassen müssen. Es ist schwer genug für einen Mann von der Größe Seeckts, niemals selbst Feldherr gewesen zu sein.

Am 25. und 26.5. werden die bisherigen Erfolge vergrößert. Aber der Kampf ist schwer. Der Russe wehrt sich zäh. Im ganzen ergibt sich die eigenartige Lage, daß der rechte Flügel und die Mitte in scharfem Vorgehen sind und der linke Flügel in der Defensive zum Stellungsbau übergeht.

Der 27.5. ist ein schwerer Tag. Seeckt schreibt noch mehrere Tage später an die Mutter, dieser 27. habe einige böse Stunden gebracht. »Nebenan von uns haben die Bundesbrüder leider nachgegeben. O du mein Österreich! Etwas sorgenvoll.« Tatsächlich haben tschechische Regimenter bei Sieniawa völlig versagt. Die 10. Inf.Tr.D. geht schwer erschüttert hinter den San zurück. Es bleibt nichts übrig, da auch das k u k. X. A.K. stark angegriffen wird, als die Garde und das VI. A.K. anzuhalten, so daß in der Offensive tatsächlich nur noch das Korps François und dies auch nicht einmal ganz verbleiben kann. Der Mangel an Reserven macht sich sehr unangenehm fühlbar und jetzt auch die Einwirkung von Przemysl. Die 11. Armee ist für ihre Aufgabe zu schwach, zumal die 2. und 3. nicht vorwärtskommen. »Sie haben uns wieder gründlichst angegriffen. Diese tschechischen Truppen! Sie sind ihren Offizieren glatt davongelaufen, haben Geschütze im Stich gelassen, Gewehre fortgeworfen. Schon ein Kreuz! Nun muß ich das reparieren. Ich hoffe, es ist geschehen. Das hat der Russe voraus: Wenn ihm befohlen wird, anzugreifen, so greift er an; soll er stehenbleiben, bleibt er stehen, läßt sich totschlagen oder lieber noch gefangennehmen. Man kann mit dem Russen überhaupt nichts anderes machen, als ihn totschlagen oder gefangennehmen. Eigentlich zu besiegen ist er sonst nicht … Die Österreicher sind eben ganz verschieden, und immer wieder kann ich das uns unmittelbar unterstehende VI. österr. Korps und namentlich seine ungarische Division nicht genug loben. Die geschlagene 10. I.Tr.D. gehört zur Nachbararmee. Ihr Erzherzog Joseph wird außer sich sein. Ich schickte ihm eben einen sehr herben Bericht. Da kann nichts helfen. Man darf sich nicht zu einer Weichheit oder Liebenswürdigkeit oder – na ja, verführen lassen … Ich kann nicht leugnen, daß die Nacht etwas unruhig war. Es sind der Feinde zu viele. Wären sie auch noch gut! …«

Der 28. läßt Seeckt schnell nach überstandener Krise die Ruhe wiederfinden, wenngleich natürlich auch dieser Tag noch völlig unter dem Druck der Ereignisse bei Sieniawa sieht. Im wesentlichen hilft ihm dabei die Freude über den Quartierwechsel nach Jaroslau, weil er damit nahe genug der Front ist und diese Nähe auch zu persönlichen Rücksprachen vorn sofort ausnutzt. Seeckts Nerven schwingen so schnell aus, daß er schon wieder Zeit zu einigen besinnlichen Aufzeichnungen hat. »Vor meiner Veranda arbeiten ein Dutzend Gefangene. Drollige Kerls, alles kräftige junge Leute. Zum Teil mongolische Gesichter dabei, die machen die Arbeit faul, was ich ihnen nicht übelnehme, aber mit zufriedenen Gesichtern und soweit ich sehen kann, ohne jede Aufsicht. Ihnen ist das Gehorchen so im Blut, daß es ihnen ganz gleich ist, wer befiehlt. So werden die Gefangenen oft stundenweit zurückgeschickt mit einem Zettel auf der Brust, wohin sie gehen sollen, und sie fragen sich dann nach allem durch. Wohin sollten sie auch gehen? Zurück? Nicht um die Welt. Bei uns bekommen sie zu essen, werden nicht mehr totgeschlagen und gut behandelt von uns Barbaren. Man darf aber aus der Masse solcher Leute nicht ohne weiteres auf ein Nachlassen der russischen Kräfte schließen … Eben kommt der aufsichtsführende Gendarm und holt meine Gartenjungen wieder unter einem Busch heraus, unter den sie sich vor dem Regen verkrochen haben. Zwei stehen vor mir und sehen mich sinnend an. Der eine ein ganz alter weißbärtiger Tscherkesse mit Lammfellmütze, der andre ein junger Mongole, der nicht allzu fern von der Tibetgrenze herstammen muß. Auch ein eigenes Bild, diese sich hier so unfreiwillig berührenden Welten.«

An diesem 28.5. trat der Umschwung beim A.O.K. ein in der Auffassung, wie weiterhin die Festung Przemysl zu behandeln sei. Es ist ein Irrtum, wenn diese Wendung in der Absicht erst auf den 29. verlegt wird. Einmal brachte der 28. bereits einen Druck gegen die rückwärtigen Verbindungen der Festung. Dann aber setzten ja bei den Truppen des General v. Kneußl schon am 29. die ersten Bewegungen auf Grund des neuen A.O.K.-Entschlusses ein. Seeckt schreibt auch selbst am 28.: »Nun geht es mit Ernst an Przemysl. Daher auch ihre verzweifelte Gegenwehr.« Seeckt ist später gefragt worden, wie er zu diesem Übergang vom defensiven zum offensiven Verhalten gegenüber Przemysl gekommen ist. Er schreibt An das Reichsarchiv 1926.: »Es mußte zunächst das Bestreben sein, möglichst wenig Kräfte gegen Przemysl zu belassen. Kam es, was von vornherein beim A.O.K. 11 angenommen wurde, zu einem hartnäckigen Festungsangriff, so durfte dieser nicht den deutschen Angriffstruppen zufallen, naturgemäß konnte Przemysl nicht unbeachtet liegenbleiben. Über Halten oder Nichthalten durch den Gegner waren die Auffassungen und Nachrichten schwankend. Österreichischerseits wollte man Przemysl als sehr stark ansehen. Als nun mit Gewinnung der Sanlinie und Abweisung der starken russischen Angriffe ein gewisser Abschnitt der Offensive erreicht war, hatte das A.O.K. Kräfte übrig, um mit Przemysl aufzuräumen. Es hatte sich die Auffassung gefestigt, daß die Werke von Przemysl einem Angriff der verfügbaren Artillerie nicht standhalten würden nach den Erfahrungen des westlichen Kriegsschauplatzes, und daß somit ein abgekürzter Angriff Erfolg versprach. Dieser würde der wiederaufzunehmenden Offensive nicht lange Kräfte entziehen.« Später hat Seeckt dann begründet, daß bei einem abgekürzten Verfahren die Aufgabe nicht österreichischen, sondern deutschen Truppen übertragen werden mußte. Man muß die Ausführungen des Jahres 1926 mit der Lage vom 28.5.1915 in Einklang bringen. Seeckts Niederschrift der späteren Zeit gibt mehr die historische Entwicklung des Gedankens. Die eigentliche Begründung setzt er vielleicht voraus. Wenn die Armee die Offensive fortsetzen wollte, mußte sie die beiden Hemmungen überwinden, nämlich die Einwirkung der Festung und die Rückschläge des 27. Zwei derartige Hemmungen gleichzeitig auszuschalten, dazu reichten aber offensichtlich die Kräfte nicht. Man mußte also erst einmal die Festung erledigen, um weiterzukommen. Dazu blieb wiederum nicht viel Zeit, wenn der Widerstand des Gegners nicht wachsen sollte. Daher war überhaupt das abgekürzte Verfahren nur möglich und dies wiederum forderte den Einsatz reichsdeutscher Truppen.

Am 30. Mai beginnt General v. Kneußl mit dem abgekürzten Verfahren gegen die Festung. Der erste Tag verläuft nicht recht glücklich. Es ist schwierig, unter diesen Umständen weitere Entschlüsse zu fassen. Das aber verlangt man vom A.O.K. 11 gerade am 30. abends. Der Chef der Operationsabteilung der O.H.L., Tappen, kommt zum A.O.K. und wünscht eine Entscheidung über die Weiterführung der Offensive nach Zuführung von Verstärkungen. Mackensen schlägt den Stoß Jaroslau–Rawa Ruska vor und hält im übrigen an seinen Absichten gegen Przemysl fest.

Der 31. verlief schon günstiger, und Seeckt bezeichnet selbst die Festung als »angeknaxt«. So war denn die Lage immerhin erfolgversprechend, wenn man auch zugeben mußte, daß sich der Russe vor der 11. Armee auf 18 Divisionen verstärkt hatte. In diese Lage hinein kam wider Erwarten am Nachmittag des 31. ein Befehl der österreichischen Heeresleitung, wonach die 11. Armee und ihre linke Nachbararmee sich auf Abwehr umstellen sollten. Das war allerdings eine grundlegende Abänderung aller bisherigen Anordnungen. Der Befehl lautete wörtlich Heeresarchiv Potsdam, Akte 329.:

»31.5. 2 Uhr 50 nachmittags.

An 11. Armeekommando Jaroslau.

Nachrichten der letzten Tage lassen erkennen, daß der Feind bei Festhaltung von Przemysl und der stark befestigten Front Przemysl–Rudki alle anderswo entbehrlichen Kräfte versammelt, um unsere über den San vorgedrungenen Truppen, namentlich die inneren Flügel der 11. und 4. Armee, an unterer Lubaczowka und am San bei Sieniawa stark anzugreifen. 11. und 4. Armee sorgen für besonders starke Einrichtung ihrer Kampflinien und stellen alle entbehrlichen Kräfte als Reserven für die Abwehr bereit. 3. und 2. Armee führen Angriff auf Przemysl und gegen Linie Przemysl–Rudki mit aller Entschiedenheit fort. Südarmee …

Unterschrift: Feldmarschall Erzherzog Friedrich.«

Generaloberst von Mackensen war nicht bereit, an seinen Angriffsbefehlen etwas zu ändern. Seeckt hat später Mitteilung an das Reichsarchiv 1926. selbst hierzu Stellung genommen: »Die Weisung aus Teschen stand im vollsten Gegensatz zu der Ansicht des A.O.K. 11. Ein Anhalten der Offensive hätte nur auf ausdrücklichen Befehl der deutschen O.H.L. erfolgen können. Die Lage der 11. Armee gab zu der Weisung keinerlei Anlaß. Eine Antwort hat das A.O.K. 11 nicht gegeben; diese gaben die Maßnahmen des A.O.K. 11 und die Ereignisse. Der Wunsch, daß Przemysl nicht von den deutschen Truppen wiedergenommen würde, war sicher begreiflich, operativ aber nicht zulässig.«

Man nimmt solche Entscheidungen wie die des A.O.K. 11 am 31. nachträglich leicht als etwas Selbstverständliches. Es war doch ganz klar, daß Generaloberst von Mackensen bei seinem Entschluß blieb. So klar und einfach war das nicht. Es gehörte schon erhebliche Willensstärke bei Mackensen und Seeckt dazu, sich durch nichts beeinflussen zu lassen. Denn die Lage war vom 31.5.–2.6. in keiner Weise besonders günstig. Seeckt schreibt am 1.6.: »Eine unruhige Nacht. Wie die Wilden haben sie uns von allen Seiten angegriffen, wurden aber abgewiesen und gaben dann Ruhe. Bei Tage riskieren sie es nicht mehr so recht. Aber bei Nacht hetzen sie die Masse noch vor. Das X. A.K. glänzend, namentlich die oldenburgisch-ostfriesischen Regimenter. Was haben die für Nerven! … Der Großherzog von Oldenburg war heute bei mir. Welch ein lieber sympathischer Mann mit seinen blauen Augen. Er ist bei der 19. I.D., wo sein Regiment steht, und jeder liebt ihn. Er erleichterte sein Herz durch energisches Schimpfen auf den Reichskanzler … Ich habe den hohen Herrn eben nach Przemysl geschickt, das heißt noch nicht in die Stadt. Das hat noch einige Zeit … Es geht aber doch gut vorwärts seit gestern abend. Eine ganze Anzahl Geschütze genommen, allerdings österreichische, die sie dort zurückgelassen hatten. Sie hatten behauptet, ganz Przemysl nur als Trümmerhaufen übergeben zu haben. Die Kanonen sind heil geblieben.«

Sehr erfreulich verläuft der 2.6. erst recht nicht. Wohl haben die Bayern vor der Festung Erfolge. Aber der linke Nachbar, die k.u.k. 4. Armee, gibt erschreckend nach. Das A.O.K. 11 weist die 4. Armee in gebotener Schärfe auf die Unmöglichkeit weiteren Zurückgehens hin.

Der Russe steht nur noch 30 km von der Straße Rzeszow–Jaroslau ab. Man muß allerdings zugeben, daß innerhalb von einer Woche 15 russische Divisionen gegen den linken Flügel angegriffen haben. Die Spannung findet in Seeckts Aufzeichnungen am 3.6. früh ihre deutliche Wiedergabe. »Das war eine aufregende Nacht. Die ganze Zeit rasten Befehle heraus für Neugruppierungen zu neuen Taten. Dazwischen mußten Rückschläge ausgeglichen werden. Aber es macht doch Freude und vor allem die Aussicht auf neue Taten.«

Und dann gehen am 3. Juni zwei Telegramme ab. Das eine dienstlich an den Oberbefehlshaber Erzherzog Friedrich: »Ich bitte Seiner k.u.k. apostolischen Majestät zu melden, daß die 11. Armee Przemysl Allerhöchstihm zu Füßen legt.« Das andere ein Privattelegramm an Frau von Seeckt Das Telegramm an Frau v. Seeckt hat ein eigentümliches Schicksal gehabt. Es ist von der österreichischen Durchgangsstelle als unzulässig zensiert worden und an Seeckt zurückgelangt, hat sie aber doch noch am Abend des 3. Juni erreicht. »Przemysl zur Tagesfeier gefallen.« Es war Seeckts Hochzeitstag. Die 11. b.R.D. war mit dem II./3. G.Rgt.z.F. in die Stadt Przemysl eingedrungen. Die Russen hatten geräumt. Die Österreicher folgten. Nicht ohne daß Conrad sie mit ziemlich harten Worten dazu antreibt. Er telegraphiert an die 3. Armee:

»Nachdem 3. Armee es der b.11. Division überlassen hat, Przemysl wieder zu gewinnen, gewärtigt A.O.K. wenigstens energische Ausnutzung des Erfolges durch 3. Armee.«

So groß Seeckts Freude war, so wenig wird er übersehen haben, daß die Rückeroberung von Przemysl kein ganzer Erfolg war. Aus der Sicherung gegen die Festung entstand der Angriff. Der hatte als Ziel, die Festung abzuschneiden. Das ist nicht gelungen, weil man nicht genügend Kräfte frei hatte. Sie wurden gebunden durch den Erfolg der Russen bei der 4. Armee. Es war ein ungeheurer moralischer Erfolg. Aber die Festung fiel leer in die Hände der Deutschen. Das Nichtabsperren der Festung ist später General v. François hat dies und manches andere an der Führung des A.O.K. 11 in diesen Tagen bemängelt. Es sind ihm dabei offenkundige Fehler unterlaufen. Zum Teil ist seine Kritik wohl darauf zurückzuführen, daß die Spannungen zwischen ihm und dem A.O.K. sich zuspitzten und nicht ohne Folgen bleiben konnten. Er wurde in Kürze versetzt. bemängelt worden. Das A.O.K. 11 hat die Unterlassung sicher am meisten bedauert. Es hatte aber nicht die Kräfte, anders zu handeln. Wollte die O.H.L. einen größeren Erfolg, so mußte sie, wenn sie das konnte, selbst die Voraussetzungen dazu schaffen.

Nunmehr war ein neuer Entschluß zu fassen. Die deutsche O.H.L. lehnte eine Offensive gegen Italien ab und entschied sich für die Fortsetzung der Offensive in Galizien in Richtung auf Lemberg. Man ist wohl berechtigt, die Grundlage hierfür in den Gesprächen am 30. und 31. 5 mit Tappen zu sehen. Dennoch wäre es verfehlt, zu behaupten, der Entschluß wäre eine Angelegenheit Mackensen-Seeckt gewesen. Zweifellos hat ihr Einfluß das Ziel Lemberg gesetzt, wenn man in Galizien weiterkämpfen wollte. Man muß sich auch erinnern, daß Lemberg Mackensen als Ziel von Anfang an vorgeschwebt hatte. Seeckt hätte, wie wir gesehen haben, gegen eine italienische Verwendung nichts einzuwenden gehabt. Die Entscheidung, ob Galizien oder Italien, war aber allein Sache der O.H.L. Die Zielbestimmung Lemberg ist zweifellos Verdienst des A.O.K. 11. Falkenhayn neigte ursprünglich mehr einer Operation der Armee Woyrsch über die Weichsel zu. Er hatte dies am 21. und 30.5. in Pleß mit Oberst Heye und am 23. auch mit Ob.Ost besprochen. Da aber Woyrsch mit den angebotenen drei Infanterie-Divisionen und einer Kav.-Division nicht auskommen zu können glaubte, überdies Falkenhayn nun auf einmal von der Lage in Galizien unbefriedigt war und einen Stillstand befürchtete, entschied er sich für die Durchführung der galizischen Operation. Am 3. 6. schlägt Seeckt der O.H.L. eine neue Gliederung vor: Auflösung der 3. Armee zur Verstärkung der 4. Armee; 2. Armee mit Beskidenkorps A.O.K. 11 unterstellt; alle Verstärkungen zur 11. Armee. Diese soll nach einem Stoß in nördlicher Richtung (Sieniawa) zur Öffnung des Sanübergangs zur 4. Armee nördlich Lemberg vorgehen. Auf diese Weise wird die russische Grodekstellung umgangen. Falkenhayn stimmt zu »bis zu einer für unsere Zwecke genügenden Entscheidung«. Schon ist die Hemmung wieder da. Seeckt schlägt im Auftrag seines Oberbefehlshabers einen großen Plan vor und Falkenhayn stimmt zu mit der sofortigen Hervorhebung des begrenzten Zieles. Nur keine wirkliche Entscheidung! Das sind nicht Unterschiede der verstandesmäßigen Auffassung. Falkenhayn war ein ungeheuer kluger Mensch. Das sind Unterschiede der inneren Auffassung und des Glaubens. Seeckt glaubte an die Möglichkeit einer Entscheidung, Falkenhayn nicht. Das ist der Kernpunkt des Ganzen. Im übrigen stimmt auch Conrad zu Die Ansicht von François, daß zwischen A.O.K. 11 und der einen oder beiden O.H.L. noch am 7. 6. Meinungsverschiedenheiten geherrscht haben, ist nicht zu belegen.. Dieser spricht nun aber wieder davon, daß die 11. Armee ihren Stoß fortsetzen solle, »um den Feind entscheidend zu schlagen«.

Seeckt verfaßte im wesentlichen selbst am 3. die Befehle. Der technische Aufbau der neuen Operation ist sein Werk. Conrad hatte nun auch die 2. Armee unterstellt. Damit ist eine Lage geschaffen, die die Bildung einer Heeresgruppe verlangt. In Wirklichkeit ist es aber dabei geblieben, daß die Heeresgruppe gleichzeitig als A.O.K. 11 an die diesem unterstellten Generalkommandos befehlen mußte. Sehr glücklich kann man solchen Zustand nicht nennen.

Die Tage vom 4.–11. Juni dienen dem Aufmarsch und der Vorbereitung der neuen Offensive. Der rechte Nachbar, die Südarmee, geht gegen den Dniester vor, den sie nicht ohne Überwindung schwerer Krisen und nur an einer Stelle überschreitet. Der allgemeine Eindruck ist der, daß der Gegner in eine rückwärtige Stellung geht, sich vor der Front der Armeegruppe Mackensen durch frische Kräfte verstärkt und daß die Hauptstellung sich an die Grodekstellung nach Nordwesten anschließen dürfte. Das Einschwenken des rechten Flügels der 11. Armee und des linken Flügels der 2. Armee in die neue Front führt zu Kämpfen, die das Oberkommando abbrechen läßt, damit die Truppe einige Tage der Ruhe hat, obgleich die gewünschte Ausgangsstellung nicht erreicht wurde. Man sieht, daß Seeckt, wenn es zum Nutzen der Sache ist, auch zu einem Nachgeben und Sichabfinden mit der gegebenen Lage raten kann. Er ist unnachgiebig nur an entscheidenden Stellen.

Am 5. 6. läßt Falkenhayn mittags Seeckt an den Apparat rufen. Falkenhayn drängt zu früherem Antreten, was Seeckt ablehnt. Falkenhayn fügt sich und nimmt die Gelegenheit wahr, Seeckt besonders sein Vertrauen auszusprechen. Diese Aussprache am Fernschreiber verdient im Wortlaut wiedergegeben zu werden Heeresarchiv Potsdam, Akte O 441.:

»Falkenhayn: Haben Sie gehört, daß der linke Flügel der Südarmee sehr schnelle Fortschritte macht und der Feind angeblich in Auflösung vor ihr zurückgeht?

Seeckt: Ja, wenn auf diese Weise der äußerste rechte Flügel schon schneller vorkommt, werden wir wohl unsere Offensive vielleicht noch etwas nördlicher ausdehnen müssen. Zweck bleibt doch immer, starke russische Kräfte zu schlagen.

Fk: Das ist ganz meine Meinung. Vielleicht können Sie aber auch schon früher vorwärts gehen, da Ihre linke Flanke ja jetzt durch die Ausladung gesichert ist?

Se.: Ich möchte doch Eintreffen aller neuen Kräfte abwarten, noch ist mir die linke Flanke auch noch nicht völlig sicher … Ich werde alles nach Möglichkeit beschleunigen, möchte aber doch zunächst noch an dem bisherigen Plan festhalten.

Fk.: Ich bin, wie Sie wissen, der letzte, der einem anderen in sein Geschäft hereinredet. Es darf nur nicht vergessen werden, daß der Feind, wenn Sie ihn loslassen, Gelegenheit bekommt, gegen die Südarmee zu detachieren und so deren Einwirkung zu Ihren Gunsten zu verhindern.

Se.: Ja. Das sehe ich ein. Noch steht ja aber Feind auf der ganzen Front vor uns, nur seine Angriffskraft läßt nach.

Fk.: Ich glaube, nicht nur seine Angriffskraft läßt moralisch nach, sondern er hat auch keine Munition mehr. Im übrigen verlasse ich mich darauf, daß das A.O.K. 11 die Sache schon machen wird. Wir unsererseits haben in der Ausstattung der neuen Teile besonders der Artillerie alles getan, was wir machen konnten …«

Die Arbeit, die bei der Vorbereitung der neuen Operation nun einen sehr weiten Raum umfaßt, häuft sich. Einerseits sieht Seeckt, da die Russen Kräfte gegen die Südarmee verschieben, die Angriffsaussichten der Gruppe Mackensen durchaus günstig an. Andererseits bleibt ihm unwillkürlich das Gefühl nicht erspart, daß von oben her das Ganze nicht mit der Großzügigkeit angefaßt wird, die er möchte. Tatsächlich hat Falkenhayn trotz der gespannten Lage im Westen von dort her Kräfte zu nehmen gewagt und außerdem von Ob.Ost; im ganzen 4½ Divisionen. Dieser Kräftezuwachs kommt der Gruppe Mackensen ungemein erwünscht. Aber es ist nichts am Wesen der Sache geändert. Der innere Zwiespalt kommt bei Seeckt zum Ausdruck. »Wieder in gründlichster und gesteigerter Arbeit. Es häuft sich die Verantwortung, die ich aber gern tragen will. Ganz rein kommt der Gedanke so, wie er entstand, nie zur Ausführung. Das ist menschlich und natürlich. Aus wieviel Einschränkungen setzt sich schließlich erst der Erfolg zusammen! Aber das weiß man allein und macht es allein mit sich ab. Ich bin aber nicht niedergedrückt, nur zuweilen vielleicht etwas ernst. Ich habe ja auch keinen Grund, unzufrieden zu sein. Sehr im Gegenteil …« Es ist einer der seltenen Einblicke in die Seele eines führenden Soldaten, der erkennen läßt, daß Kriegshandlungen nach dem Wort Moltkes stets ein System von Aushilfen sind. Das weiß natürlich jeder, der sich auch nur oberflächlich mit Kriegsgeschichte beschäftigt hat. Wenn man aber eine solche Briefstelle wie die eben angeführte vom 6. Juni liest, dann erst fühlt man, wie die Bleigewichte der Wirklichkeit immer dem klarsten Gedankenflug und der stärksten Willenskraft widerstreben. Um so höher steht dann der Erfolg. »... Der Tag verlief ruhig, zu ruhig, um mich nicht unruhig zu machen. Hinter mir verlangen sie nun jeden Tag einen Sieg oder eine Festung oder wenigstens 10+000 Gefangene, um es – das ist der Hauptzweck – in die Welt zu posaunen. Als ob nicht der gesicherte Erfolg die Hauptsache oder vielmehr alles sei. Sie haben aber mit Hetzen gar kein Glück bei mir und geben dann auch die Versuche auf …« Der Armeechef greift in diesen Tagen persönlich sehr stark in die Einzelheiten ein. Am 7. findet man von seiner eigenen Hand nicht etwa nur die grundlegenden Befehle, sondern sogar Einzelbefehle. Das war gelegentlich allerdings nötig, denn wenn Seeckt sich auch nicht hetzen ließ, so konnte er andererseits scharf werden, wenn unterstellte Dienststellen nicht mit der gebotenen Eile handelten. Für den Wunsch nach Ruhetagen hatte er bei der Lage kein Verständnis, um so weniger, als seit dem 8. 6. mit der Möglichkeit einer Räumung Lembergs durch die Russen zu rechnen war. Das alles führt zu dem Entschluß, daß der gemeinsame Angriff auf den 13. 6. festgelegt wird. Diese Vorbereitungszeit brauchte man allerdings. »Zu Hause werden wir gewiß schlecht gemacht, daß wir gar nichts täten.« Dabei waren in diesen Tagen wirklich so viel Schwierigkeiten zu überwinden, daß Seeckts Laune merklich darunter litt. »Wir kämpfen seit heute morgen, d. 12. 5., nur ein Auftakt, der aber gelungen zu sein scheint. Morgen früh donnern die Kanonen auf langer Front und erneut zur großen Schlacht. Alles steht bereit und ist voller Lust und Zuversicht. Das Erfrischende und Stärkende ist, was von vorn kommt, von der Truppe. Bedenken und Schwierigkeiten tauchen rückwärts auf, werden aber überwunden.« Ganz so war es nun nicht. Auf dem rechten Flügel der 4. Armee war es keineswegs so herrlich, wie diese Briefstelle vermuten läßt. Es entsteht daraus ein ziemlich gereizter Meinungsaustausch zwischen Pleß, Teschen und dem A.O.K. 11. Deutlich spiegelt sich die Erregung in Seeckts Brief vom 12./13. wider. Er, der sonst so gern das Gute bei den Verbündeten anerkannte, wird recht scharf. »Gestern Abend war der Abgesandte des Kaisers Franz Joseph hier, der Mackensen das Handschreiben brachte, das ihn zum Chef des Husarenregiments ernennt. Einer von diesen laurigen Hofgeneralen, denen die Unzuverlässigkeit aus den Augen leuchtet … Sein Kutscher ist Markgraf, Exzellenz und Ritter des goldenen Vließes … Ich bin momentan gereizt auf die Brüder Stimmt, denn die eben durch Punkte ersetzte Stelle ist reichlich bissig. und gebe dem nicht nur hier in diesem Briefe Ausdruck … Es war ein Tag goldener Rücksichtslosigkeiten. Doch was hilft das alles? Nun schreien sie, aber sie tun, was sie sollen. Infolgedessen bin ich mit dem gestrigen Auftakt doch ganz zufrieden. Er brachte über 5000 Gefangene und den Brückenkopf von Sieniawa wieder, den ich für die Fortsetzung brauche. Ich hoffe, nun werden die Brüder ihre Schuldigkeit tun. Es geht ihnen wie in dem italienischen Liedchen: Wenn's nicht aus Liebe singt, so singt's aus Wut, – leider nicht auf die Russen, sondern auf uns. Es ist ja toll, von uns zu verlangen, daß man ganz einfach angreift. Es ist schon beiläufig lebensgefährlich mit uns. Inzwischen ist die Schlacht Es ist der 13. 6. geworden. seit 4 Uhr morgens im Gange. Von fern hört man den Kanonendonner. Hoffen wir, daß es nun wieder glückt und daß die Truppe sich nicht schnell müde kämpft. Darauf kommt alles an. Die stärkste Energie entscheidet. Nicht müde werden! Wir haben wahrhaftig keine Zeit dazu. Fortschritte werden von allen Seiten gemeldet. Aber je größer der Raum, welchen Gedanke und Wille umspannt, desto größer die Anforderungen an Geduld und Ruhe. Um so länger sind die Wege von dem Felde, auf dem der brave Grenadier das Beste tut, bis zu meiner Karte, auf der ich es zu verwerten versuche. Es ist fast wohltuend, unterbrochen zu werden …«

Es ist eine erstaunliche Eigenart von Seeckt, daß er sich gelegentlich mitten im ernstesten Getriebe durch völlig harmlose Gedanken weit fortführen läßt. »... In dieser gespannten Stimmung empfindet man alles vervielfacht deutlich, auch Vergangenes. Alles, und das bist doch schließlich immer Du.« Und in den Stunden vor dem Angriffsbeginn: »Gestern abend, als ich noch ziemlich spät bei der Lampe saß, kam eine weiße Katze Gelegentlich nennt Seeckt seine Frau scherzhaft Katz. zu mir herein. Es war ordentlich schreckhaft und gespenstig. Auf mein erstauntes Guten Abend lief sie ganz furchtbar schnell fort. Es war die erste Katz, die ich in Galizien sah. Warum lief sie nur so schnell wieder weg? Aber es war doch nett, daß sie mich besuchte.«

Freilich bald ist für harmlose Stimmungen durchaus wenig Raum. Es ist schon nicht günstig für die allgemeine Führung, wenn sich das Verhältnis der beiden O.H.L. zueinander so zuspitzt, daß tatsächlich über eine Woche bis zum 20. 6. keine Besprechungen zwischen Falkenhayn und Conrad mehr stattfanden. Auch Seeckt schreibt unumwunden noch 4 Tage später, am 16. 6., erneut, daß er »gereizt auf die Österreicher sei«. In einem Schriftwechsel mit der 4. Armee geht das so weit, daß Seeckt, was er ganz gewiß sehr selten und erst recht sehr ungern gegenüber den Österreichern tut, nicht verschweigt, »er sei persönlich auf das empfindlichste berührt« Heeresarchiv Potsdam, Akte 383 a..

Trotz alledem bringen die Tage vom 12.–15. einen erfolgreichen Durchbruch der Heeresgruppe bis an die Grodekstellung. Freilich waren die Kämpfe am 14, und 15. schwer. Der Russe wehrte sich in der neuen Stellung mit eilig herangebrachten Verstärkungen. Jedoch der 15. erweiterte die Erfolge beträchtlich. Es darf übrigens nicht unerwähnt bleiben, daß der Anfangserfolg des 13. mit 50 km Breite und 5–9 km Tiefe größer war als der am 2. Mai. Trotz der Schwere der Kämpfe gibt das A.O.K. am 15. für den 16. 6. einen Verfolgungsbefehl. Der Entschluß ist nicht so einfach. Seeckt schreibt, das Bild habe sich bis zum 15. mittags geändert; »der Verfolgungsbefehl wird aufrecht erhalten.« Man spürt aus den Worten, daß das nicht leicht ist. Solche Befehle entstehen erst nach innerem Kampfe.

Seeckt beurteilt an die O.H.L. die Lage so: »Ziel der Operation ist Vernichtung der feindlichen Kräfte Heeresarchiv Potsdam, Akte O 441. Dem Sinne nach, nicht ganz wörtlich wiedergegeben., Fortsetzung des Stoßes nach Osten derart, daß Trennung der feindlichen Kräfte erreicht wird. Demnach Fortsetzung der Operation durch Südarmee und 7. Armee nach Nordosten, während 2., 11., 4. Armee nach Norden einschwenken, zwischen Bug und Weichsel gegen Brest und Warschau vorgehen, hierdurch Entscheidung gegen russische West- und Nordwestfront herbeiführen.« Es ist in der Tat bewundernswert, mit welcher Hartnäckigkeit Seeckt immer wieder auf den Gedanken der Entscheidung zurückkommt. Nebenbei ist festzustellen, daß der Gedanke eines Einschwenkens nach Norden von Seeckt hier zum ersten Male erwähnt wird. Falkenhayn bemerkt hierzu allerdings: »Ein schöner Gedanke – aber.« Seeckt sah über alle Schwierigkeiten hinaus unbedingt die Lage günstig an, auf jeden Fall aber trotz aller scheinbaren Übereinstimmung im wichtigsten Punkte anders als Falkenhayn.

»Ich bin mit dem Verlauf der letzten 3 Tage sehr zufrieden und selbst der Oberbefehlshaber entwölkte seine Stirn heute nachmittag etwas … Die Russen werfen uns entgegen, was sie auftreiben konnten, um uns aufzuhalten. Noch fehlt der volle Tagesabschluß. Aber ich weiß ihn schon voraus. Auch eines der jungen Korps, die in Flandern solchen bösen Erlebnisanfang hatten, konnte nun zum Siege schreiten. Es führt der Bruder Falkenhayn … Zwischen aller Arbeit gibt es hier noch Besuch. So gestern die drei österreichischen Kriegsminister, zwei für jeden Teil besonders und ein gemeinsamer. Ganz charakteristisch …« Auch an die Mutter schreibt er am 15. 6.: »... Mit den letzten Tagen bin ich zufrieden. Herrlich ist das Gefühl der Selbstverständlichkeit bei der Führung dieser Truppen. Mit solchen muß es ja gelingen. So ist das Gefühl, nicht die Überlegung. Die sagt, daß es auch anders hätte kommen können … Der Feind scheint mir hier ziemlich geschwächt zu sein, aber wir dürfen ihm darum erst recht keine Ruhe lassen. Die großen Verhältnisse – bei uns liegt die Führung dreier Armeen – bringen es mit sich, daß wir sehr an eine Stelle gebunden sind, da der große Apparat viel Umstände beim Umzug macht und wir an die verschiedenen Telefon- und sonstigen Verbindungen gebunden sind …« Man sieht, wie Seeckt nach vorn drängt und wie er trotzdem Zurückhaltung üben muß.

Am 16.6. schreibt Seeckt an Landesdirektor v. Winterfeldt:

»... Es geht aus verschiedenen mir zukommenden Nachrichten und Briefen hervor, daß noch immer in vielen, meist völlig urteilslosen Kreisen und im weiteren Publikum eine Stimmung gegen den Chef des Generalstabes Falkenhayn besteht, die namentlich bei letzterem aus seinem vermeintlichen Gegensatz zu dem populären Namen Hindenburg geschöpft wird. Ob ein solcher Gegensatz, der wohl weniger zwischen dem Feldmarschall und ihm … zu denken wäre, wirklich besteht oder nicht, ist eine belanglose Frage, da er jedenfalls der Sache noch nicht geschadet hat. Daß die Wünsche des Ostens nach Verstärkung nicht immer voll erfüllt werden konnten, hatte seinen Grund in der Rücksicht auf die notwendige Deckung des Westens. Das beiden Seiten gerecht werdende Maß konnte und kann lediglich die Stelle bestimmen, welche beide unparteiisch übersieht. Jeder wünscht sich für seine Zwecke möglichst starke Kräfte, das ist ganz natürlich. Ich persönlich halte das bis an, aber nicht über das zulässige Maß gehende Entziehen von Kräften vom Westen, um im Osten eine Entscheidung zu bringen, für einen Beweis großer Kühnheit und hoher Verantwortungsfreudigkeit. Das Verdienst fällt allein dem General v. Falkenhayn zu. Dem Feldmarschall v. Hindenburg und seinem Chef fällt das hohe Verdienst zu, zweimal den russischen Vorstoß abgewehrt zu haben. … Was Sie in so überaus gütiger Weise über meine Tätigkeit schreiben, hat mich aufrichtig befriedigt. Die Anerkennung der Besten ist ein Grund zu innerer Zufriedenheit, die an sich so schwer zu erlangen ist, weil der eigene Blick allein ganz scharf die unvermeidlichen Mängel des Erfolges sieht. Rein militärisch ist es aber fast ganz rein zur Tat geworden. Auch die letzten Tage waren gut; aber unaufhaltsam wächst eine Aufgabe aus der anderen heraus und gibt keinen Tag der Ruhe, an dem man auf das Erreichte zurückblicken könnte. Was getan ist, lese ich fast aus den Zeitungen; was zu tun bleibt, sehe ich allein …«

Das A.O.K. 11 konnte mit dem 15. 6. zufrieden sein. Seine Befehle nutzten das Erreichte aus. Sie ordneten für den 16. das Eindringen in und die Umfassung der Grodek-Stellung an. Fast sämtliche Befehle und die Beurteilung der Lage an diesem Tage sind von Seeckts eigener Hand. Er besaß wirklich eine außergewöhnliche Arbeitsfähigkeit. Wenn es nach Seeckts Willen gegangen wäre, dann wäre man am 16. mit dem Feind in die Stellung eingedrungen und hätte überall schärfste Verfolgung durchgeführt. Das gelingt nicht überall. Seeckts Eingriffe an diesem Tage sind von außerordentlicher Schärfe. Er weiß, um was es geht. Er weiß, daß jede nicht genützte Erfolgsmöglichkeit dieses Tages in den nächsten Tagen viel Blut kosten muß. Am 17. wird zwar Grodek genommen. Aber man kommt nun mit der 2. und 11. Armee an die ausgebaute Stellung. Jetzt muß entschieden werden, ob man zum planmäßigen Angriff übergehen muß. Diese Unklarheit ist völlig natürlich, und sie spiegelt sich in verschiedenen Äußerungen Seeckts wider. Wohl war das A.O.K. 11 am 17. abends der Ansicht, daß der Feind nicht imstande sein würde, die Grodek-Stellung planmäßig zu verteidigen. Als man Seeckt aber von Teschen aus fragte, wie er die Lage bei den Russen beurteile, antwortete er Heeresarchiv Potsdam, Akte 341., daß man die Widerstandskraft in vorbereiteter Stellung nicht unterschätzen solle, und daß von Auflösung bei den Russen keine Rede sei, wenn auch die Schlagfertigkeit abgenommen, die Unordnung zugenommen habe. Außerdem mußte es, nachdem Seeckt bis zum 16. ständig getrieben hatte, auffallen, daß das A.O.K. plötzlich am 17. die Korps an die gegebenen Endpunkte der Gefechtsstreifen band. Seeckt hat sich sehr viel später zu dieser Frage geäußert Mitteilung an das Reichsarchiv vom Jahre 1927.. »Die Gesamtlage war völlig ungeklärt insofern, als auf russischer Seite ein Widerstandsplan weder zu erkennen war noch wahrscheinlich schon bestand. In solcher Lage muß die Führung die Korps fest in der Hand haben. Sonst können sie in falsche Bahnen gezogen werden … Das A.O.K. 11 verlängerte die Angriffsstreifen nicht, weil es sich über die weitere Angriffsrichtung noch nicht klar war.« Es handelt sich also keineswegs darum, zu hemmen, sondern sehr berechtigt darum, die Operation fest in der Hand zu behalten, damit sie nicht in eine Richtung kam, die das A.O.K. nicht wollte.

Der 18. vergeht mit den Vorbereitungen zum Angriff. Ob der Russe halten wird, ist noch immer nicht klar. Wieder wird angesichts solcher Unklarheit ein Zugreifen bei günstiger Gelegenheit empfohlen. In diesem Falle ist die Anordnung gut. Vor wenigen Tagen war sie erfolglos, jetzt ist sie erfolgreich. Es ist so falsch, die Güte einer Maßnahme im Kriege nur nach einem Erfolg oder Mißerfolg zu beurteilen. Der Angriff des 19. zeigt, daß der Russe nicht hält und daß er geschlagen wird. Ein Durchbruch in 30 Kilometer Breite bis zur Eisenbahn Lemberg-Rawa Ruska gelingt.

In dieser Lage beginnen sich sofort zwei Entschlüsse zu formen. Der eine betrifft das Verhalten gegen Lemberg, der andere die weitere Stoßrichtung. Conrad schlägt die Einschließung von Lemberg vor. Seeckt äußert sich in einem längeren Schreiben Heeresarchiv Potsdam, Akte 383 a. an den Chef der 2. Armee über das Verfahren gegen Lemberg. Er lehnt die Einschließung ab. Im übrigen erklärt er als Ziel der Operation die Trennung des russischen Südflügels in zwei Teile. Mit dieser Frage des Zieles der Operation war allerdings sogleich auch die andere Frage der Stoßrichtung angeschnitten. Sie kam so früh schon zur Erörterung infolge der Anwesenheit S.M. und Falkenhayns am 19. 6. beim Oberkommando Mackensen.

In der Nacht vom 19./20. hat Seeckt mit Falkenhayn auf dem Bahnhof Jaroslau »im Zuge eine halbstündige wichtige Unterredung. Er wartet danach auf die Annahme seiner Vorschläge, nachdem Falkenhayn sie noch am 20. 6. mit Conrad besprechen wollte«.

Seeckt hat in dieser Besprechung Falkenhayn die Grundrichtung nach Norden vorgeschlagen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Seeckt in dieser Nacht bestimmend auf Falkenhayn, dem anfangs die Nordrichtung nicht lag, eingewirkt hat. Es wird später noch auf dieses Festhalten an der Nordrichtung im Laufe des August zurückzukommen sein. Hier genügt es, festzustellen, daß zunächst eine Beeinflussung Falkenhayns durch Seeckt in der Nordrichtung stattgefunden hat. Für diesen Zeitpunkt hat Seeckt auch nachträglich keinen Zweifel in der Richtigkeit des Nordentschlusses zugelassen Zuschrift Seeckts an das Reichsarchiv 1927..

»Der Entschluß des A.O.K. 11 vom 19. 6. 15 war grundlegend für den Verlauf der nächsten Operationen. In der Richtung nach Osten weiterzugehen, hatte keinen Zweck mehr. Die frontale Verfolgung, die Zeit und Kräfte kostete, versprach keinen Erfolg. Die Operationsziele waren erreicht. Damit war dem A.O.K. 11 klar, daß nun nach Norden eingeschwenkt werden mußte zu der Operation gegen die Mitte der russischen Gesamtfront.« Es ist wesentlich, daß Seeckt den Entschluß des 19. 6. als grundlegend für die nächsten Operationen ansieht. Allerdings kann der Begriff der nächsten Operationen verschieden aufgefaßt werden. Wiederum zielt Seeckt auf eine Entscheidung ab, indem er glaubt, die Mitte der russischen Front fassen zu können. Und schließlich glaubt er, so eine frontale Verfolgung vermeiden zu können. Es kann hier schon angedeutet werden, daß trotzdem im großen genommen die Gesamtoperation aus der Frontalverfolgung nicht herausgekommen ist.

Trotz aller Last der Führungsarbeit findet Seeckt selbst in solchen Tagen noch Zeit, Briefe zu schreiben: »Auf einer Front von 50 Kilometer greifen heute 19. 6. die eigene Armee an, auf 60 Kilometer die unterstellte österreichische Böhm-Ermolli, und auf weitem Bogen von 120 Kilometer steht die uns schon von Anfang an zugeteilte Armee des Erzherzogs Joseph Ferdinand und deckt unsere linke Seite. Die Fäden von dieser 230 Kilometer breiten Front laufen bei mir zusammen. 18 Armeekorps gehorchen einem Willen. Wie ein Schachspieler schiebt man die Figuren. Aber der Vergleich stimmt nicht, die Figuren sind nicht gleichwertig. Das sind sie wohl im Schachspiel, im Leben sind sie es nicht … Im ganzen bin ich zufrieden … Wir müssen hier ein Ende machen und sie jetzt zurückschlagen. Ich hoffe doch, es gelingt. In den Arm fällt mir niemand, was schon eine große Sache ist. Die Garde hat tief durchgestoßen, grade in der Mitte, wo die Entscheidung liegt; es ist herrlich, mit ihr zu fechten. Nun alles hineingeworfen, um das Loch größer zu reißen. Das Regiment Alexander schwenkt schon nach Norden ab, um dem Nachbar zu helfen. Jetzt auch noch einigen anderen einen Peitschenhieb … Nach einigen Stunden geschrieben: Es hat genutzt …«

»d. 20. … Die weiße Katz hat mich gestern wieder besucht, sie hat aber einen halb schwarzen Schwanz. Aber auch sonst ist es ganz hübsch hier. Vor meiner Veranda blühen Rosenstöcke, zwischen ihnen ein denkbar komisches Gesindel von jungen Enten, und als Abschluß wieder weiße Rosen … Also es ging wieder gut bei uns. Ich hoffe, nun ist der Widerstand in Galizien gebrochen, und vielleicht kommt Lemberg als Frucht unseres Erfolges auch bald in unsere Hand, d. h. ich will nicht hin, sondern es, wenn möglich, den Österreichern überlassen, es einzunehmen und zu besetzen. S.M. ist noch im Lande, froh, bei den Truppen sein zu dürfen … Heute Mittag Ganghofer hier … Heute abend die Militärattachés. Ich werde wohl zwischen Peru und Bolivien sitzen mit Haiti und Guatemala gegenüber. Ich bin allerdings nicht ganz klar darüber, ob die vielleicht mit uns auch Krieg führen. Ich mußte eben einen Augenblick unterbrechen, die kleinen Enten wollten ins Zimmer, sie können nur keine Stufen steigen, dabei mußte ich helfen …«

Am 21. und 22. 6. ist der Russe ins Laufen gebracht. Das Ergebnis ist, daß die Trennung der in Galizien kämpfenden russischen Kräfte von einer in Polen stehenden Hauptmacht erreicht ist. Am 21. hält der Russe noch Lemberg. Am 22. wird die Stadt, nicht eine Festung im eigentlichen Sinne, im Sturm genommen. Feierlich zieht der General Böhm-Ermolli ein. Damit ist der dritte Abschnitt der galizischen Offensive beendet, und man steht vor neuen Entschlüssen. Seeckt schreibt am 23. bereits aus dem neuen Stabsquartier Jaworow:

»Lemberg fiel also gestern. Damit ist der glänzende galizische Feldzug in 7 Wochen im wesentlichen beendet, und eine neue Phase des Krieges fängt an. Der Generalfeldmarschall, über den ich mich ganz kindisch gestern abend freute, ist wohlverdient. Er war rührend dabei, und sogar Blücher und Gneisenau mußten herhalten. Die Freude im ganzen Stabe war übrigens groß Seeckt brachte, als ihm Mackensen das Telegramm, das die Beförderung zum Generalfeldmarschall enthielt, beim Essen hinüberreichte, in spontaner Freude ein Hoch auf den Generalfeldmarschall aus. Mackensen ließ darauf seinen Gneisenau hochleben. Übrigens hat sich Seeckt später einmal in einem Brief an die Mutter ausdrücklich gegen den Vergleich mit Gneisenau gewehrt. Er sei schließlich doch etwas Eigenes.. Man muß aber sagen, daß die Österreicher ihre Sache auch sehr gut gemacht haben. Lemberg wird wohl viel Aufsehen machen und, namentlich in Österreich, die Stimmung sehr heben. Von uns erwarte ich das weniger. Da scheint nichts zu machen zu sein. Unsern lieben Landsleuten gilt ein verlorener Schützengraben im Westen mehr als ein gewonnener Feldzug im Osten. Sonst wären sie ja nicht die Klügeren. Ich wäre gern mit dem Feldmarschall nach Lemberg gefahren, konnte aber nicht weg. Es ist gerade sehr Wichtiges und Schwieriges zu tun. Der Feldmarschall kam sehr befriedigt von Lemberg zurück. Blumenregen, Küsse usw. Eigentlich wollte ich morgen auch hinfahren. Doch da ist die feierliche Besitzergreifung: Erzherzöge usw. Da lasse ich es lieber. Es ist auch besser, wenn ich hier bleibe und immer zu haben bin.«

Der neue Entschluß wird nicht ganz einfach geboren. Falkenhayn hatte jener Lagenbeurteilung Seeckts vom 15. 6., die noch immer grundlegende Bedeutung besaß und von Vernichtung und Entscheidung sprach, wie erwähnt, durchaus nicht ohne weiteres zugestimmt. Man merkt Falkenhayn deutlich an, daß er offenbar immer an eine örtlich begrenzte Verfolgung denkt, während das A.O.K. 11 und Conrad die Einleitung einer neuen entscheidenden Operation wollen. Am 24. stimmt Falkenhayn zu, sieht aber trotzdem den Abtransport von 4 Divisionen nach dem Westen vor. Umgehend macht Seeckt an beide O.H.L. einen neuen Vorschlag für eine Entscheidung suchende Operation. Am 27. drängt Seeckt persönlich nochmals auf schnelle Entscheidung. Während bis zu diesem Tage gegenüber Conrad und dem A.O.K. 11 kein Wort über eine Mitwirkung von Ob. Ost fiel, kommt man nun am 28. in einer Besprechung zwischen Falkenhayn und Conrad zu einer Entscheidung, die nicht nur die Vorschläge Seeckts billigt, sondern jetzt noch darüber hinausgeht. Es wird eine Mitwirkung von Ob. Ost in den Plan hineingenommen unter Vorbehalt der Angriffsstelle nach Rücksprache mit dem Oberkommando Hindenburg-Ludendorff.

Alle Beteiligten waren sich darüber einig, daß allen bisherigen Widerständen zum Trotz die so erfolgreich durchgeführte Offensive in Galizien nicht mit der Einnahme der Hauptstadt als beendet angesehen werden dürfe. Schwieriger war es, wie gesagt, schon, Falkenhayn für die Nordrichtung zu gewinnen. Da sich aber für diese, im gegebenen Zeitpunkt unbestritten berechtigte Richtung Generalfeldmarschall von Mackensen mit seiner ganzen Autorität einsetzte, überwand man die Hemmungen bei Falkenhayn. Man konnte also der Operation das »Ziel setzen, daß die 2. und 11. Armee zwischen Bug und Weichsel gegen die Linie Brest-Litowsk-Warschau vorgingen, während die 4. Armee beiderseits der Weichsel vorzugehen hatte. Damit wäre die Entscheidung gegen die russische West- und Nordwestfront herbeizuführen Aus dem Bericht Seeckts vom 15. 6. 15.« Falkenhayn zögerte dennoch immer wieder mit Rücksicht auf die Gesamtlage, wie er sie sah, die Kräfte für eine entscheidende Operation zu geben.

Der Widerstreit der Meinungen spiegelt sich in Seeckts Briefen wider:

»... Daß Du Freude an unserem Erfolg hast, ist wirklich für mich das Allerbeste, denn mir selbst wird sie ganz naturgemäß schon immer durch den Blick auf das nächste Ziel, das noch nicht erreicht ist, und durch die so selbstverständliche Unzulänglichkeit der Sache beeinträchtigt. So hofft der Mensch immer noch auf mehr. Auch hier haben, wie an anderer Stelle, die Kräfte, physische und moralische, nicht ausgereicht, um aus dem großen Sieg überall die erhofften Folgerungen zu ziehen. So bin ich auch mit dem gestrigen Tag Gemeint ist der 24. trotz seines guten Verlaufes und der erneuten großen Schädigung des Feindes nicht zufrieden, weil noch nicht ganz das erreicht worden ist, was ich erhoffte. Nun geht heute das Sorgen und Hoffen und Kämpfen weiter … In solchen Tagen und Stunden bewährt sich mein Oberbefehlshaber besonders. Denn er muß doch noch mehr zurückhalten mit Eingreifen als ich und tut das in ganz mustergültiger Weise und stets gleicher Liebenswürdigkeit.«

In diesem Brief findet sich auch eine Stelle, in der Seeckt von dem tiefen Ernst seines Oberbefehlshabers spricht, ja diesen Ernst geradezu bedauert, weil er den Feldmarschall der Möglichkeit beraube, Nebensächliches mit Heiterkeit zu nehmen. An diesem Ausspruch ist zweierlei bemerkenswert. Zunächst eignet Mackensen ganz gewiß eine ernste Tiefe. Aber einem Menschen, der so gern und so gütig lächeln kann wie er, fehlt auch innere Heiterkeit nicht. Dann aber, wenn Seeckt irrt, ergibt sich die Frage, wie er zu seiner Behauptung kam. Er hatte nämlich ganz ähnlich auch über Lochow geurteilt. Seeckt selbst trägt die gegensätzliche Zusammenstellung von Ernst und Heiterkeit in sich. Der Ernst als alleinige Grundstimmung kann Hemmung werden. Das weiß er von sich aus. Wenn er nun den gleichen sehr ernsten, also den eigenen Wesenszug beim andern wiederfindet, so lehnt er sich innerlich dagegen auf; berechtigt an sich und doch unwillkürlich ungerecht.

Der Brief geht dann weiter: »Die Siege der Karpathenschlacht haben außer den rein militärischen unmittelbaren Ereignissen noch eine Fernwirkung gehabt, daß die Russen die bereits um Odessa versammelte, gegen den Bosporus bestimmte Armee aufgelöst und eilig gegen uns geschickt haben. Ebenso ziehen sie alles Verfügbare aus dem Kaukasus heraus, um es hier einzusetzen. So haben wir unseren Freunden, den Türken, recht gründlich geholfen … Ob der Eindruck in den Balkanländern ein dauernder sein wird, muß die nächste Zeit ergeben. Der König von Griechenland schwer krank! Nach dem Tode des Königs von Rumänien, des österreichischen Thronfolgers, Wittes, des unbedingt deutschfreundlichen italienischen Generalstabschefs etwas eigentümlich … Über Italien noch ein Wort: Die Verlängerung oder fast Verewigung des Dreibundes gilt … als ein Vermächtnis bismärckischer Zeit. Er war aber unter anderen Voraussetzungen geschlossen … Jedes Land ist schließlich verpflichtet, die Politik zu treiben, die seinen Interessen entspricht …« Es folgt dann ein deutlicher Hinweis, daß Seeckt damit rechnet und darauf hofft, gegen Italien eingesetzt zu werden.

»... Es kam ein Brief meiner Mutter mit der Ermahnung, ich möge mich hüten, nicht kleingläubig zu sein, was etwas aus heiterem Himmel auf mich einschlug, da ich das Gefühl habe, dauernd im Kampf gegen diese Neigung bei anderen unten, neben, oben und ganz oben zu liegen … Dabei habe ich das Gefühl, daß ich zur Zeit selbst vor dem strengen Mutterauge bestehen kann, was Pflichterfüllung anlangt. Vor dem höheren Richter habe ich weit weniger Sorge: Will er strafen oder schonen, muß er Menschen menschlich sehen. Auch ich darf mir zurufen: Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.« So schreibt wirklich kein Mensch, dem später gelegentlich der Vorwurf gemacht worden ist, er habe schwer zugeben können, etwas falsch gemacht zu haben.

»Gestern sollte und wollte ich eigentlich nach Lemberg, konnte mich aber nicht von hier losreißen, was sich dann auch als sehr nützlich erwies. Außerdem brachte ich Mackensen und Hahnke Oberquartiermeister der 11. Armee, Schwiegersohn Graf Schlieffens. durch die Frage in Verlegenheit: Was soll ich denn in Lemberg Für Frau v. Seeckt hatte diese Wendung eine besondere Scherzbedeutung: »Was willst Du denn in Lemberg?« war eine, aus einem Zufall entstandene, oft wiederholte neckende Bemerkung in der Familie seit Jahren.? Vor allem war dort gestern Empfang, Begeisterung, und das ist nichts für mich. Mir ist es vollkommen genug, daß ich es – eingenommen habe. Man wird bescheiden in Galizien … Abends waren wieder die neutralen Attachés zum Essen. Ich saß zwischen Schweden und Chile. Ersteres schön und stumm, letzteres häßlich und lebhaft vertreten. So war es nicht zweifelhaft, daß nach dieser Richtung eine recht interessante Unterhaltung zustande kam. Mit dem Schweden kam ich über Gustav Adolf nicht hinaus, wahrscheinlich fürchtete er, seine Neutralität zu verletzen … Unter allem Interessanten, was ich Dir schrieb, wie von weißen Katzen aus Jaroslau und der Einnahme von Lemberg, habe ich wohl ganz vergessen, daß ich gegen Cholera geimpft bin. Sie rückten uns eines Tages auf die Bude, und ich wurde vergewaltigt. Nicht als ob ich etwas dagegen gehabt hätte. Aber Du kennst mich ja. Es war mir zu umständlich. Gespürt habe ich gar nichts.«

»26. Juni 15. Anbei einige Photographien. Auf der einen sehe ich aus wie der alte Häseler … Erich R... schrieb und bat mich zum Paten. Ich bat, sie möchten das Kind nicht nach mir Galizius oder Przemyslchen nennen. Es könnte doch nichts dafür … Seit gestern wird auch wieder etwas und seit heute ernsthafter gekämpft. Keine ganz leichte Sache. Ich hoffe, wir kommen nun bald auf russischen Boden. Man munkelt ja allerlei von Friedensneigungen und Ähnlichem in Petersburg. Doch ich glaube nicht, daß es schon so weit ist. Und auch dann wäre noch eine energische Nachhilfe erforderlich. Ich glaube, Österreich möchte sich gern im Besitz von Lemberg verschnaufen, was ein großer Fehler wäre.«

Depesche vom 26. 6. 15. »Seine Majestät telegraphierte mir: Ich befördere Sie in gnädiger Anerkennung der Mir, der Armee und dem Vaterland geleisteten vortrefflichen Verdienste zum Generalmajor.«

Brief vom 26. 6. 15: »Ja, nun ist die Katz Frau Generalin geworden! Aber ist das Telegramm 5. Mai. nicht wirklich hübsch und das beste daran? Ich habe eben gedankt. War so völlig überrascht. Fünf Monate Oberst! Bleib dem General so gut wie dem Leutnant. Das ist die Hauptsache.«

Am 27. schreibt er an die Mutter: »... Meine seltene Beförderung verdanke ich im wesentlichen der Bitte meines Oberbefehlshabers. Nun habe ich fast meinen lieben Vater im Avancement eingeholt. Welche Freude hätte es ihm gemacht … Es waren aber schwere Kämpfe und solche sind noch im Gange. Wie lange mag der Russe es wohl noch aushalten? Seine Verluste sind enorm, aber sein Menschenmaterial unerschöpflich. Freilich werden seine Soldaten doch jetzt recht mäßig und scheinen vor allem gar keine Lust mehr zu haben. Vorgestern traf seine Garde gerade auf unsere Garde und hatte es zu bereuen gehabt. Unsere Truppen sind herrlich und unverwüstlich. Es geht doch bei uns nun seit dem 2. Mai fast unaufhörlich kämpfend vorwärts. Neben dem Gardekorps ganz besonders gut das X. Korps unter seinem vorzüglichen, ruhigen und kaltblütigen General v. Emmich. Im Rahmen des Ganzen tun die Österreicher nach ihren schwächeren Kräften ihre Schuldigkeit. Du müßtest erleben, wie solch ein Brief zustande kommt. Drei- bis viermal kommt der älteste Generalstabsoffizier, mein Hauptmitarbeiter Major v. Bock, herein, um mir etwas zu melden und irgendeine Anordnung zu holen. Dazwischen kommen andere Fragen. Depeschen laufen ein, und dann und wann klingelt das Telephon, obwohl der Chef eigentlich nicht angerufen werden soll. Mein Feldmarschall führt jetzt vier Armeen, zwei österreichische und zwei deutsche mit im ganzen 21 Armeekorps und 5 Kavallerie-Divisionen, also eine ganze Menge Soldaten, die einem schon den Kopf warm machen können …«

Am 28. kommt er noch einmal auf die Beförderung zurück: »... Es war ein unerwarteter Sprung. Vorläufig komme ich mir noch etwas komisch vor und zeichne nicht auf die Anrede. Das Telegramm war mir daran doch die größte Freude. Soll ich sagen, es ist zu viel? Das kann ich nicht, denn ich schätze die Sache, den Sieg selbst sehr hoch ein. Verdient? Ach, ich kenne die Welt und mich zu gut, um zu wissen, wieviel gütige Führung und Fügung zu allem gehört. Es kommt ja schließlich alles ganz von selbst, und es ist dann so, als hätte es nie anders sein können. Rein menschlich verdanke ich die seltene Auszeichnung zunächst dem Feldmarschall, dann natürlich Falkenhayn, dem es sicher sauer genug wurde wegen der vielen Übersprungenen … Du fragst, ob es bald nach dem Westen geht. Ich denke ja nicht daran. Jetzt erst hier ganze Arbeit. Es ist wirklich eine aufregende Periode für mich, gerade in der Einleitung zu einer neuen Operation. Unsere Soldaten haben heute die russische Grenze überschritten. Für die Zeitungen wird im Augenblick nicht gearbeitet, was kein Schaden. Wahrscheinlich sagt die Heimat: Na ja, nun liegen die auch fest. Mag sein, ich bin zufrieden mit uns … Lange möchte ich im neuen Stabsquartier Das Oberkdo. machte am 28. 6. 15 Quartierwechsel nach Rawa Ruska. nicht bleiben, denn es drängt mich, bald den heiligen Boden Rußlands zu entweihen. Wir haben sie noch tüchtig gejagt in diesen Tagen … Heute verbreiten sie, um den Mut im Lande zu heben, mit dem Funkspruch die hübschesten Nachrichten, daß wir die Gefangenen töteten, daß in Österreich alle Mädchen zwischen 18 und 24 Jahren zum Militär eingezogen würden. Diese Nachricht war uns neu. Im allgemeinen herrscht schon große Mutlosigkeit in der russischen Armee. Aber sie sind zähe und meist auch willig. Ob der Großfürst noch einmal seinen unbeugsamen Willen durchsetzt, ist wohl fraglich. Doch an ein baldiges Ende hier glaube ich noch nicht … Bei der Durchfahrt durch das wirklich hübsche und elegante Lemberg tranken wir in einem Hotel einen traumhaften Kaffee. Das können sie schon. Hier dann ein ordentliches kleines Abendbrot. Wir haben nicht umsonst einen gewesenen Hofmarschall im Stabe … Ich habe bisher telegraphische Glückwünsche von benachbarten Dienststellen, so von den österreichischen Kollegen, von Conrad und dem Erzherzog Joseph Ferdinand. Ein Zeichen, daß ich doch nicht so ganz unfreundlich mit ihnen umgegangen sein kann. Ich hatte auch eine Karte vom Alexander-Regiment: Wir sind stolz auf Dich! Das ist nun vielleicht das höchste Ehrenlob, wenn ich an vergangene Zeiten denke.«

Die Tage vom 22. Juni bis zum 6. Juli sind ein Ausnutzen der bisherigen Erfolge in der Art einer Verfolgung mit eher abnehmenden als zunehmenden Kräften. Die nördliche Richtung ist beibehalten. Die Armeen und Generalkommandos werden ausgesprochen am kurzen Zügel geführt. Das Ganze leidet ganz offensichtlich darunter, daß eine eigentliche Entscheidung der obersten Führung nicht zu erreichen ist. Zwar hatte Seeckt am 1. 7. mit Falkenhayn eine persönliche Aussprache, von der er schreibt, daß ihm »der Gedankenaustausch sehr lieb war, denn in diesen Dingen sei Klarheit und Übereinstimmung doch die Hauptsache«; zwar geht das A.O.K. Teschen im wesentlichen auf alle Vorschläge der Heeresgruppe Mackensen rechtzeitig ein, so daß eine vorübergehende, durch die Divergenz der Ostrichtung der 2. Armee und der Nordrichtung der 11. Armee bestehende nicht ungefährliche Lücke geschlossen wird; zwar kann der Vorstoß der 11. Armee in Richtung Zamojsen der 4. Armee den sumpfigen und waldreichen Tanew-Abschnitt öffnen. Das alles ändert nichts daran, daß man wohl noch den Rest der Früchte vorausgegangener großer Erfolge einholt, daß man aber in Wahrheit keine neue entscheidende Operation, wie es Seeckt erhoffte, eingeleitet hatte. Es kommt nun zu einem eigenartigen Aufeinanderplatzen von Entschluß und Ereignis. Am 2.7. entscheidet der Kaiser in Posen auf Vortrag Falkenhayns über die Richtung, in der die Streitkräfte von Ob. Ost an der geplanten weiteren Gesamtoperation auf dem östlichen Kriegsschauplatz beteiligt werden sollen. Es ist bekannt, daß hierüber Meinungsverschiedenheiten geherrscht haben, daß die deutsche O.H.L. sich auch gegen den Wilna-Plan, den Hindenburg und Ludendorff vertraten, entschieden hatte. Die Dinge standen noch bis zum letzten Augenblick in der Schwebe Am Tage vor dem Kaiservortrag in Posen hat Falkenhayn Seeckt in Rawa Ruska gesprochen. Es ist die Vermutung aufgetaucht, Seeckt hätte bei dieser Gelegenheit Falkenhayn selbst zugeredet zur Gallwitz-Offensive, wie sie wirklich zur Ausführung kam. Das ist nach einer mündlichen Mitteilung des Feldmarschalls v. Mackensen vom 23. 3. 1938 unmöglich. Sowohl der Feldmarschall v. Mackensen wie Seeckt waren für eine weiter ausholende Offensive.. Als Eigenes Erlebnis des Herausgebers. die Chefs der Generalkommandos oder in ihrer Vertretung die voraus beförderten Generalstabsoffiziere zu einer Besprechung am 3. 7. 1915 im Dorfwirtshaus von Muschaken bei Neidenburg durch den Chef des Generalstabes des A.O.K. Gallwitz versammelt wurden, mußte die einleitende Besprechung über den Angriff bei Przasnysz noch unter dem Vorbehalt stattfinden, daß die Angriffsstelle nicht geändert würde. Man merkte überdies dem Chef an, daß ihm die Richtung Przasnysz gar nicht recht war und daß Hindenburg-Ludendorff sie nicht gewollt hätten Feldmarschall v. H. und General Lu. hatten ihre Kowno-Absicht am 2.7. durch eigenen Vortrag dargelegt..

Nachdem nun einmal nicht die weite, sondern die kurze Angriffsstelle gewählt und als Angriffsbeginn für die Gruppe Gallwitz der 13. Juli festgesetzt war, fiel der Heeresgruppe Mackensen bis zum Beginn dieser Offensive lediglich die Aufgabe zu, dem weichenden Gegner weiter nach Norden zu folgen. Das ging noch einige Tage, wobei die Flankensicherungen am Bug immer weiter gespannt wurden. Am 3. 7. war es sogar zu einer Krise beim VI. und XXII. Res.Korps gekommen, die zum Einsatz aller Reserven zwang, zumal zum Korps Kneußl eine erhebliche Lücke entstanden war. Am 6. Juli kam die ganze Sache zum Stehen. Falkenhayn hat sich erst etwas dagegen gewehrt, als sowohl Teschen wie Mackensen, nachdem ein Erfolg mit Sicherheit nicht mehr zu erwarten war, anhielten. Er hat sich dann den Darlegungen Seeckts nicht verschlossen und hat einen Vorschlag über die Weiterführung der Operation von Seeckt verlangt, den dieser am 4.7. einreichte. Man mußte nunmehr für eine neue Operation umgruppieren. Seeckt weist darauf hin, daß eine neue Offensive erst nach Eintreffen von Verstärkungen möglich sei und daß die 11. Armee eine schmalere Front erhalten müsse. Es kommt im Zuge dieser Lagenbeurteilung zur Bildung der Bugarmee unter dem General von Linsingen.

Am 1.7. sprach Falkenhayn mit Seeckt persönlich. Die Frage der Mitwirkung von Ob. Ost ist in dieser Unterredung, wenn sie berührt wurde, schwerlich von Seeckt angeschnitten. Er hat sich mit den operativen Fragen, die Ob. Ost betrafen, vielleicht innerlich beschäftigt, nach außen hin aber sehr selten dazu Stellung genommen. Jedenfalls war er der Ansicht, daß die verfügbaren Kräfte in Galizien und nicht bei Ob. Ost einzusetzen waren. Er schreibt am 4. 7. Zunächst bezieht sich Seeckt auf einen von ihm geschriebenen Brief an eine im öffentlichen Leben stehende Persönlichkeit, die dahin wirken soll, daß man in der Heimat nicht gegen die in leitenden Stellen des Staates befindlichen Männer hetzt.: »... Die Hetze gegen unsere leitenden Männer ist meines Erachtens gefährlich. Man muß ihr entgegentreten. Ich qualifiziere diese Bestrebungen als Hochverrat. Im Frieden mag es zum Geschäft gehören, zu wühlen. Jetzt nicht. Von einer Kaltstellung Hindenburg-Ludendorff kann doch gar nicht die Rede sein … Hätte man die Kräfte nicht hier unten eingesetzt, so ständen die Russen tief in Ungarn, und Rumänien wäre lange im Kriege gegen uns, von anderem abgesehen. Also das Vaterland soll sich beruhigen. Die strategischen Erwägungen können sich nicht von Gefühlsregungen leiten lassen. Daß Falkenhayn und Bethmann unter einer Decke stecken, wäre doch geradezu ein Idealzustand. Ich sollte meinen, daß ein Verständnis zwischen diesen Stellen im Interesse des Ganzen gar nicht eng genug sein könnte.«

Um so erstaunlicher ist es dann, wenn er später am 17. 7. schreibt, daß er »die Stelle bei Gallwitz erwünscht und geraten habe«. Das ist nur dann ohne Widerspruch, wenn, was Seeckt wohl voraussetzte, Ob. Ost aus eigenen Mitteln handeln konnte oder mußte. Eine weiter ausholende Operation erforderte doch einen größeren Kräfteeinsatz.

Seeckt bezeichnet selbst die Tage vor dem 11. Juli als »eine Zwischenperiode, die nie erfreulich ist, doppelt nicht, wenn jeder zu Hause von uns einen anhaltenden Siegeslauf erwartet, ohne zu bedenken, daß auch diese Maschine geölt und gespeist sein will, und daß Kräfteansammeln nach solchen Anstrengungen einfach ein Gebot der Naturnotwendigkeit ist. Es sind im Laufe der unerhofften Erfolge die Ziele jetzt doch viel weiter gesteckt worden, als ursprünglich beabsichtigt war«. Seeckt hat wirklich recht, darauf hinzuweisen, daß jetzt ja schon viel mehr erreicht ist, als man vor dem 2. Mai auch nur geahnt hat.

»8. Juli 15. Gestern abend und anschließende Nacht etwas unruhig, da die gestern erst gelobte österreichische Nachbararmee des Erzherzogs Joseph Ferdinand in Nöte kam und nach Hilfe schrie. Bei allen möglichen guten Eigenschaften kein Durchhalten. Heute bei Tage sieht es wieder etwas ruhiger aus.«

Am 11. Juli faßt Falkenhayn nach schwierigen Auseinandersetzungen seinen Entschluß. Es ist nun ganz eigenartig, wie Seeckt sich zu dieser Entschlußkrise, die eigentlich bis in den 11. hinein doch noch besteht, innerlich stellt. Er schreibt nämlich am 11.: »... Überhaupt herrscht heute eine gewisse ruhige Stimmung um mich und in mir, weil ich mit allerlei Entschlüssen in dieser Nacht fertig wurde, die nun als Befehle hinausgegangen sind.« Falkenhayn hatte Seeckt zur Stellungnahme aufgefordert, wie die Operation weiter gedacht war. Falkenhayn übernimmt den Vorschlag, wonach eingesetzt werden sollen: Heeresgruppe Mackensen zwischen Bug und Weichsel nach Norden, k.u.k. 1. Armee mit Masse auf Wladimir-Wolynsk ostwärts des Bug. Insbesondere wird erreicht, daß auch die 1. Armee Mackensen für diese Operation unterstellt wird. Eine Änderung der Nordrichtung zwischen Bug und Weichsel ist von Seeckt nicht einmal erwogen; wie man zugeben wird, in diesem Zeitpunkt mit Recht. Das alles aber wird erst am 11. 7. in einer Besprechung zwischen Falkenhayn und Conrad festgelegt. Seeckt dagegen ist seiner Sache, wie die angeführte Briefstelle beweist, so sicher, daß man wohl annehmen darf, er sei sich zu dieser Zeit eines entscheidenden Einflusses auf Falkenhayn bewußt. Man muß dies festhalten, denn es ist vermutlich nicht immer so gewesen und auch nicht geblieben. Seeckts innere Disziplin war aber, als es später nicht so blieb, viel zu stark, als daß er opponiert hätte, wo es ihm nicht gelang, zu überzeugen.

»Der Vormittag des 11. 7. verläuft mit endlosem Gerede.« Man merkt Seeckt an, daß für ihn die Sache längst entschieden ist. Zwischen Falkenhayn und Conrad bestand aber noch eine Differenz, die zur wesentlichsten dieser ganzen Operation geworden ist. Conrad wollte mit erheblichen Teilen über den Bug herüber. Er hat wenig später auch in einem Entwurf zu den Direktiven für die Fortführung der Operationen Heeresarchiv Potsdam, Akte O 431. vorgeschlagen, die Bug-Armee solle vorerst mit rechtem Flügel in die Linie Dubienka–Wladimir–Wolynsk vorgehen, dabei eine starke Gruppe östlich des Bug, um diesen ehestens zu umgehen.« Conrad hatte für die 4. und 11. Armee als Angriffsbeginn den 15., für die Bug-Armee den 14. vorgesehen. Falkenhayn setzte den Gesamtbeginn auf den 14. fest und fügte, wie erwähnt, die Unterstellung der 1. Armee hinzu. Das aber war nicht das Wesentliche. An den Absatz im Vorschlag Conrads, der auch die Bug-Armee mit Teilen ostwärts ansetzte, hat Falkenhayn mit eigener Hand an den Rand: nein! geschrieben.

Als diese Meinungsverschiedenheiten am 11. 7. zunächst so entschieden waren, wie Seeckt es vorausgesehen hatte, fährt er befriedigt und in aller Ruhe fort. »Nachmittags fuhr ich ins heilige Rußland, um vorn im ganz hübschen Städtchen Zamosc meine Chefs zu sprechen. Es war eine erfrischende Fahrt; Wege, Boden, Orte, alles jenseits der Grenze viel besser als hier in Galizien, dem vernachlässigtsten aller Länder. Die Ernte steht dort großartig, die Dörfer viel freundlicher und sauberer. Freilich auch nicht so viel zerstört. Die Bevölkerung, die teils fortgetrieben, teils geflohen, kehrt zurück. Vieh und sogar Pferde gibt es. Man bekommt so recht den Eindruck der Unerschöpflichkeit Rußlands an Menschen und Bodenschätzen. Wir siedeln in einigen Tagen nach Zamosc über … In diesen Tagen vor 30 Jahren machte ich mein Maturitätsexamen. Draußen leiser Regen, der unendlich wohltuend klingt … Heute erwarte ich Groener. Ich habe einen ganz kolossalen Krach wegen der elenden Verbindungen geschlagen und eine einheitliche deutsche Betriebsleitung verlangt. Mit dem hiesigen Friedensschlendrian komme ich nicht aus. Ich kann mir nicht gefallen lassen, daß es an einem Tage geht und den andern nicht, und daß irgendwer in Krakau darüber bestimmt …«

Seeckt hatte bald darauf mit General von Linsingen Schwierigkeiten. Sie sind vom Generalfeldmarschall von Mackensen in seiner menschlich so überaus gütigen Art beigelegt. Sachlich wurden sie genährt dadurch, daß Linsingen als Befehlshaber der Bugarmee ständig dafür eintrat, mit Teilen über den Bug zu gehen, also sich der Ansicht Conrads anschloß. Nachdem dieses Problem der entschiedenen Nordrichtung der Heeresgruppe Mackensen bis zur Bugarmee einschließlich zwischen Bug und Weichsel einerseits und der Forderung des Übergangs wesentlicher Teile, nicht nur der Bugarmee, sondern der Heeresgruppe Mackensen über den Bug andererseits einmal angeschnitten ist, möge die Frage hier in ihrem eigenen Zusammenhange voraus erörtert werden. Zeitlich hat sie ihre Bedeutung natürlich vom 11. 7. ab bis zum Schluß der ganzen Operation in immer steigendem Maße.

Daß man nicht operativ auf das ostwärtige Bugufer ausholte, ist von mehreren Stellen nachträglich getadelt worden. Moser Kurzer strategischer Überblick über den Weltkrieg. meint, die Strategie der beschränkten Ziele habe eine Vernichtungsoperation von vornherein unmöglich gemacht. Die auf Einkreisung eingestellte große Zangenoperation Mackensen-Gallwitz sei in ein frontales Nachdrücken verwandelt. Mackensen selbst hat später geäußert, er habe etwa Mitte August die Absicht gehabt, über den Bug zu gehen. Er erklärte auch, daß er diese Absicht nachträglich für richtig halte Vgl. Wolfgang Foerster, Mackensen.. Sogar Falkenhayn hat nachträglich das vollständige Festhalten an der Nordrichtung für einen Fehler erklärt. Tatsächlich enthielt ja nun auch Seeckts eigener Vorschlag vom 11.7. ein Hinübergehen wenigstens der 1. Armee über den Bug. Mit diesem Vorschlag Seeckts war aber nicht eigentlich von der Nordrichtung abgewichen. An der Tendenz der Operation änderte dies nichts, weil es sich hierbei nur um den Defensivauftrag der Flankendeckung durch die 1. Armee handelte und handeln konnte. Man wird auch zugeben müssen, daß die Stoßrichtung zwischen Bug und Weichsel so lange noch richtig war, als man damit in die Flanke nennenswerter russischer Kräfte zu kommen hoffte. Damals stand der Russe noch westlich Warschau. Es ist aber an dieser Richtung später auch noch festgehalten worden, als es ganz einwandfrei klar wurde, daß man vor die Front der Russen kam und damit die gesamte Operation zur Entscheidungslosigkeit verurteilte.

Der wesentliche Grund, der meist genannt wird gegen die Operation über den Bug hinüber, ist die Bewertung des zweifellos sehr schwierigen Geländes. Es gab viele, die es für völlig ungangbar erklärten. Man kann dieser Begründung nicht einfach jede Berechtigung absprechen. General von Linsingen hat beim Abschluß der Operation am 16. 9. Heeresarchiv Potsdam, Akte O 441. zwar erklärt, »das als ungangbar bezeichnete Gelände sei tatsächlich nur schwer zu durchschreiten, von Seen und Wasserläufen durchschnitten und vom Gegner leicht zu sperren gewesen«. Die Schwierigkeit gibt er also auch zu. Er hält sie nur nicht für unüberwindlich. Der damalige Ia, Major von Bock, hat sich aber dieser Ansicht nicht angeschlossen Zuschrift an den Präsidenten Wolfgang Foerster 1937.: »Ein mehr nach Nordosten gerichteter Vorstoß durch die Rokitno- und Pripetsümpfe hindurch hätte nicht zu einem schnellen Erfolg geführt. Wohl mögen die Sümpfe nach dem heißen Sommer an einzelnen Stellen trocken gewesen sein, und wohl mögen, durch Einwohner geführt, kleinere Abteilungen diese Stellen durchschritten haben … Ein Tag Regenwetter, wie er damals oft vorkam, änderte die Lage. Ein Hineingehen in die Erde in der auf weite Strecken fast deckungslosen Ebene war ausgeschlossen. Eine Entfaltung starker Truppen mit starker und schwerer Artillerie blieb von Zufallsmöglichkeiten abhängig, was ebensogut gehen, wie fehlschlagen konnte. Das letzte war wahrscheinlicher. Die Bugarmee hat es auf dem Ostufer des Bug nicht leicht gehabt.«

Tatsächlich sind ja nun nachher eine Kav.Division und mehrere Inf.Divisionen durch das Gelände hindurchgekommen. Man muß aber dem damaligen Ia recht geben, wenn er die Schwierigkeit der Verteidigung nach dem Übergang zur Defensive und die Abhängigkeit vom Zufall für die damalige Entschlußfassung in Anspruch nimmt. Es könnte auffallen, daß, soweit die Unterlagen dies ergeben haben, keine Erkundung des Geländes durch Nachrichtendienst oder Flugzeuge stattgefunden hat. Man muß aber berücksichtigen, daß die Bedenken des Ia auch durch ein günstiges Ergebnis einer solchen Erkundung nicht völlig zerstreut werden konnten. Jeder Witterungsumschlag konnte eine entscheidende Änderung des Geländezustandes mit sich bringen.

Man wird nachträglich zugeben, daß der Versuch, die Operation durch Abweichen von der Nordrichtung in nordostwärtiger Dichtung entscheidend zu gestalten, gemacht werden mußte. Man darf annehmen, daß Seeckt das nicht verkannt hat. Es ist in der Tat kein Anlaß da, ihm einen solchen Fehler zuzutrauen. Gelegentlich ist wohl ganz offen ausgesprochen, daß Seeckt nicht gern einen Fehler zugab. Das setzt zunächst voraus, daß Seeckt einen Fehler gemacht hat, dessen innewurde und nun nicht nachgeben wollte. Es ist aber keinerlei Anhalt da, daß Seeckt überhaupt sich eines Fehlers bewußt geworden und sich nun dagegen versteift hätte, ihn zuzugeben. Gewiß besaß Seeckt jene ausgesprochene Festigkeit, eine einmal als richtig erkannte Linie innezuhalten. Er ist auch ganz sicher kein Mensch ohne Schwächen. Aber ihm in einer so wesentlichen Angelegenheit zu unterstellen, er habe nicht nachgegeben, weil er nicht wollte, dazu fehlt wirklich im ganzen Wesen Seeckts jede Begründung. Es ist nicht ein einziger Fall sonst zu finden, in dem er eine solche unberechtigte Starrheit gezeigt hätte. So einfach und primitiv war Seele und Charakter Seeckts auch keineswegs, daß man ihn mit einem Schlagwort und noch dazu mit dem kleinlicher Unnachgiebigkeit hätte abtun können. Zweifellos war er sich, was unumwunden immer wieder zuzugeben ist, seines Wertes, seines Könnens und der Schärfe seines Urteils so weit bewußt, daß er nicht leicht von einer einmal gefaßten Ansicht abging. Andererseits hatte er im Verlauf des Feldzuges bereits genug Beweise der Wendigkeit seiner Führungskunst gebracht.

Es ist nun aus den Akten nicht zu belegen, daß etwa die O.H.L. bestimmend gegen den Willen des A.O.K. Mackensen eingegriffen hätte. Nirgends ist aber auch ein Vorschlag Seeckts zu finden, der im August oder September eine Änderung der Richtung vorgeschlagen hätte. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als ob eine Änderung der Nordrichtung zwischen O.H.L. und Heeresgruppe Mackensen niemals erörtert worden ist. Das ist auffallend. Denn an beiden Stellen hat man sich wahrscheinlich doch Gedanken über diese Frage gemacht. Auch das Hughesgespräch vom 26. 8., das anscheinend zwischen Seeckt und Tappen geführt ist, gibt keinen Anhalt, daß die schlechthin entscheidende Richtungsfrage zur Sprache gekommen wäre Allerdings notiert Gen.Oberst v. Plessen am 28. 6.: »Beim Vortrag ist S. M. einverstanden, daß die … Verfolgung in nördlicher Richtung fortgesetzt wird.« So ganz selbstverständlich scheint ihm das nicht gewesen zu sein, denn das Wort »nördlicher« ist stark unterstrichen. Es heißt dann trotzdem nachher: »Die Russen sollen auch mit den Resten … vernichtet werden.«. Im übrigen wäre dieses Datum auch zu spät gewesen. Man kann wohl annehmen, daß etwa vom 4. oder 5. August ab die Nordrichtung falsch war, und daß trotzdem ein Einfluß Seeckts gegenüber den unterstellten Armeen, sie beizubehalten, durchaus zu vermuten ist. Man erkennt das nicht etwa nur an seinem Verhalten beispielsweise gegenüber dem Drängen Linsingens, über den Bug zu gehen. Vielmehr schreibt er noch über eine Woche nach dem 5. 8., um den die Entscheidung wohl hätte fallen müssen, in einem Brief: »Wir sind seit vorgestern in schneller Verfolgung nach Norden, wo wir hoffen, noch stärkere Teile im Rückzug zu fassen.« Es gibt nicht den geringsten Anlaß, anzunehmen, daß Seeckt nicht mit vollem Bewußtsein der Verantwortung genau so wie bei anderen Schwierigkeiten gehandelt hat. Man kann andererseits, wie gesagt, unmöglich annehmen, Seeckt habe es übersehen, daß mit der Nordrichtung eine entscheidende Kampfhandlung sehr unwahrscheinlich wurde. Immerhin zeigt die Briefstelle, daß er noch am 13. 8. stärkere Teile zu fassen hoffte. Jedoch es klingt schon ein wenig Verzicht durch die Worte hindurch. Man sieht nicht ganz klar, ob sie aus einem unwillkürlichen Bestreben nach Rechtfertigung vor sich selbst oder aus nur mühsam unterdrücktem Bedauern einer ihm nicht ganz, nach Wunsch entwickelten Operation entstanden sind. Sehr viel später hat Seeckt einem Nachkriegsaufsatz Deutsche Wehr Nr. 7 vom 2. 5. 1928. eine Zeichnung beigefügt, aus der man beinahe zwangsläufig entnehmen könnte, es wäre besser gewesen, um das große Sumpfgebiet umfassend herumzugreifen. Übrigens spricht Seeckt in diesem Aufsatz wohl vom »Erfolg des ersten Angriffes, ferner davon, daß es gelungen sei, die Operation in die gewollte Richtung zu lenken, die Front in Bewegung zu setzen und die freie Operation nach Polen in den Rücken der russischen Mitte aufzunehmen«. Es ist aber bemerkenswert, daß er die Operation in den Rücken mit seinen Worten auf Polen beschränkt. Noch bemerkenswerter ist, daß er in dem Aufsatz kurz vorher betont, »die Lage 1915 habe zu äußerster Sparsamkeit gezwungen«. Es wäre sinnlos, dies zu erwähnen, wenn Seeckt mit dem Ausgang der Operation wohl zufrieden gewesen wäre. Jedoch alle diese nachträglichen, bis zu einem gewissen Grade aus dem Zufall entstehenden Randbemerkungen zum Problem der die Entscheidung suchenden Stoßrichtung können nicht ausreichend erklären, warum ein erkennbarer Kampf um diese Richtung 1915 ausblieb.

Man ist also gezwungen, nach Gründen zu forschen, wie Seeckt zu seinem Verhalten gekommen ist. Er hat in einem längeren Schreiben an den Chef des Generalstabes des Feldheeres am 21.7. den Wert der Truppe beurteilt Heeresarchiv Potsdam, Akte O 441.. Diese Beurteilung ist an sich ungemein lehrreich, weil sie beweist, daß auch die beste Truppe am Ende einer großen Angriffsoperation nicht mehr die gleiche ist wie am Anfang. Im Laufe des August mußte sich eine Begrenzung in der Verwendungsfähigkeit der Truppe einstellen. Der Wille der Führung vermag viel, aber, was militärische Dilettanten leicht übersehen, er ist in seiner Wirkung auch nicht ohne Grenzen.

»Daß die seit dem 2. Mai fast ununterbrochenen Kämpfe höchste Anforderungen gestellt haben, ist sicher. Trotzdem befinden sich die Korps und Divisionen in durchaus leistungsfähigem Zustand und in durch die Erfolge und das unausgesetzte Vorwärtsgehen naturgemäß gehobener und angriffslustiger Stimmung. Die Möglichkeit, in der letzten Zeit Teile der Armee vorübergehend der Gefechtseinwirkung zu entziehen, wird auch auf die stark angespannten Nerven der Führer gewirkt haben. Ist so der Wille überall der gleiche wie am Anfang, so ist doch nicht zu verkennen, daß das Können nicht mehr auf derselben Höhe steht. Die Gefechtsabgänge an Offizieren und Mannschaften sind bedeutend gewesen. Dank dem in letzter Zeit reichlich und regelmäßig fließenden Nachschub haben sich die Gefechtsstärken aber wieder bedeutend gehoben und können bei der Armee im allgemeinen als befriedigend bezeichnet werden; auch an Offizieren ist Ersatz zugewiesen. Es fehlt aber an der genügenden Ausbildung der neu ergänzten Truppenteile, da für sie während der Operation die Zeit mangelt, so sehr auch von tüchtigen Führern versucht wird, jede sich bietende Gelegenheit hierfür auszunutzen. Über die Ausbildung des Nachersatzes in der Heimat ist keine Klage geführt worden. Aber das Zusammenarbeiten der Kriegsverbände ist doch nur im Felde möglich, wie vieles – und das Beste – auch hier nur zu lernen ist. Um die beiden wichtigsten Einzelheiten hervorzuheben, so ist bei der Infanterie die Schulung der meist ganz jungen Kompanieführer in der Gefechtsführung im Bataillonsverband und der Drill der Mannschaften zum Sturmangriff erforderlich.

Der Zweck meiner Darlegung ist, E. E. Erwägung anheimzustellen, ob es die Lage später zulassen wird, der Armee vor einer Aufgabe, die von ihr Stoßkraft verlangt, eine kurze Pause zur inneren Kräftigung zu geben. Nicht zur Ruhe, sondern zur angestrengten Arbeit würde sie ausgenutzt werden. Die Zeit einer Woche würde genügen, um die 11. Armee wieder auf die volle Höhe ihrer Leistungsfähigkeit zu bringen, mit welcher sie in die Operationen im Osten eingetreten ist.«

Man kann annehmen, daß solche Erwägungen die Pläne der Heeresgruppe beeinflussen mußten. Mit einer sich der Grenze der Leistungsfähigkeit nähernden Truppe kann man nicht zur Überspannung der Ziele schreiten. Dennoch kann dies die Nordrichtung gerade in dem Zeitpunkt, in dem diese Beurteilung geschrieben wurde, auch nicht rechtfertigen.

Man muß also vermuten, daß Seeckt sich an die Entscheidungen der O.H.L. gebunden gefühlt hat, wie er das stets tat, sobald sie endgültig waren, und nun ganz klar im Sinne dieser Weisungen Falkenhayns handelte. Man möge sich für die Nachkriegszeit des in den Kriegsjahren bewiesenen Charakterzuges des echten Soldaten erinnern, daß ihm bei aller ausgesprochenen Selbstherrlichkeit des Urteils und des Charakters Gehorchen ein inneres, ethisch begründetes Gebot war Es ist sehr beachtlich, daß v. Werkmann feststellt: »Gegen seine Überzeugung sprach er nie, gegen sie handelte er nur im Banne der militärischen Disziplin.«.

Immer bleibt bedenklich, daß jedes Anzeichen für einen Versuch fehlt, Falkenhayn umzustimmen. Seeckt pflegte sonst in dieser Beziehung nicht zurückzuhalten. Hier bleibt er im Meinungsstreit aber sozusagen pflichtgemäß neutral. Es könnte also dann nur so sein, daß er, wenn er es versucht hat, eine scharfe Ablehnung fand. Dafür aber fehlt, mit einer einzigen Ausnahme, nun auch wieder jeder Anhaltspunkt. Seeckt hat allerdings ziemlich zu Ende der Operation den Vorschlag gemacht, mit starken Streifkorps gegen die rückwärtigen Verbindungen der Russen, nämlich in den Rücken von Brest Litowsk, anzugreifen. Dieser Vorschlag, eigentlich mehr eine Anfrage, ist abgelehnt. Wer will, kann daraus schließen, daß die Starrheit der Gedanken bei Falkenhayn bleibt, der im Gegensatz zu Ob. Ost und Conrad eine abschließende Linie, nämlich den Bug, als Ziel sah, und daß Seeckt dem Gedanken, aus dem Frontalkampf herauszukommen, in der Tat nicht ferngestanden hat. Um so merkwürdiger müßte es dann erscheinen, daß nachher Falkenhayn schließlich doch eine Verfolgung in nordostwärtiger Richtung fordert, was alsdann zur Einnahme von Pinsk führt. Es wäre freilich nicht das erstemal gewesen, daß Falkenhayn zunächst eine Operation nach Umfang und Mitteln begrenzt und dann plötzlich in einem Augenblick, in dem eigentlich das Beste schon verpaßt ist, das Erreichen eines großen Zieles wünscht.

Es bleibt nichts übrig, bei diesem für den ganzen Verlauf des Feldzuges wesentlichen Vorgang auch Seeckt einen Teil der Verantwortung zu geben, und zwar den und nur den ihm nach seiner Stellung zukommenden. Fest steht wohl, daß Seeckt nicht der bewußte Urheber des Fehlers gewesen ist. Es wäre sonst völlig unverständlich, daß er später nie Gelegenheit gefunden hätte, sich zu verteidigen oder sein Verhalten zu begründen. Er hat aber, soweit sich das nachträglich feststellen läßt, im August 1915 auch nicht erkennbar darum gekämpft, die Dinge anders zu gestalten. Übrig bleibt einer jener problematischen, ja fast rätselhaften Vorgänge, die in der Kriegsgeschichte nicht einmal so selten sind. Wo Menschen handeln, bleiben Rätsel.

Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß die Gründe zur Entscheidungslosigkeit nicht beim Oberkommando Mackensen lagen. Man unterstelle aber einmal, daß eine Fülle innerer und äußerer Hemmungen vermocht hätten, Seeckt in seinen Überlegungen und Vorschlägen zum Beibehalten der Nordrichtung zu bestimmen oder doch im Bestreben nach einer Änderung zurückzuhalten, so würde auch dies nichts anderes beweisen, als daß selbst eine so große Natur wie Seeckt Fehler zu machen imstande, also kein Halbgott war. Nichts ist schlimmer als eine Vergottung und Vergötterung wirklich großer Männer bis zur Fehlerlosigkeit. Erst dann, wenn man ihr menschliches Ringen und Kämpfen um die Tat mitfühlt, erst dann, wenn man die schwere Last des Geschehens, die auf die Seele drückt, mitempfindet, erst dann wird man den Männern näherkommen, die geeignet sind, als Vorbilder Charaktere für die Zukunft zu bilden. Kein Mensch macht niemals Fehler. Ein Mensch, der nichts falsch macht, wäre eine scheußliche Vorstellung. Und erst der Mann, der irrt, wird liebenswert.

Doch zurück zu den Ereignissen.

Hatte Falkenhayn entgegen den Vorschlägen Conrads den Angriff für den 14. gewünscht, so erwiesen sich die Tatsachen als stärker. Die Armeegruppe Gallwitz begann ihre Offensive am 13. 7. Der Angriff der Heeresgruppe Mackensen ließ sich aber vor dem 16. nicht ausführen. Lediglich die Bugarmee soll am 15. beginnen. Leider führt der Bug Hochwasser. Die Bugarmee hat nur geringen Erfolg. Sie hat sogar am Abend überlegenen Feind sich gegenüber. Die Ansichten der Bugarmee und des A.O.K. Mackensen gehen so weit auseinander, daß starke Spannungen nicht ausbleiben.

Die 1. Armee kann am 15. überhaupt nicht angreifen. In dem Augenblick, in dem die 1. Armee, auch noch gehemmt durch Verzögerungen im Antransport, nicht vorwärts kommt, fehlt offensichtlich der Druck auf die russische Flanke. Das A.O.K. Mackensen Seit 6. 7. 1915 Heeresgruppe. sieht vor der klar erkannten Schwierigkeit, neuerdings einen Durchbruch herbeiführen zu müssen.

Seeckts Briefe lassen die Spannung nur verhalten durchscheinen. Gelegentlich eine der kleinen mokanten Bemerkungen, wie Seeckt sie gern macht: »... Gestern bekam ich außer einem famosen Brief vom alten Lentze die Aufforderung zur … tagung. Natürlich nur ein Versehen des absendenden Büros. Essen im Preußenhof, Waffenrock mit Halsorden. Ich habe abgeschrieben, ich sei verhindert.«

»... Von morgen ab geht es bei uns los. Übermorgen Gemeint ist der 16. ist der Haupttag. Wir haben nun 4 Armeen unter uns … Etwas viel für einen Menschen. Aber es macht schon Freude, wenn es geht Der Zustand, daß die Heeresgruppe noch immer ihre eigene 11. Armee führte, war nahezu unhaltbar. Es kann sogar die Frage aufgeworfen werden, ob nicht zwei Heeresgruppen unter dem Oberbefehl eines besonders darübergestellten Stabes notwendig geworden waren.. Es ist fast die deutsche Friedensarmee der Stärke nach. Welches Vertrauen darin liegt, wirst Du ermessen können. Gestern hat Hindenburg gegen Prasznysz losgeschlagen. Es soll gut gehen dort und kann viel Einfluß für uns haben … Nun dauert der Krieg bald ein Jahr, und auch ich kann von der Annäherung des Endes noch gar nichts sagen. Vielleicht bringen uns die nächsten Tage und Wochen der Lösung etwas näher. Es scheint bei Hindenburg glänzend gegangen zu sein. Hoffentlich geht es so weiter. Bei uns schlägt heute Linsingen los. Ich bin auf die ersten Nachrichten außerordentlich gespannt. Morgen früh die drei anderen Armeen von uns. Aber Schwierigkeiten sind zu überwinden …«

Dazwischen, wie es ihm gewohnt ist, die Schilderung der ihn umgebenden Zustände: »... Wir leben hier Der Stab hatte soeben Quartierwechsel von Rawa Ruska nach Zamojsce vorgenommen. im Gymnasium, einem alten Schloßgebäude mit schönen Gängen und ruhigen Zimmern. Eine gute saubere Badeanstalt soll es geben und die Kaserne des hier liegenden Kosakenregiments vorzüglich sein im Gegensatz zu den elenden österreichischen Grenzkasernen. Es ist eben alles anders, als man es sich vorgestellt hat. Das Rathaus, das hoch und frei mitten in der kleinen Stadt liegt, ist wohl einst das Stammschloß der Familie Zamoyski, dann eine kleine, aber längst geschleifte russische Festung gewesen … Rußland ist nach Galizien ein Land der Sauberkeit und Ordnung. In beiden läßt sich vielleicht nach unseren Begriffen noch etwas tun. So dachte unser hiesiger Etappenkommandant, der befohlen haben soll, die hiesigen nur schwarzhaarigen Damen hätten nach 9 Uhr morgens frisiert auf der Straße zu erscheinen. Aber Spaß beiseite. Unser Hauptquartier, das schon erwähnte Gymnasium, ist mit Lehrmitteln, Bildern, Modellen, Sammlungen, Bibliothek ausgestattet, wie wohl nur wenige deutsche. Es muß eine Art Ritterakademie gewesen sein, denn die fast nur jüdischen Einwohner des Städtchens können die Besucher des Gymnasiums nicht geliefert haben. Das Kasino der 10. Donkosaken hat einen eigenen hübschen Theatersaal! Ganz alte Häuser mit Barockstuck und Arkaden, die etwas Italienisches haben. Glänzende Bodenkultur ringsum, gute Straßen selbst für unsere Mörser und dazu diese Gefangenen. Junge, schöne dumme Leute in der Masse, die sich ebenso in Scharen ergeben, wie sie in Scharen angreifen. Also ein bodenständiger Reichtum: Menschen und Korn in unerschöpflicher Menge. Zeigen wir ihnen, daß wir trotzdem noch mehr können.

Ich habe übrigens hier ein gutes Bett und auch für mich allein. Das bedeutet nicht, als ob ich sonst mit jemand zusammen schliefe. Das Bett ist nur ohne die kleinsten Tierchen als Gesellschaft … Behr sang gestern abend auf meinen Wunsch die Erzählung aus dem 1. Akt der Walküre: Friedmund kann ich nicht heißen, nachher Traum durch die Dämmerung und Du bist Orplid mein Land. Wie ist man empfänglich in dieser Stimmung, und ich freue mich, es hundertfach in solcher zu genießen zwischen den Aufregungen der Stunden vorher und nachher. Behr sang dann noch als Opfer die Uhr. Und schließlich ein Mann, der Geige spielte, Fanfarenmarsch und Zapfenstreich der Kavallerie auf dem armen Instrument. Sogar Frau Musika kann kommissig gemacht werden. Einen Flügel haben wir aber noch immer aufgetrieben.

Es geht bei uns bisher gut. Aber es ist ein schweres Stück Arbeit. Denn der Feind hat uns alles entgegengeworfen, was ihm irgend anderswo entbehrlich erscheint. So hat er auch die Front vor Gallwitz nördlich der Weichsel geschwächt. Es scheint dort wirklich ein Erfolg zu werden. Bei uns hoffentlich auch. Je größer aber die zu leitende Masse wird, um so geringer wird natürlich der eigene Einfluß auf die Einzelheiten. Warten wir ab.«

Am 16. hatte die 11. Armee die Stellung der Russen westlich des Wieprz durchstoßen. Am 17. wurden diese Erfolge erweitert und damit die bisher zäh verteidigten Stellungen an der Wolica gefährdet. Im ganzen konnte man mit dem 17. recht zufrieden sein. Jedoch diese Erfolge werden nicht ohne Schwierigkeiten an mancherlei Stellen erreicht. Es bedarf mehrfach des Eingriffes des Heeresgruppenchefs, um die Dinge immer wieder in Gang und in das richtige Verhältnis zueinander zu bringen. Seeckt ist sich der Schwierigkeiten durchaus bewußt. Es ist bedeutsam, wie er sich gerade angesichts dieser eigenen Schwierigkeiten über den Erfolg bei Gallwitz freut: »Ein guter Tag, der 17. 7., mit der Nachricht von der Hindenburg-Armee, ein voller Erfolg, über den ich mich in jeder Hinsicht sehr freue, denn er ist eine Frucht unseres gemeinsamen Handelns. Daß daneben noch die Operationen im äußersten Norden glückten, die uns anscheinend an Mitau und nahe an Riga gebracht haben, ist eine ungehoffte Freude. Nun wirft der Russe uns alles entgegen, was er losmachen kann, denn uns solange wie möglich aufzuhalten, ist für ihn eine Lebensfrage. Unsere Truppe war heute wieder herrlich, Garde, X. und das junge Korps unter dem Bruder Falkenhayn … Aber, aber! Hätten wir nur deutsche Armeen, der Russe lebte nicht mehr. Es ist wirklich manchmal schon schwer, ruhig zu bleiben.« Der Stolz Seeckts, so viele Kräfte auf die Heeresgruppe Mackensen gezogen zu haben, war berechtigt. Es ist aber auch ein deutliches Zeichen, wie stark Seeckt im Rahmen des Ganzen und über die Grenzen des eigenen Wirkungskreises nicht nur die Gedanken, sondern auch die Empfindungen hinauszuspannen vermag. Er denkt viel weniger daran, daß vor ihm sich die Schwierigkeiten türmen, als daran, daß sein Verhalten anderen zu Erfolgen verhilft. In der ganzen Ideenbildung Seeckts, in der inneren Auffassung der Ereignisse liegt stets etwas Großartiges. Außerdem hat Seeckt auch jetzt noch keinen Zweifel daran, in einer entscheidenden Handlung zu sein. Noch stehen die russischen Hauptkräfte zwischen Bug und Weichsel. Noch wird man sie mit der Nordrichtung des Angriffs entscheidend in der Flanke treffen. Es sind aber so schwere Kämpfe, daß sie zu den schwersten des Feldzuges gerechnet werden müssen.

In der Nacht vom 18. zum 19. Juli hat der Russe geräumt. Er geht auf die vorbereitete Stellung südlich der Bahn Cholm–Lublin zurück. Sofort ergehen die Verfolgungsbefehle. Die Verfolgung stößt aber bereits am Nachmittag bei der Bugarmee, der 11. und 4. Armee auf stark ausgebaute Stellungen. Das A.O.K. befiehlt daher, daß der Russe am 20. auf die Hauptstellung zurückgeworfen, diese am 21. angegriffen werden soll. Es geht wie immer in solchen Tagen nicht ohne Reibungen ab und gelegentlich auch nicht ohne Schärfe.

»19. Juli. Der gestrige Tag war nicht leicht und die Nacht recht unruhig. Es ist doch ein schweres Stück Arbeit. Heute aber ein voller Erfolg. Der Feind ist im vollen Rückzug. Verfolgung auf einer Breite von 160 km angeordnet. Bisher 15+000 Gefangene. Gestern sah es etwas bänglich zeitweise aus. Doch was will das bei diesen Soldaten bedeuten. Solche Sachen stehen immer auf des Messers Schneide.« Es ist aus den Kriegsakten nicht zu ersehen, worauf sich diese Bemerkung beziehen könnte. Um so interessanter ist es, daß Seeckt Ereignisse dieses Tages als krisenhaft empfunden hat. Der Krieg sieht eben für den verantwortlich an der Führung Beteiligten immer etwas anders aus, als für den nachträglich Betrachtenden. »Auch auf den anderen Fronten sehr gute Aussicht. Die Sache wird und ich denke, Rumänien … wird sich die Sache doch noch überlegen. Will es aber jetzt gegen uns angreifen, wird es kaum Freude daran haben. Entscheiden muß es sich nun. Denn wir können die Durchfuhrfrage nicht länger mit ansehen.«

Am 19. 7. 15 schreibt Seeckt an Landesdirektor v. Winterfeldt einen Brief, der beweist, wie stark er Falkenhayn anerkannte:

»... Daß die in den Zeitungen bekanntgegebene Zusammenkunft S.M. mit dem Feldmarschall v. H. und dem Chef des Genst. v. F. in Posen den Ausgangspunkt der in Nordpolen eingeleiteten, erfolgreichen Offensive bildet, wird jedem unparteiisch Denkenden klar sein. Das Verdienst, die beiden Operationen auf dem südlichen und nordöstlichen Kriegsschauplatz in die notwendige Verbindung gebracht zu haben, gebührt also wiederum durchaus der Obersten Heeresleitung.

... Die Freiheit, die den beiden führenden Feldmarschällen in der Ausführung gelassen wird, ist ganz bewundernswert. Mit keiner Bewegung ist wenigstens bei uns in die Führung der dem Feldm. v. M. unterstellten Armeen eingegriffen worden. Von Zeit zu Zeit eine gründliche persönliche Aussprache, dann und wann ein kurzes Telefongespräch – und alles ist im Gleise. Für mich ein idealer Zustand.

... Zu besiegen ist der Russe im eigentlichen Sinne nicht, d. h. in dem, daß man ihn an das Ende seiner militärischen Leistungsfähigkeit brächte, wohl aber in dem, daß wir auf lange vor ihm Ruhe haben. Unter lange verstehe ich eine Reihe von Monaten. Zu großer Offensive ist er m. E. auf längere Zeit nicht mehr in der Lage. Wie weit diese Schädigung geht, hängt von dem Erfolg der nächsten Tage und Wochen ab. Zu einer Katastrophe im großen wird er es nicht kommen lassen und sich stets noch eine, wenn auch stark geschwächte, so doch noch kampffähige Armee erhalten. Wir müssen andererseits mit der zunehmenden Schwäche unserer Bundesgenossen rechnen. Ich gehöre nicht zu denen, die einen guten Teil des Zusammenarbeitens in dem fortwährenden Schlappmachen der Österreicher sehen. Sie sind zum Teil sehr gut, aber eben zum Teil, wie ja alles in diesem Land in Teile zerfällt und nur in Teilen zu beurteilen ist. Sie haben aber stark gelitten, verhältnismäßig stärker als wir Man darf dies anerkennende Urteil Seeckts gerade dann nicht vergessen, wenn er später gelegentlich scharf wird. … Daß also die Stoßkraft nicht mehr groß ist, liegt auf der Hand, außerdem ist ihr Wunsch berechtigt, in absehbarer Zeit Kräfte gegen Italien freizubekommen. Daß sie bisher dort mit so wenig ausgekommen sind, ist sehr anerkennenswert … In Österreich gibt es nur zwei lebensfähige Elemente, die Deutschen und die Ungarn … Wir wollen doch schließlich auch bald nach dem Westen – ohne daß ich über das Wann und Wie mich irgendwie äußern kann; aber das Hauptziel liegt für uns doch dort. Also – wenn es zu erreichen ist, so bin ich für einen Abschluß hier, d. h. so bald die im Gang befindliche Operation ausgelaufen und ausgenutzt ist. Daß meine Wünsche in der Richtung einer Verständigung mit Rußland gehen, die für später noch weiteres offen läßt und vorbereitet, wissen Sie. Nur darf unser Bestreben nicht so weit gehen, Rußland zu stark zu machen. Wir müssen jedenfalls sehr greifbare Sicherheiten in der Hand behalten; denn uns nur auf Verträge zu verlassen, haben wir jetzt wohl verlernt … Zur Zeit ist das Durchlassen der Munition für die Türkei eine Hauptfrage und eine, die bald, und wenn nötig, auf die Gefahr eines neuen Krieges hin gelöst werden muß …«

Die Auffassung über Falkenhayn hat Seeckt bald, schon im serbischen Feldzug, wohl nicht mehr uneingeschränkt beibehalten. Richtig ist, daß er Falkenhayn oft sah und sprach. Dessen Art wirkte damals auf Seeckt. Die Männer von Ob. Ost sah und sprach Seeckt kaum. Vielleicht ist das schade. Vielleicht ist es mehr. Nämlich ein Verhängnis.

Der 20. 7. wird erst recht ein kritischer Tag voller Spannungen, die Seeckt durchaus als solche empfindet. Der Russe greift ostwärts des Bug die 1. Armee unerwartet an, und in nördlicher Richtung sind eigene Fortschritte nicht zu verzeichnen. Mit Mühe werden die Brückenköpfe gehalten. Das k.u.k. VI. A.K. hat viele Verluste, von denen viele »im Sumpf versunken sind« Heeresarchiv Potsdam, Akte 361.. Der Russe setzt alles daran, den Widerstand so zu versteifen, daß er aus dem Weichselbogen noch herauskommt. Er sieht ganz klar, daß die deutsche Operation auf eine Entscheidung hinzielt. Man kann der russischen Führung die Einsicht in die Lage keineswegs absprechen. Den deutschen Truppen wird jedes Vorwärtskommen noch durch wolkenbruchartigen Regen erschwert.

Die Erregung dieser Stunden geht auch aus den Briefen Seeckts hervor.

»... Heute wieder ganz tüchtig gefochten; bei uns und auf den anderen Fronten, Hindenburg und Woyrsch, geht es vorwärts. Ich denke doch, diese Tage werden einen Eindruck machen, zu Hause und im Ausland. Die beiden Garden haben sich nun gefaßt. Die Russen entschlossen sich, ihre bisher so sorgfältig geschonte einzusetzen … Der Kampf ist sehr heiß und noch nachmittags unentschieden, denn sie sind uns an Zahl weit überlegen. Aber der echte Märker läßt sich nicht imponieren. Das ist keine schlechte Eigenschaft beim Soldaten. Die gewohnte Redensart: Da hätten Se erst mal usw. ist eigentlich nichts anderes als ein Beweis, daß der Märker gewohnt ist, stets Besonderes zu erleben und zu leisten …

Leider kann bei dem Regen die Artillerie nicht wirken … Spät am Abend: Es sieht alles gut vorn, aber doch denkbar gespannteste Lage … Was hängt alles an der Entscheidung dieser Stunde. Nicht nur so viel Leben und Tod, sondern so viele Schicksale. Welthistorische Momente, über deren Größe sich künftig Soldaten- oder Professorengeschlechter den Kopf zerbrechen mögen, wenn wir beide längst ›kümmern uns um nichts und bleiben ruhig liegen‹. Friedens- und Ruhebedürfnis in dieser Stunde stürmischster Lebensbetätigung. Ich – es klingt fast frivol –, ich genieße es. Aber es ist doch ganz gut, daß der alte Kroll recht hatte: Nach neunen ist allens aus.«

Das ist freilich ein Brief, der sehr sehr nachdenklich stimmen muß. Selten tritt das Gegensätzliche, das in der Seele jedes großen Mannes umschlossen ist, so elementar und so beinahe naiv hervor wie in dieser Briefstelle. Es ist nicht so, daß Männer großer Leistung ohne inneren Widerspruch sein könnten. Erst aus dem Widerspruch entsteht jene Spannung, die Kraft erzeugt. Aber hier tritt der Widerspruch in einer Art zutage, die, wenn man nicht ohne jeden Anlaß einen Schwächemoment unterstellen wollte, Seeckt auf eine fast überpersönliche Höhe hinaushebt. Im Augenblick der höchsten Kräfteanspannung, des bewußten Siegesgefühls im Einsatz der eigenen Kräfte gehen seine Gedanken über Person und Vorgang so weit hinaus, daß aus dem tiefsten Innern die Sehnsucht nach der Stille für einen einzigen Augenblick ungehindert hervorbricht. Selten sind solche Einblicke in die Seele. Man darf sie aber niemals vergessen, wenn man in späteren Jahren Seeckts Handeln verstehen will. Ihm war etwas gegeben, was nur wenigen Männern der Tat gegeben ist: sich selbst aus der Sache hinauszudenken.

Am 21. liegt alles so gut wie fest. Das mag an sich mißlich sein, aber das A.O.K. Mackensen ist sich dessen wohl bewußt, daß Angriffe der Russen gegen die 1. Armee und starker Feindwiderstand vor der ganzen Front in der Gesamtlage nicht ungünstig sind, weil dadurch Kräfte gefesselt und Erfolge an anderer Stelle möglich gemacht werden. Die Heeresgruppe ist gewohnt, in großem Rahmen zu denken und nicht eigene Erfolge dem Kampf im großen voranzustellen.

Am 22. beurteilt Seeckt, von Falkenhayn dazu aufgefordert, die Lage an sich nicht einmal ungünstig. Er rechnet damit, daß der Feind vor der Bugarmee den Rückzug einleitet. Nach der leider notwendigen Kampfpause solle der Stoß also mit starker Mitte nach Norden fortgesetzt werden. Man muß sich immer vor Augen halten, daß dieser Gedanke der offensiven Weiterführung in Tagen ausgesprochen wird, die kaum als erfolgreich zu bezeichnen sind. »23. Juli. Ein aufregender Tag mit krisenhaftem Beigeschmack. Ich hoffe, wir sind über den Berg. Der Abend läßt sich besser an. Wir sind etwas am Ende unserer Kräfte nach den großen Verlusten der letzten Woche und namentlich des letzten Tages.« Es darf nicht übersehen werden, daß Seeckt hier eine Ansicht äußert, die etwas von seiner Auffassung abweicht, welche er am Lage zuvor in der Beurteilung der Lage gegenüber Falkenhayn aussprach. In dieser Beurteilung gab er die Kampfkraft der Gruppe günstiger an. Man kann daraus entnehmen, daß der 22. selbst auf Seeckt einen gewaltigen Eindruck gemacht hat. Er läßt jedoch keineswegs sich durch die ernsten Gedanken, die auf ihn drohend einstürmen, niederdrücken: »Jedoch wir haben unsere Schuldigkeit bisher getan, und die Erfolge sind nicht ausgeblieben. Auf allen andern Fronten ist es vorwärtsgegangen. Wir allerdings brauchen nun etwas Ruhe und Stärkung. Heute hieß es, Nerven haben. Die Forderung des morgigen Tages wird kaum anders sein. Ich muß Nerven und Zutrauen für viele haben. Das ist bisweilen etwas schwer. Aber ich habe sie. Sei also unbesorgt um mich und auch um die große Sache selbst, wenn es einmal stillsteht an einer Stelle.« Nicht oft wird so einfach und so eindringlich die Nervenbeanspruchung der Führung in der Wirklichkeit des Krieges ausgesprochen. Der Außenstehende, der nachträglich von Schlachten liest und hört, ahnt meist nichts davon, wieviel seelischer Kampf und seelische Spannung in solchen Lagen und hier in Wochen und Monaten durchzuhalten sind. Dazu muß man immer die im Kriege fast unvermeidliche Einsamkeit der führenden Männer bedenken. Seeckt hat das gerade in diesen Lagen stark empfunden. Er schreibt sogar davon. »Näher steht mir vielleicht nur Bock, und der ist eben doch viel jünger als ich.«

Der 24. 7. bringt einige Entspannung. »Es geht uns heute besser. Die Nacht und der heutige Tag waren ruhig, was ich an sich nicht schätze, aber unseren braven Leuten von Herzen gönnen muß. Die Russen müssen sich zu höllisch den Kopf gestoßen haben. Aber man muß sagen, diese Petersburger Garderegimenter, die bisher noch nichts getan haben, also vollzählig und wohldiszipliniert und frisch sind, geben einen Gegner ab, wie wir ihn sonst nirgendwo fanden. An Geist und innerem Wert sind wir ihnen denn doch noch überlegen. Aber die russische Garde kam mit 40+000 Mann ins Feuer gegen knapp 15+000 der preußischen Garde; ein denkwürdiges Zusammentreffen, da wir sie glatt abschlugen. Offiziersverluste bei ihnen gering, leider nicht bei uns. Bei ihnen blieben die Offiziere hinten. Das sagen unsere Jungen von den ihrigen nicht. … Wir sind hier draußen Idealisten geworden und denken, das Marsch, Marsch, Hurra der Infanterie, das nur den Mann selbst kennt, sollte auch etwas in der Heimat ertönen … Der Erfolg auf der Hindenburgfront ist großartig. Der Narew ist bezwungen, was seit Oktober angestrebt ist. Und oben erobern sie allmählich die Ostseeprovinzen, was die politische Lage ganz verschiebt …«

»Den 25. Juli. Bei uns herrscht jetzt Ruhe an der Front. Aber auf den anderen ist es gestern herrlich vorwärtsgegangen … Einen sehr spaßhaften Brief aus Amerika zeigte mir heute morgen der Feldmarschall. Ein deutscher Klub frug, ob es richtig sei, daß er amerikanischer Abstammung wäre. Eine Zeitung aus dem Süden hatte schon den Großvater, einen General MacKellen, dazu entdeckt, der natürlich in irgendeinem Aufstand erschossen wurde. Der Feldmarschall hat antworten lassen, daß seine Vorfahren seit dem 30jährigen Krieg die deutsche Scholle bearbeiteten. Dann kam ein englisch geschriebener Brief von einem amerikanischen Juden mit der Bitte, zu bestätigen, daß sich seine Glaubensgenossen gut schlügen. Dieser Brief ist nicht beantwortet worden, zumal wir Englisch nicht verstehen.« Noch einmal kommt er darauf zurück, wie schwer doch der 23. gewesen sei. Im übrigen erwähnt er ausdrücklich, daß General von Linsingen in ganz ausgezeichneter Weise seine Aufgaben erfülle.

Man konnte sich nun freilich nach dem 24. nicht darüber täuschen, daß im Augenblick die Operation festgelaufen sei. Der Russe ging von Stellung zu Stellung zurück und führte zuletzt die Verteidigung sogar offensiv. Eine neue Stellung war in der Linie Iwangorod–nördl. Lublin–nördl. Cholm–Kowel ausgebaut. Falkenhayn beabsichtigt nicht, der Heeresgruppe Mackensen neue Kräfte zuzuführen. Es würde zu viel Zeit rauben und den Nachschub aufs äußerste erschweren. Er glaubt seit dem 21. 7. auch nicht mehr, daß Mackensen noch schnell vorwärts kommen kann. Er will daher am schnellsten vorwärts helfen durch die Fortsetzung der Offensive bei Ob. Ost über den Narew Davon hat F. nun anscheinend Außerordentliches erwartet. Am 19.7. notiert Generaloberst v. Plessen: »Falk. sagt beim Vortrag, es schiene, als würde der Feldzug jetzt im Osten entschieden.«. Der schwere 23. 7. hat auch auf die O.H.L. so starken Eindruck gemacht, daß Falkenhayn sich am Tage danach in Teschen noch besonders bestätigen läßt, »die Lage könne unbedingt gehalten werden«. Das hindert nicht, daß Seeckt sofort neue Vorschläge macht, wann und wie man erneut zum Angriff übergehen könne. Es ist in der Tat bewundernswert, wie die Heeresgruppe immer wieder den Entschluß zum Vorwärtskommen findet. Seeckt sagt in seiner Beurteilung vom 24. 7. wörtlich: »Die ganze Operation ist noch gesund, aber langsam.« Die neue Operation wird nach Umgruppierung und Zusammenfassung der Kräfte so aufgebaut, daß der grundlegende Gedanke ein Stoß gegen die Mitte der feindlichen Front Cholm–Lublin ist. Den Hauptstoß soll General v. Emmich führen. Die Heeresgruppe ist mit 160 Kilometer Front nicht mehr in der Lage, gleichzeitig auch noch eine Stoßgruppe zu führen. Sie gibt aber damit die Führung an der entscheidenden Stelle ab. Zunächst ist der Angriff für den 28. beabsichtigt. Die Umgruppierungen verlangen jedoch so viel Zeit, daß tatsächlich die neue Operation erst am 29. beginnt. Mit welchem Kräfteverhältnis man damals zu rechnen gewohnt war und unter welchen Umständen man immer noch deutscherseits den Angriff zu wagen sich für berechtigt hielt, geht aus einer Bemerkung Seeckts hervor, die er an den Rand einer Meldung der Bugarmee schreibt Heeresarchiv Potsdam, Akte 365.: »11 russische gegen 8 deutsche Divisionen, das ist ein sehr günstiges Verhältnis.«

Der 29. 7. ist ein voller Erfolg des Generals von Emmich. Man kommt bis auf das östliche Wieprz-Ufer. Die 7. Durchbruchsschlacht der 11. Armee ergibt in 15 Kilometer Breite 8 Kilometer Geländegewinn. Die russische Garde leistet dem Gardekorps stärksten Widerstand. Man packt sofort zu. Das XXII. Res.Korps soll am 30. nach Nordost angreifen, um diesen Feind zu vernichten. Seeckt selbst setzt ein eindringliches Schreiben an Erzherzog Josef Ferdinand auf Heeresarchiv Potsdam, Akte 365.. Die Armee müsse bei ihrer Zahlenüberlegenheit Lublin erreichen, »die Stunde sei entscheidend für den endgültigen Erfolg«. Woyrsch hat die Weichsel zwischen Iwangorod und Warschau überschritten. Die Bugarmee macht günstige Fortschritte.

Am 30. geht der Russe, der die Gefahr erkennt, in welche ihn der Stoß des XXII. Res.Korps bringt, einigermaßen überraschend zurück. Allerdings hat Seeckt diesen Rückzug, wie er schreibt, »weder geahnt noch gefürchtet«. Noch in der Nacht werden die Verfolgungsbefehle gegeben. Die Bugarmee soll Cholm nehmen. Die 4. Armee nimmt Lublin und geht darüber hinaus. Ihr linker Flügel nähert sich Iwangorod. Im übrigen sitzt der Russe schon wieder zäh in einer Stellung, so daß man den 31. schon wieder zu Vorbereitungen der Angriffsfortsetzung brauchen wird.

Die Briefe dieser drei Tage:

»29. Juli. Es wird heute wieder draußen mit bisher gutem Erfolg gekämpft. Heute führt General von Emmich dreieinhalb Korps zusammengefaßt zum Angriff vor. Es ist die kritische Stunde des Tages, da wir soeben neben diesen Kräften auch die Garde und unser österreichisches Korps in den Kampf geworfen haben. So allein in meinem Schulsaal mit den Gedanken draußen alles zu verfolgen, ist ein ganz eigenes Gefühl, an das ich mich ja nun schon habe gewöhnen müssen. Wäre weiter nichts als die eigenen Soldaten vorn, das Herz wäre ruhiger. Aber fern von hier wanken an einer Stelle die Bundesgenossen, und an der andern kommen sie nicht vorwärts, wie ich gehofft hatte. Es ist merkwürdig mit ihnen, immer verschieden. Mit was sie einem immer kommen. Bald mit der Zahl der Feinde, bald mit ihrer Psyche. Die kam neulich zur Sprache, als sie meinten, die ihre sei der der Italiener überlegen; – – der der Russen leider nicht. Tatsächlich scheinen sie sich dort unten aber gut geschlagen zu haben, wie wir es uns dachten. An einer anderen Stelle, die nicht von uns bedoktert wird, ist in der letzten Nacht ein hübscher Erfolg erzielt. General von Woyrsch ist mit seiner schlesischen Landwehr, die schon vor 100 Jahren der beste Teil von Blüchers Heer an der Katzbach war Ein kriegsgeschichtlicher Irrtum Seeckts. Die Landwehr hat an der Katzbach ihre Schuldigkeit in rühmenswerter Weise getan. Aber es war ein Nachteil der schlesischen Armee, daß sie zu stark mit Landwehrformationen belastet war., angesichts des Feindes über die Weichsel gegangen. Hoffentlich wirkt das gut. Ob die große Hindenburgschlacht wirklich zum großen Ergebnis führt, ist mir noch zweifelhaft. Qui trop embrasse, mal étraint.« Man darf sich einen Augenblick nochmals der Ausführungen über das Problem der entscheidenden Stoßrichtung erinnern. Man könnte bei dieser Briefstelle auf den Gedanken kommen, daß Seeckt die Gesamtfrage überhaupt vom Gesichtspunkt der Gefahr auffaßte, ein großer Entschluß könne zu viel wollen. Dann aber wäre Seeckt völlig entlastet. An sich lagen ihm die großen weitumfassenden Pläne viel mehr als die engeren. Wenn er sie nun als eine Gefahr bezeichnet, so war das in der Tat nur möglich unter Berücksichtigung der nun einmal zur Verfügung stehenden Kräfte. Dies Kräftemaß hatte aber weder die Heeresgruppe Mackensen noch Ob. Ost in der Hand. Die Kräfte zu bemessen, war allein Sache der O.H.L. Diese eine Briefstelle führt nochmals dahin, daß Seeckt in einem festgelegten Bezirk der gegebenen Kräfte handelte und urteilte. Man muß zugeben, daß, wenn man diese Begrenzung voraussetzt, sein Verhalten immer verständlicher wird. Die Grenzen zu sprengen, war, wenn dies Ob. Ost mit der ungeheuren Autorität der Sieger von Tannenberg nicht gelang, vom Oberbefehlshaber der Heeresgruppe im Süden oder seinem Chef erst recht nicht zu verlangen.

»Ob. Ost will gleichzeitig Kurland und Warschau erobern. Die Gewinnung des immer so genannten deutschen Bodens dort oben wird sehr viel Freude erregen. Wollen wir ihn eigentlich behalten? Politisch eine neue Schwierigkeit neben der polnischen … Spät abends: Alles gut, eigentlich sehr gut verlaufen. Die gestellte Aufgabe gelöst von den braven Soldaten. Dieses Mal drei ostpreußische Regimenter allerbester Klasse. Die Garde griff erst gegen Abend ein und kämpfte noch schwer und unentschieden in der Nacht. Morgen weiter … Wenn es nicht über Nacht sich dreht …, fassen wir morgen die russische Garde gründlich.«

»30. 7. In der Nacht kam die Meldung vom Rückzug auf der ganzen Front zwischen Bug und Weichsel auf 160 Kilometer. Das hatte unser Durchstoß erreicht. Der Russe entzog sich allen Weiterungen. Also raus aus dem Bett und mit Bock im schönsten Schlafanzugidyll die Befehle für die Verfolgung erlassen. Um 8 Uhr befanden sich drei Armeen in der schönsten Verfolgung, unsere eigene brave 11. nach ihrem wohlverdienten Sieg. Nicht sehr viel Gefangene. Aber die russische Garde hat sich wohl noch gestern abend gründlich blutige Köpfe geholt, und von einem sibirischen Korps kann nicht mehr viel übrig sein. Eine solche Neuansetzung der Operation macht Freude. Da weiß man, wozu man da ist. Nachher müssen es doch die andern draußen machen, und sie tun es. Der gestrige Tag hat mir viel Vertrauen zurückgegeben. Ich hatte zwischendurch etwas Sorge, ich hätte sie müde gekämpft. Und wir haben wahrhaftig keine Zeit, müde zu sein. Heute abend werden wir wohl zu neuen Kämpfen rüsten müssen.«

Aus diesen einfachen Worten erkennt man wieder die schwere seelische Beanspruchung in der Führung. Noch vor etwa einer Woche hat Seeckt pflichtgemäß den Zustand der Truppe als stark beansprucht der O.H.L. darlegen müssen. Die ganze Zeit verläßt ihn die Sorge nicht, ob das, was verlangt wird, zu verantworten ist. Man bedenke, daß es sich um einen Menschen handelt, dem soldatische Härte Gewohnheit war, und der diese Härte durchzusetzen, gerade in diesen Monaten oft genug gezwungen war. Und dann schließt ein einziges kurzes, aber sorgenvolles Aufseufzen in diesem Brief sofort mit dem Gedanken an neue Kämpfe, einfach, weil es sein muß. Das liest sich für den, der solche Stunden nicht selbst durchgemacht hat, so einfach. Es ist aber nicht einfach.

Der Brief geht weiter: »Abends. Einen schönen Zug vorwärts sind wir heute gekommen. Ich bin mit dem Verlauf des Tages zufrieden und kann es sein. Alles hat ein Ende, auch der 30. Juli.

31. Juli. Vorn wird gekämpft, und morgen noch mehr. Es ist schon übermenschlich, was wir verlangen von unseren Leuten. Aber es geht und sie leisten es. Was eigentlich unsere Freunde, die Rumänen, in letzter Zeit machen, weiß ich nicht … Ein Eingriff gegen uns gilt zur Zeit als ganz unwahrscheinlich; für uns wird gar nichts verlangt, nur wohlwollende Neutralität, und dabei waren sie zum Mitmachen kontraktlich verpflichtet. Italien macht seine Sache bisher sehr gut. Daß aber auf dem Walther-Platz in Bozen zwei Karabinieri mit Dreimaster und Schwalbenschwanz stehen, daran glaube ich doch nicht. Von Schweden erwartet man Gutes. Nach meiner Ansicht eine unsichere Sache. Übrigens ziemlich gleichgültig. Nur wenn sie auf Petersburg marschieren könnten, dann wäre jetzt der Augenblick.«

Seeckt hatte freilich recht, wenn er schrieb, daß die Leute leisteten, was man von ihnen verlangte. Man konnte leider nicht verlangen, was man wünschen mochte. Ein Hughes-Gespräch zwischen Falkenhayn und Seeckt vom 1. 8. läßt für den, der das heraushören wollte, bei Seeckt doch eine starke innere Resignation erkennen. Ob allerdings Falkenhayn diesen Ton herausgehört hat, das steht dahin Heeresarchiv Potsdam, Akte O 441..

»Falkenhayn: Ich beurteile die Lage dahin, daß die Russen abgezogen sind, weil sie nicht mehr halten konnten. Sind Sie derselben Ansicht?

Seeckt: Ja. Ich glaube, es wäre morgen eine glatte Niederlage geworden. Das haben sie selbst empfunden und sind durchgegangen. Sie halten jetzt nach wenigen Kilometern auf der ganzen Front wieder stand. Das scheint mir aber ganz natürlich. Sie haben sich erst in der Nacht zum Abmarsch entschlossen und müssen nun erst die Trains durch das Sumpfgebiet abschieben. Daher sind Nachhuten notwendig. Auffallend ist nur, daß bisher vor der 4. Armee keinerlei Rückzugsbewegungen waren.

Falkenhayn: Gewiß ist das Stehen vor der 4. Armee unerklärlich, wenn man nicht annehmen will, daß Befehlsreibungen in der russischen Heeresleitung eingetreten sind. Sie werden dort wohl auch vorkommen. Jedenfalls bleibt uns nichts anderes übrig, als mit allen Mitteln auf dem östlichen Flügel vorwärts zu drängen …«

Es wäre morgen eine glatte Niederlage geworden. Es wäre. Aber es wurde nicht, auf diese Weise nicht.

Als einwandfrei feststeht, daß der Russe vor der 1., der Bugarmee und der 11. Armee abbaut, wird die Verfolgung angesetzt, die sich über die Tage vom 1. bis 10. 8. hinzieht. Zunächst hält der Russe noch vor der 4. Armee, die angewiesen wird, ihre Kräfte zum Durchbruch zusammenzufassen. Die Heeresgruppe beurteilt die Lage dahin, daß der Russe starken Widerstand erst in der ausgebauten Stellung südlich Wlodawa–Iwangorod leisten wird. Diese Auffassung ändert sich am 2. sehr schnell dahin, daß der Russe jetzt schon wieder mit aller Kraft hält und teilweise sogar zu Gegenangriffen übergeht. Dann plötzlich am 3. hat er nachts wieder geräumt. Es ist ein ewiges, den Angreifer überaus ermüdendes Wechselspiel. Am 4. und 5. 8. geht es wieder vorwärts. Man muß aber hier die beiderseits von der Führung befohlenen Richtungen gegenüberstellen. Die oberste russische Führung befiehlt den allgemeinen Rückzug von der Weichsel nach Osten in die Linie Lomza–Lupkow–Cholm. Die Richtung deutscherseits, die einwandfrei bei der Heeresfront bestimmt worden ist, wurde Parczew. Angesichts des russischen Entschlusses mußte die Richtung Parczew vor die russische Front führen. Natürlich ist dabei zu berücksichtigen, daß in diesem Augenblick die Heeresgruppe über die russische Rückzugsrichtung keine Gewißheit hatte und haben konnte. Es ist aber bemerkenswert, daß am 6. 8. General von Linsingen die Verwendung seiner Armee beiderseits des Bug beantragt. Die Heeresgruppe lehnt dies ab, da nur ein Vorstoß in der Mitte erfolgversprechend sei. Die Ablehnung ist von Seeckt persönlich geschrieben. Die ganze Lage muß tatsächlich sich der Heeresgruppe Mackensen so dargestellt haben, daß sie schwerlich einen anderen Entschluß zuließ. Man könnte es sonst nicht verstehen, daß Seeckt sich in Worten persönlicher Gereiztheit in einem Brief über die Führung der Bugarmee ausspricht. Ferner findet am 6. abends ein Gespräch zwischen Tappen und Seeckt statt, in dem es ausgerechnet über die Frage der Bugarmee zur Aussprache kommt. Seeckt hält ausdrücklich an der Richtung Parczew fest. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß nachträglich diese Richtung einwandfrei als falsch erklärt werden muß, so kann es gar nicht ausbleiben, daß Seeckt in diesem Augenblick entscheidende Gründe gehabt haben muß, so zu Tappen seine Meinung zu äußern. Vielleicht liegt der Schlüssel zum Verständnis wesentlicher Teile des Gesamtproblems überhaupt in diesen Tagen und Stunden. Seeckt hat, so muß man vermuten, die Sorge gehabt, daß jede weit ausholende Bewegung die Gefahr eines Rückschlages mit sich brächte, von dem man nicht voraussehen konnte, wie er von einer aus Deutschen und Österreichern gemischten Heeresgruppe ausgehalten werden würde. Man konnte sagen, daß ein Gegenschlag der Russen bei einer derart riesigen Rückzugsbewegung außerhalb des Bereichs jeder Möglichkeit lag. Eine solche Ansicht wäre ziemlich leichtfertig gewesen. Jeder zweite Tag brachte eine überraschende Zähigkeit der Russen in der Verteidigung und dazu ganz plötzliche Gegenangriffe. Bei der geringsten Überspannung der an sich doch schon dauernd mit Zahlenunterlegenheit angreifenden Front, konnten Ereignisse eintreten, deren Tragweite nicht abzusehen war. Wir wissen, wie stark Seeckt die Sorge drückte, man könne oder man müsse eigentlich schon die Truppe überanstrengt haben. Wir wissen, daß er es zum Ausdruck gebracht hat, mit begrenzten Kräften sei eben nur ein begrenztes Ziel zu erreichen. Er wird sich der Richtigkeit der Ansicht Linsingens an sich nicht verschlossen haben. Was ihn innerlich reizte, war die Tatsache, daß er selbst ganz sicherlich lieber große Ziele in dem von Linsingen vorgeschlagenen Verfahren angestrebt hätte, und daß er sich nur mit Mühe zum Engeren zwang, weil er Weiteres vorzuschlagen nicht verantworten zu können glaubte. Zudem blieb die Richtigkeit der Ansicht Linsingens insofern ja auch immer noch fraglich, als die Gangbarkeit des Sumpfgeländes strittig war.

Die Tage bis zum 9. einschließlich bringen weitere Erfolge. Es ist auch nicht zu leugnen, daß die Umstände selbst die Bewegung langsam in etwas nordostwärtiger Richtung hinüberdrücken. Am 10. muß man nun über die weitere Führung neue Erwägungen anstellen. Und schließlich kommt es um den 12. herum zu einer Entschlußkrise, die vollständig in ihren Zusammenhängen zu erklären kaum noch möglich sein wird. Es handelt sich hier weniger um die Entschlüsse selbst als darum, welche Rolle Seeckt dabei gespielt haben kann.

Conrad kämpft seit Anfang August in nachdrücklichster Weise um eine Angriffsrichtung, »die den Russen das Entkommen unmöglich machen soll«. Als auch noch Iwangorod und Warschau gefallen sind, kommt er sogar mit dem Vorschlag einer Offensive aus Ostgalizien heraus. Diese lehnt Falkenhayn natürlich ab. Der Gedanke war auf dem Papier großartig, in Wirklichkeit schwerlich durchführbar. Aber Falkenhayn lehnt auch sonst ab. Er bleibt dabei, daß ihm das Erreichen der Linie Brest-Grodno genüge. Man merkt vom 6. 8. ab, daß in einer nirgends ganz aufgeklärten Weise die Weisungen durcheinander und aneinander vorbeigehen. Am 10., als es sich herausstellt, daß die Russen ihre Stellungen vor den inneren Flügeln der 11. und 4. Armee räumen, bestimmt Falkenhayn als Richtung für die Heeresgruppe die Nordostrichtung auf Brest Litowsk. Es wirkt nun einigermaßen überraschend, daß die Heeresgruppe ihrerseits wieder etwas nach Norden zurückpendelt und an diesem 10. Brest nicht als Richtung der Heeresgruppe nimmt, sondern als Richtung für den rechten Flügel setzt. In Teschen ist man damit nicht zufrieden. Man wünscht erneut, daß der Gegner am Entkommen gehindert wird. Das ist natürlich in der Lage, in der die Heeresgruppe nach ihren Befehlen steht, ein Verlangen, das kaum noch zu erfüllen ist. Die Meinungen wechseln so, daß man sie kaum festzulegen vermag. In einer Besprechung in Pleß erklärt sich Conrad plötzlich mit dem Befehl Mackensens, der doch ein Herübergehen über den Bug nicht enthielt, einverstanden. In diese ganz eigenartige Lage platzt auch noch ein Schreiben Hindenburgs an die O.H.L., das zu jener von Seeckt am 13. 8. in seinem Brief erwähnten Spannung führt.

Auf einmal teilt Falkenhayn mit, daß er der Heeresgruppe Feldmarschall Prinz Leopold von Bayern als Grenze für den rechten Flügel die Bahn Lubkow-Brest gegeben habe. Das ist allerdings eine absolute Ostrichtung. Falkenhayn kann mehrere Gründe dazu gehabt haben. Entweder hat ihn Conrads Meinung doch beeinflußt. Oder er hat eine Differenz zwischen seiner Weisung und der Ausführung durch die Heeresgruppe bemerkt. Es kommt in diesen Tagen tatsächlich dazu, daß die Heeresgruppe Mackensen in vier verschiedenen Richtungen angesetzt wird, weil auf den Einspruch Seeckts hin, wie man jedenfalls vermuten muß, obwohl dies nicht ganz sicher ist, Falkenhayn später seinen Entschluß in eine nicht etwa nordostwärtige oder auch nördliche, sondern nordwestliche Richtung umändert. Es ist also zu vier verschiedenen Befehlen gekommen: Ost, Nordost, Nord und Nordwest. Durchgesetzt hat sich dann schließlich die nordostwärtige Richtung und damit Seeckts Auffassung.

Das Durcheinander dieser Spannungsstunden ist nachträglich nicht zu erklären. Es lag nahe, diese Wirrnis der Gedanken, weil schließlich Seeckt mit seinen Absichten durchdrang, hier zu übergehen. Gerade das wäre falsch gewesen. Man muß es festhalten, wie schwer im Drange der Stunde und beim Aufeinanderplatzen der Meinungen im Kriege die Entschlüsse entstehen. Man wird dann eher erkennen, daß Kriegsentschlüsse nicht immer das jeweils Beste, sondern oft nur das Mögliche sind. Die Faktoren, die aber die Möglichkeiten bestimmen, sind nicht immer nur die Tatsachen, sondern auch die Menschen mit ihrem Können, Wollen, mit ihren Leidenschaften und ihren Schwächen. Wenn vorher zusammenfassend geschildert war, daß die Einstellung Seeckts zur ganzen Frage der Stoßrichtung problematisch bleibt, so ist die Gärung um diesen 12. 8. herum vielleicht das problematischste. Nur eins leuchtet klar hervor: die Stetigkeit, mit der Seeckt in allen seinen Vorschlägen seine Linie hält.

Die Briefe dieser Tage:

»Den 4. 8. 15. Gestern gab es viel hin und her und Sorgen und Arbeit. Nichts Besonderes oder gar Schlimmes, aber es ist schon ein schweres Stück Arbeit, was wir leisten … Heute Am 4. 8. 1885 trat er als Junker beim Kaiser-Alexander-Garde-Gren.-Rgt. ein. bin ich 30 Jahre Soldat. Wir hatten kürzlich hier darüber gesprochen, und es fing der Tag mit zwei riesigen Blumensträußen an, was mich sehr rührt … Es ist so nett, wie die Menschen sich bemühen, den zufällig festgestellten Jahrestag ihres Chefs zu feiern. Für die Mehrzahl, die nicht wie ich so unmittelbar an der Operation beteiligt sind, ist es eine willkommene Unterbrechung des täglichen Einerlei … So wird der Tag, an den ich doch selbst nur zufällig dachte, durch die Umstände zu etwas Besonderem. Das Beste ist, daß wir heute mittag an einer Stelle einen sehr schönen Erfolg erzielten, diesmal die Hannoveraner. Wir haben an der russischen Garde blutige Vergeltung genommen … Man erzählt sich hier übrigens einen sehr hübschen Scherz über Hindenburg und Mackensen, der aus der ›Jugend‹ stammen soll: Es sei gar nicht Mackensen, der hier führe. Es sei ganz einfach Hindenburg, der jetzt unter dem Namen Mackensen weitersiege … Ein arbeits- und ereignisreicher Tag, und, wie ich denke, ein historischer Tag … Den 5. 8. Warschau gefallen – und eine prachtvolle Melone gegessen. Du siehst, es geht mir gut … Übermorgen geht es nach Lublin. Es soll eine hübsche und ganz interessante alte Stadt sein.

Lublin am 7. 8. Die Stadt mit fabelhaftem Leben, Läden offen, Menschen aller Art auf der Straße, das Bild vollkommen friedlich, nur etwas zu viel Soldaten. Anscheinend beliebtes buen retiro der benachbarten österreichischen Armee. Ganz spaßhaft nach drei Monaten Dorfleben. Ein altes Tor mit merkwürdigem Heiligenbild ist eigentlich das einzig Charakteristische an diesem Nest. Denn der Osten, ganz besonders Rußland, versteht sich schon darauf, alles Alte zu verwischen und mit einer modern scheinenden Unkultur zu überstreichen. Gesprochen wird hier auf dem Lande nur polnisch, auch die Stadt, alle Geschäftsaufschriften doppelsprachig. Stimmung antirussisch und sehr gleichgültig. Am Tage, an dessen Morgen die Russen räumten und an dessen Abend die Österreicher einzogen, wurde im Theater, wie allabendlich jetzt, die Geisha gegeben. Auch sonst amüsiert sich Junglublin mit hungrigen Soldaten jeder Art recht gut, und die Österreicher haben ihr Kaffeehaus. Also glatt selig!

9. 8. Wir kämpfen uns weiter durch Wald und Sumpf. Eben marschiert ein österreichisches Korps durch. Der Kommandierende General war in diesem Augenblick bei mir. Was sind es doch für liebenswürdige Menschen, immer frisch … Es soll auch bei uns in nächster Zeit wieder ordentlich vorwärts gehen. Wir haben uns in den letzten Tagen etwas mit Kleinigkeiten abgegeben. Der Feldmarschall war ganz unglücklich. Er will und kann aber nicht täglich unsere unersetzlichen Kräfte einsetzen, sondern nur dann, wenn es sich lohnt und wenn alles für sie vorbereitet ist. Wir brauchen sie auch noch anderswo. Und man will die Opfer verantworten können, die man fordert. Für die Zeitungen darf kein Mensch sein Leben verlieren, eine in dieser Form natürlich selbstverständliche Forderung.

Den 12. 8. Das war gestern ein schöner Abend nach einem bewegten Tag. Die 2. Garde-Division errang einen Erfolg, der die Situation löste … Mit diesem Feldzugsabschnitt sind wir also fertig und fangen fröhlich einen neuen an …

Den 13. 8. Es war ein ernster und nicht durchweg erfreulicher Tag gestern. Ich gebrauche meine Kräfte für Zukunftsfragen, die sich sehr aufdrängten. Ich habe die notwendige Klarheit über die militärischen Ziele vermißt. Zunächst leben wir noch von der Hand in den Mund, das heißt, wir wissen noch nicht, was wir morgen tun werden. Ich verkenne die Schwierigkeit, die wesentlich in der Dreiteilung der Gewalten Hindenburg-Österreich-Falkenhayn liegt und deren Ziele nicht immer die gleichen sind, nicht und werde jedenfalls von meiner Seite keine neuen hinzufügen. Es sind, was ja niemals ganz zu vermeiden ist, auch persönliche Momente, die mitsprechen. Falkenhayn sprach sich sehr erbittert darüber aus und ist selbst auch nicht frei davon, was menschlich ist. In allen solchen Lagen und Momenten ist der Feldmarschall van Mackensen wirklich ausgezeichnet. Immer ruhig und liebenswürdig … Großes Frühstück mit den Erzherzögen. Ihr Armeeführer Joseph Ferdinand, mein besonderer Freund, schenkte mir das Abzeichen seiner Armee. Eben zieht wieder eine österreichische Division durch, deutsche Regimenter, und singen die Wacht am Rhein. Auch ein Zeichen der Zeit.«

Man kann es Seeckt nachempfinden, wenn er bei klarer Erkenntnis, wiederum vor einem neuen Abschnitt der Operation zu stehen, wenig erfreut ist über den 12. 8. und die Klarheit der Ziele vermißt. Bezeichnend ist nun in dieser Situation für ihn, daß er ausdrücklich hervorhebt, er werde seinerseits keine neuen Ziele und damit also neue Schwierigkeiten hinzufügen. Er ist nicht Chef des Generalstabes des Feldheeres, sondern Chef einer Heeresgruppe. Aus seinen Worten geht hervor, daß ihm in seinen Gedanken eine ganz anders geartete Zielsetzung vielleicht durchaus nicht fehlt, daß er aber nur Schaden voraussieht, wenn noch mehr Meinungen gegeneinanderstehen. Immer und immer wieder muß man die ungeheure innere Disziplin dieses Mannes bewundern. Darüber hinaus kommt vielleicht ganz unbewußt der feine Menschenbeobachter zum Wort. Daß diese Männer nicht im schweren Ringen um den Entschluß mit Verstandeskräften gegeneinander stehen, ist ihm selbstverständlich. Mit dem Verstand allein ist der Krieg nicht zu führen. So sucht Seeckt das Unzulängliche dieses ganz seltsam zugespitzten 12. 8. ohne weiteres auch nur im allzu Menschlichen. Es steckt ein gut Stück Resignation in der Versicherung, daß er keine Schwierigkeiten hinzufügen werde. Resignation kann immer Größe oder Schwäche und manchmal sogar beides zugleich sein. Hier ist sie ganz sicher der Beweis innerer Größe. Es ist leicht, die eigenen Gedanken auszusprechen, um sich von ihnen zu befreien und um selbst vor ihnen Ruhe zu haben. Es ist schwerer, zu schweigen, wenn man einsieht, daß reden der Sache doch nicht nützt. Das gesprochene Wort überträgt die Verantwortung dem, der zuhört. Das nichtgesprochene Wort läßt die Verantwortung oft bei dem, der schweigt.

Nachdem nun aber der Gegner in der Nacht vom 12. zum 13. 8. erneut geräumt hat, ergibt sich aus den Verhältnissen heraus die Tatsache, daß die Bugarmee, die 11. und 4. Armee ihre Verfolgung in allgemein nordostwärtiger Richtung fortsetzen. Die Streifen werden jetzt etwas schmal, so daß die Bugarmee erneut ein Übergehen auf das Ostufer des Bug bei Wlodawa anregt. Es ist schwer für die Heeresgruppe, Weisungen zu geben, wenn man noch nicht darüber unterrichtet ist, was die O.H.L. eigentlich will. Unterdessen wird die 4. Armee herausgedrückt. Im allgemeinen ist es eigentlich kein Zeichen für den klaren Willen der obersten Führung, wenn Kräfte überzählig werden, ohne daß eine Entscheidung erreicht wurde. Aber es war von Anfang an Falkenhayns Bestreben, wozu er ja gute Gründe haben konnte, die Operation so zu leiten, daß rechtzeitig Kräfte frei wurden. Jedenfalls hieß es von der 4. Armee Heeresarchiv Potsdam, Akte 373.: »Ihre Aufgabe ist erfüllt. Sie stellt sich zu anderer Verwendung bereit.«

Inzwischen ist aber Falkenhayn nun wieder zu der Auffassung gelangt, daß nordwestlich Brest doch noch ein erheblicher Erfolg zu erreichen sei, da sich dort starke Massen der Russen zusammenballen müßten. Er sendet daher am späten Abend die Weisung an die Heeresgruppe Mackensen, ohne Conrads Einverständnis hierfür eingeholt zu haben, die Heeresgruppe solle unter Sicherung gegen Brest mit dem linken Flügel der 11. Armee über Biala auf Janow vorgehen. Unternehmungen gegen die Straßen ostwärts Brest werden empfohlen. Das ist also nunmehr genaue Nordrichtung. Man erkennt ganz deutlich, daß Falkenhayn wiederum nur eine Offensive mit beschränktem Ziel im Auge hat.

Am Abend des 13. 8., nachdem die O.H.L. bereits ihre Entschlüsse gefaßt hatte, findet ein Hughes-Gespräch zwischen Tappen und Seeckt statt. Der Anlaß dazu war, daß die O.H.L. versehentlich nicht den linken Flügel der 11. Armee, sondern den linken Flügel, also der Heeresgruppe, auf Biala angesetzt hatte. Tappen stellt dies richtig und das Gespräch geht nach dieser Einleitung weiter Heeresarchiv Potsdam, Akte O 441.:

»Seeckt: Wir müssen nur die Möglichkeit haben, an Brest Litowsk vorbei nach Norden weiterzukommen. 4. Armee wird morgen herausgedrückt. Bugarmee geht noch bis nördlich Slawatycze mit und fällt dann auch aus. Gegen Brest Litowsk können wir uns auch durch rückwärtige Staffel decken. In diesem Sinne sind schon alle Befehle gegeben. Macht Ihre Direktive Änderungen darin möglich?

Tappen: Es war beabsichtigt, daß Sie mit 11. Armee oder wenigstens mit möglichst starken Teilen derselben nach Norden über die Straße Biala–Brest Litowsk vorstießen. In diesem Sinne war die Anweisung für Heeresgruppe Mackensen gegeben, unter Sicherung gegen Brest Litowsk auf Janow vorzugehen. 4. Armee findet gemäß der Neufassung der Anweisung zwischen linkem Flügel der 11. Armee und Vormarschlinie des rechten Flügels von Woyrsch zunächst noch Raum. Sie würde also zunächst noch nicht herausgedrückt werden.

Seeckt: Wir können morgen, wenn wir Platz haben, mit 8 Divisionen nach Norden gehen, soll die 4. Armee doch entgegen gestriger Angabe dazwischen bleiben, auch mit weniger. Ich denke, unsere Anordnungen stimmen vorläufig mit Ihren Absichten überein. Jedenfalls werden sie ausgeführt werden. Ich habe keine Bedenken.

Tappen: 4. Armee müßte jedenfalls wenigstens mit Teilen zwischen 11. und Woyrsch nachdrängen, solange sie Platz hat. Sonst stimmen auch meines Erachtens unsere Ansichten völlig überein.«

So ganz stimmten diese Ansichten doch wohl nicht überein. Die 4. Armee wurde nur dann nicht herausgedrängt, wenn die 11. Armee ihrerseits Raum frei gab. Deutlicher konnte Seeckt eigentlich nicht gut werden, als daß er darauf hinwies, daß die 4. Armee schon gestern herausgedrückt war und daß man sie nunmehr in Front ließ, weil die O.H.L. es wollte. Es mag bei der Art Seeckts, Worte zu wägen Man spricht überdies am Hughes-Apparat sehr langsam., auch auffallen, daß er meint, die Anordnungen der Heeresgruppe stimmten »vorläufig« mit den Ansichten der O.H.L. überein. Und schließlich sagt er sehr bezeichnend: Jedenfalls wird ausgeführt, was die O.H.L. befiehlt. Das ist stets das Charakteristische für Seeckt. Wenn die Lage klar ist, wenn nichts zur Beurteilung der Situation hinzuzufügen ist, wenn alles gesagt ist, was gesagt werden mußte, dann wird von der einen Seite befohlen und von der anderen Seite gehorcht. Nur so läßt sich nach seiner Ansicht überhaupt Krieg führen. Daß er mit diesen Anordnungen innerlich einverstanden gewesen wäre, das war, wie sich aus den vorher wiedergegebenen Briefen vermuten ließ, durchaus nicht sicher. Man hat gesagt, daß die deutsche O.H.L. sich mit einem kleinen Kannä hat begnügen wollen. Darin liegt wohl die ganze Erklärung zu diesem Entschluß. Wenn wenigstens das kleine Kannä noch gelang, so war das immerhin ein wesentlicher Erfolg. Conrad hat nicht an diesen Erfolg geglaubt. Seeckt hat, solange das ging, die Hoffnung nicht aufgeben wollen: »... Wir sind seit vorgestern in schneller Verfolgung nach Norden, wo wir hoffen, noch stärkere Teile im Rückzug zu fassen. Hoffentlich kommen wir heute oder morgen schon an die Südfront von Brest Litowsk …«

Die Armeen erreichen am 14.8. nirgends ihre Ziele. Sie stoßen sehr bald auf die Russen in verstärkter Stellung. Gegen Woyrsch greift der Gegner sogar an. Das beabsichtigte kleine Kannä mißlingt. Am 15. 8. hat der Russe abgebaut und steht abends in neuer Stellung. Am 16. 8. hat er das ostwärtige Bugufer soweit geräumt, daß die 1. Armee, das X. A.K. und das Gardekorps über den Fluß herüberkommen. Angesichts dieser Sachlage muß Seeckt anfragen, ob größere Unternehmungen auf dem Ostufer erwünscht seien. Falkenhayn lehnt dies ab und gibt jetzt zum erstenmal dem A.O.K. eindeutig bekannt, daß er das ganze Unternehmen in der Linie Brest–Grodno anhalten werde. Die Absicht stammte bereits vom 3. 8. Falkenhayn hat sich vermutlich erst endgültig entschlossen, als er auf eine Umfrage bei allen Armeen den Eindruck gewann, daß der Zustand der russischen Armee zwar so war, daß man sie als schwer geschlagen, aber keineswegs als zermürbt ansprechen durfte. Auch Seeckt hatte sich in diesem Sinne geäußert und daran erinnert, daß der Russe stets zur Gegenwehr fähig war.

Die Briefe dieser Tage:

»Den 14. 8. Die Garde-Kav.-Division hat in den letzten Tagen bei uns sehr gut gefochten, zwei Dörfer gestürmt zu Fuß. General v. Emmich war des Lobes voll … Oben in Kurland scheint die Kavallerie auch zu eigentlicher Reitertätigkeit gekommen zu sein. Noch haben die Kämpfe dort wenig Wert und scheinen mehr als Privatunternehmen von Ob. Ost anzusehen zu sein.«

Hier begeht Seeckt ganz offensichtlich einen Irrtum, der ihm aber kaum zur Last gelegt werden kann. Tatsächlich wollte Ob. Ost mit der Operation in Kurland eine große operative Umfassung einleiten. Die irrige Auffassung Seeckts kann vermutlich beeinflußt worden sein durch das Gespräch zwischen Falkenhayn und Seeckt am 12. in Lublin.

»Den 15.8. Es muß ein besonderer katholischer Feiertag sein, denn das Landvolk strömt in die Stadt. Alle Frauen und Kinder mit Sträußen, die aus Sonnenblumen, Äpfeln und Flachs bestehen. Dazwischen heimkehrende geflüchtete Juden, zehn bis zwölf auf einem Wägelchen hockend. Wir sind vorn in äußerster Verfolgung. Eine anstrengende Sache wieder für die Truppe, aber für den Feind auch recht peinlich. In den nächsten Tagen muß es sich zeigen, ob wir ihm noch großen Schaden zufügen können. Dann werden wir etwas Neues anfangen. Aber was, kann ich noch nicht sagen, da ich es selbst nicht weiß. Irgend etwas Hübsches wird es wohl sein. Nach Italien soll ich nicht, was ich am liebsten getan hätte. Wenigstens noch nicht … Es gießt, so leid mir das für unsere Jungens tut; schwillt aber der Bug an und reißt den Russen noch einige Brücken weg, so kann es fein werden. Aber der Russe ist ein Meister im Zurückgehen und wird uns wohl doch wieder entwischen, wenn auch nicht ungerupft …

Jetzt wollen sie mich sogar in Marmor hauen. Was mir sonst die Muse antut, ist auch schlimm. Ein Dichter schickte mir ein Poem gleich hundertmal für die Truppe. Die Ärmsten! …

Es geht sehr gut bei uns. Aber trotzdem und deswegen ist die Lage schwierig und wird noch manches andere verwickelter. Müssen wir doch in diesen Tagen den ganzen kommenden Feldzug neu einleiten, aber vor allem diesen noch zu einem gewissen Abschluß bringen … Morgen ist des österreichischen Kaisers Geburtstag, der 18. August, so erinnerungsreich und vielfach überschattet von frischem Lorbeer. Die Söhne der 70er haben gehalten, was die Väter versprachen 18. August 1870 St. Privat.. Was hat die 2. Garde-Division geleistet! Der Sturmbock der Armee ist sie gewesen. 27 Angriffstage in dreieinhalb Monaten …

Daß L. W. mir nach dem Kriege noch eine Brigade verheißt, finde ich nett. Traum der Sehnsucht! So weit hätten wir es am Ende auch ohne Krieg gebracht. Eigentlich ist es doch sehr schade, daß ich nun kein Regiment bekomme. Es wäre eine hübsche Zeit geworden. General ist etwas Langweiliges …«

Es ist also um den 16. 8. so, daß man hier zu einem brauchbaren Abschluß kommen und sich zu neuen Taten vorbereiten muß. Seeckt jedenfalls rechnet seit dem 15. 8. mit einem Abschluß. Nur daß weder der Abschluß noch das Einleiten des Angriffs, also an Ort und Stelle das Herausziehen von Kräften, so ganz einfach ist. Es gibt da allerlei Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten. Falkenhayn schreibt auf einen Ablösungsvorschlag von Seeckt Heeresarchiv Potsdam, Akte O 441. mit eigener Hand: »Ganz klar ist mir die Sache nicht«, und Seeckt wiederum erhebt Einspruch gegen ändernde Befehle der Ablösung von seiten der O.H.L. Man kann schon verstehen, daß Seeckt in seinem Brief von einem anstrengenden Tag mit schwieriger Lage sprach. Indessen, man kommt im ganzen vorwärts, und inzwischen ist das Kav.-Korps Heydebreck auf Kowel angesetzt. Man kann hoffen, daß man dadurch eine Einwirkung auf die Verbindung von Brest nach Osten erreicht. Am 18. 8. erhält die Bugarmee den Befehl zur Abschließung, später zum Angriff auf Brest. Am 19. gehen oberhalb und unterhalb von Brest erhebliche Teile über den Bug. Aber immer wieder leistet der Russe zähen Widerstand. Am 20. treffen Agentennachrichten ein, daß der Russe Brest zu räumen beabsichtige. Trotzdem dauert der Rückzug der Russen in der Art an, daß das Zurückgehen mit dem Anklammern an Stellungen und Geländehindernissen abwechselt. Die Kämpfe tragen auf deutscher Seite den Charakter eines erbitterten Vorwärtsdringens von Abschnitt zu Abschnitt; und das mit einer Truppe, die nahezu 4 Monate ununterbrochen kämpfte.

Weiter die Briefe:

»18. August. Heute der St.-Privat-Tag oft gefeierten Gedenkens. Ich sandte dem Regiment einen Gruß hinaus in berechtigtem Stolz auf die alte und jüngste Vergangenheit. Hier ist heute Feier für »unsern guten Kaiser Franz«. Der Feldmarschall sprach wunderhübsch bei Tisch … Kowno fiel heute zur Feier des Tages, und Nowo-Georgiewsk ist im Fallen. Ich gab die Befehle zum Angriff auf Brest Litowsk hinaus, bei weitem die stärkste der drei Festungen. Doch werden wir selbst kaum davor liegen bleiben. Alles ist im Vorwärtsgehen. Wie weit die Reise noch geht, weiß ich nicht Das kann nur so gemeint sein, er wisse es nicht in den genauen Einzelheiten. Denn daß Falkenhayn die Bewegung in der Linie Grodno-Brest anhalten wollte, war ihm seit 2 Tagen bekannt..

Was haben wir den Russen nun schon zugesetzt. Wir kommen auf über 100 Geschütze und 100+000 Menschen. Im Ausland macht das alles nicht den zu erwartenden Eindruck, wie man aus amerikanischen Zeitungen sieht. Von unseren Feinden sind zwei kaum zu besiegen: Die gegen uns verbündete internationale Presse in allen Ländern und das neutrale Amerika … Vorläufig wird verfolgt und gekämpft. Ganz bis Sibirien wird es nicht gehen Bei der Truppe entstand damals der Scherz, man wolle Kiautschau von der Landseite zurückerobern.. Aber ein Weilchen dauert es wohl noch …

Wir haben vom Schicksal einen Tag der Ruhe erkämpft und uns und allen die verhältnismäßige Ruhe ohne schlechtes Gewissen gönnen können. Es wird nicht leichter mit der Zeit. Die Nerven fangen zum Teil an, bedenklich nachzulassen, was sich vielfach im gereizten Verkehr miteinander leider bemerkbar macht. Ich bringe dem einen hohen Grad von Abneigung entgegen. Es ist oft ganz spaßhaft, aus Meldungen selbst der mir unterstellten Chefs herauszulesen, daß eigentlich die geforderten Anstrengungen auf meiner persönlichen Neigung und demnach also Gemeinheit beruhten. Mich ficht das nicht an. Ich bin oder wäre ersetzlich. Das ist jeder. Und eine andere Kraft an meiner Stelle leistete vielleicht viel mehr. Aber das ist ganz gleich. Ich stehe nun einmal an dieser Stelle und muß suchen, sie auszufüllen, und bleibe in ihr, solange ich soll. Das ist gar keine Größe und nichts Besonderes, sondern nur etwas ganz Selbstverständliches. Auch ich muß müssen. Jeder muß müssen, heißt es trotz Lessing, und das ist auch sehr notwendig.«

Das ist gar keine Größe? Das Selbstverständliche ist immer groß. Und diese selbstverständliche Pflichterfüllung, dieses Muß von innen heraus ist erst recht Größe. Groß ist aber auch, wie er in der Seele mit der Schwere der Ereignisse ringt. Gar so selbstverständlich und einfach nimmt er sie eigentlich nicht. Übrigens war die Stimmung gegen Seeckt vielleicht erklärlich aus den zahlreichen mit großen, anstrengenden Märschen verbundenen Verschiebungen der letzten Woche. Sie waren der Truppe sicher oft unverständlich und manchmal auch vermeidbar. Es gibt keine große Bewegungsaktion der Kriegsgeschichte, in der ausnahmslos alle Fehler in den Marschanordnungen vermieden worden wären. Man darf sich erinnern, daß gegen das Oberkommando Blücher 1813, trotzdem Gneisenau der Stabschef war, infolge der Hin- und Hermärsche sich ein Groll erhob, der ein geradezu gefährliches Maß annahm.

»Von der Teilnahme der polnischen Bevölkerung am Kriege hatte ich ein witziges Beispiel. In Lublin waren zwei Damen bei mir, vielmehr sie hielten mich auf der Straße an, und beschwerten sich, daß sie Einquartierung hätten: Was geht uns denn der Krieg an? Wir sind nicht Russen und sind nicht Daitsche. Wie kommen wir dazu? Dann nehmen sie uns die Pferrrde und das Pianino fort. Ich wies sie an Hahnke, zur Strafe. Das geraubte Pianino haben sie vielleicht wieder, die Pferde kaum …

Heute hatte ich meinen Feldmarschall zu trösten, der ganz entzwei war über einen anonymen Brief, den ein Vater in der Verzweiflung über den Tod seines Sohnes geschrieben haben wollte, an dem er uns mit den gemeinsten Ausdrücken die Schuld gab. Ich sagte dem Feldmarschall: In solchen Augenblicken nicht den Mut zum eigenen Namen zu haben, ist so unwahrscheinlich, daß die ganze Geschichte mit dem toten Sohn damit wegfällt. Ist es aber wahr, so muß man sich einen Menschen denken, der vor berechtigtem Schmerz jedes Urteil verloren hat. Und damit verbrannte ich den Brief vor seinen Augen. Er sagte: Ich wollte ihn ja gerade aufheben; worauf ich: Das fürchtete ich, und darum verbrannte ich ihn. Womit er dann sehr einverstanden war. Du siehst, wie wir zueinander stehen.«

In diese Zeit fällt ein kleiner Vorgang im Stab, den der damalige Hauptmann im Generalstab Blankenhorn Mitgeteilt aus den Aufzeichnungen des Oberst Blankenhorn. aufgezeichnet hat. Es sollte ein Bild gemalt werden von einem Kunstmaler, das »Kriegsrat bei Mackensen« heißen sollte. Schon der Titel war nicht sehr glücklich. Weder der Feldmarschall noch ausgerechnet Seeckt waren Führerpersönlichkeiten, die auch nur die geringste Anwandlung eines Kriegsrates zugelassen hätten. Man erinnere sich, mit welcher Leidenschaft sich schon der sonst so gelassene alte Moltke gegen den Begriff des Kriegsrats gewehrt hat. Es kann sein, daß schon des Titels wegen Hemmungen auftraten. Sicher aber war, daß die Kampfverhältnisse in der Tat nicht zuließen, dem Feldmarschall oder Seeckt Zeit abzuverlangen, um gemalt zu werden. So entstanden denn eine Reihe von Schwierigkeiten. Blankenhorn schreibt also: »... Mit Mackensen und Seeckt hatte der Maler wenig Glück. Seeckt dankte nach Fertigstellung einer gründlich häßlichen Silhouette ein für allemal, und Mackensen hatte nur seinen Kopf ausmalen lassen. Dann hatte auch er genug. Der arme Maler war darob schwer in Not. So erbat er sich denn schließlich die äußere Hülle des Feldmarschalls und ging auf die Suche nach einer ebenbürtigen Figur. Und er fand sie. Mein Aushilfsbursche, der Landsturmmann Sauerbier wurde sein Mann.

Eines Morgens in der Frühe nach kurzer Nachtruhe verließ Seeckt sein Zimmer und stand plötzlich etwas zerstreut vor einem hohen General mit Stern und sonstigen seltenen Insignien, der über einen Tisch voll Karten gebeugt schwere Arbeit zu leisten schien. Der Chef verbeugte sich, der General verharrte in schwerer Gedankenarbeit. Seeckt wiederholte seine Begrüßung. Der hohe Fremde nahm keine Notiz. Verärgert über ein solches Ereignis trat der Chef in die Operationsabteilung, wo wir bereits an der Arbeit waren. »Was ist denn das für ein unhöflicher General da draußen im großen Saal? Das ist wohl ein Erzherzog?« Allgemeine Heiterkeit. Armer Sauerbier, der dem zähen Kunstjünger Modell saß und sich dabei nicht rühren durfte. Ich habe bei dieser Gelegenheit Seeckt zum erstenmal laut lachen gehört. Wir haben darauf gemeinsam dem verängstigten Sauerbier Entlastung erteilt, dem beim Anblick des gefürchteten Chefs dicke Schweißtropfen über seine Generaladjutantenschnüre gerollt waren. Als das Bild dann später fertig wurde, waren der Kopf des Feldmarschalls und der Körper des Sauerbier trefflich ähnlich geraten.«

Es bestand die Absicht, mit der Feuereröffnung gegen Brest am 1. 9. zu beginnen. Bei stärkster Anspannung der Kolonnen und Fertigstellung der Eisenbahn bis Biala war ein Artillerieangriff nicht eher zu leisten. Am 24. meldeten allerdings die Flieger russische Kolonnen auf allen nach Osten führenden Straßen. Seeckt drahtete nun am 24. 8. Heeresarchiv Potsdam, Akte O 441. eine Beurteilung der Lage an Falkenhayn, die in doppelter Beziehung interessant ist. Einmal glaubte er noch nicht an die Räumung von Brest und zum andern beschäftigte er sich auch jetzt wieder mit der Frage, wie man aus dem rein frontalen Kampf herauskommen könne. Man wird sehen, daß in den nächsten Tagen diese Frage wiederkehrt. Es ist unmöglich, einem Chef, der das Problem selbst immer wieder anstößt, zum Vorwurf zu machen, er hätte es übersehen. Seeckt drahtet an die O.H.L.:

»Der Feind vor der Front der Armee geht zurück … Es ist anzunehmen, daß er nachhaltigen Widerstand hinter der Lesna halten wird, und zwar so lange, als er beabsichtigt, noch Brest Litowsk zu halten. Unmittelbare Anzeichen für die Räumung von Brest Litowsk liegen noch nicht vor … Die Verfolgung wird, gleichviel ob Brest Litowsk gehalten wird oder nicht, zunächst in einem rein frontalen Zurückdrängen bestehen. Es sei denn, daß es der Bugarmee gelänge, so schnell durch das Waldgelände nach Norden vorzustoßen, daß eine Flankenwirkung gegen den zurückgehenden Feind möglich wird. Hierfür sind die Aussichten infolge der Geländeverhältnisse nicht die günstigsten. Der Feind wird sich dieser Einwirkung, wenn sie ihm gefährlich wird, rechtzeitig entziehen. Allerdings wird sein Rückzug, je weiter er nach Osten kommt, durch die Wegeverbindungen immer schwieriger, aber auch das Folgen. Ihn bis über die Lesnalinie hinaus zu werfen, erscheint aber notwendig und aussichtsvoll.«

Mit dem 25. 8. nimmt die Spannung, was aus Brest Litowsk wird, zu: »Heute abend der Himmel blutrot. Das brennende Brest Litowsk. Sie scheinen wirklich ein 1812 aufführen zu wollen. Aber die Zeiten sind anders und Brest Litowsk ist nicht Moskau. Daß die Stadt zu zwei Drittel jüdisch ist, wird ihnen die Sache erleichtert haben. Aber eine merkwürdige Kriegführung ist es doch. Dies ist nicht mehr Polen, was sie ja wohl verloren haben. Wie es damit einmal werden soll, weiß ich nicht, und die andern, glaube ich, auch nicht. Daß sie Brest Litowsk räumen, eine ganz moderne Festung, in die sie Millionen, nämlich französische, hineingebaut haben, spart uns Opfer an Menschen, Munition und Zeit. Bringt allerdings auch keine Beute.«

Die unklare gespannte Lage und die Art, wie sich Seeckt nun mit ihr abfindet, ist besonders kennzeichnend. Er kommt nämlich wieder auf die Form der Befehlsgebung zurück, die er in den von ihm selbst ausgearbeiteten Direktiven vor Beginn der ganzen Operation niedergelegt hat, gegen die sich François einmal wehrte, und bei denen sich Seeckt auch jetzt bewußt war, daß erneuter Widerspruch einsetzen könnte. Infolgedessen braucht er am Schluß seines Schreibens an die Chefs eine Wendung, die wie eine formale Rechtfertigung des von ihm nun einmal von Anfang an für richtig gehaltenen Verfahrens klingt Heeresarchiv Potsdam, Akte 379.:

»Der Armeebefehl vom heutigen Abend, 25. 8., ordnet das Fortsetzen der Verfolgung … in den bisherigen Richtungen und damit den Übergang über den Lesna-Abschnitt an … Die allgemeine Lage ist folgende: Von beiden Heeresflügeln werden die zurückgehenden russischen Armeen zurückgedrängt; von Süden drängt die Bugarmee … gegen die Südfront von Brest Litowsk und die von dort nach Osten führende Straße vor Tags zuvor hatte er die Lage so positiv und hoffnungsvoll nicht angesehen. … Der feindliche Rückzug wird noch durch den sich ihm vorlegenden Bialowieser Wald erschwert. Unter diesen Verhältnissen bleibt das Ziel der Operation wenn nicht Vernichtung, so doch Schädigung der feindlichen Kräfte wie bisher … Es ergibt sich für die Heeresgruppe die Notwendigkeit scharfen Vorgehens auf der ganzen Front. Nur wenn der Feind, in der Front dauernd angefaßt, zur Abwehr durch Nachhuten gezwungen wird, kann die drohende Umfassung wirksam werden … Es wäre falsch, wenn die 11. Armee abwehrte, bis ihr ein Erfolg anderer Teile den eigenen Weg freimachte. Daher muß angegriffen werden. Es entspräche aber nicht dem Willen des Feldmarschalls, wenn in frontalem Infanterieansturm ohne Abwarten genügender Artilleriewirkung die Kräfte eingesetzt werden. Wenn es andererseits gelingt, mit dem weichenden Gegner oder an einer schwachen Stelle in seine Linie einzubrechen, müssen solche Möglichkeiten ausgenutzt werden. Unter diesen Umständen muß es daher das Oberkommando wie schon so oft den Generalkommandos und den Führern in vorderer Linie überlassen, wie sie den Angriff in ihren Gefechtsräumen führen. Es wird richtig geschehen, solange von allen Stellen in Verständnis für die Lage der Armee gehandelt wird. Hierzu ersuche ich, den Kommandierenden Generälen vom Vorstehenden Meldung zu erstatten.«

Das Ziel bleibt wenn nicht Vernichtung, so doch Schädigung der feindlichen Kräfte. Der Vernichtungsgedanke entschwindet ihm selbst jetzt nicht. Er kommt ihm auch noch in dem Augenblick in die Feder, in dem seine eigenen Worte ihn als kaum noch ausführbar kennzeichnen.

Am 26. 8. 1915 geht folgendes Telegramm ab:

»An des Kaisers Majestät.

Brest Litowsk vollständig in unserm Besitz. Korps Falkenhayn drang von Norden als erstes in Zitadelle und Stadt. Außerdem an Besitznahme der Forts noch Beskidenkorps und VI. österr.-ung. Korps beteiligt, letzteres unter zum Teil schweren Kämpfen. Beute noch nicht zu übersehen. Alle Vorräte haben die Russen nicht zu vernichten vermocht … Was der Tag von Groß-Görschen begonnen, hat der Tag von der Katzbach vollendet.

Unterschrift: Mackensen.«

Der russische Heeresbericht erwähnte Brest überhaupt nicht. Seeckt macht die Bemerkung dazu: »Neue, sehr nette Berichterstattung.« Heeresarchiv Potsdam, Akte 380.

Es kann etwas auffallen, daß der Fall von Brest Litowsk in Seeckts Briefen kaum einen Widerhall findet. Er schreibt nur, er möge nicht hinein. »Ich habe keine Lust, nach dem abgebrannten Brest Litowsk zu gehen. Eine Stadt von 80+000 Einwohnern abzubrennen und zu entvölkern, ist schon ein Kunststück, würdig dieser Regierung und Führung.« Erklärlich ist das Schweigen über den Fall der großen Festung andererseits durch die Überfülle der Arbeit, die auf Seeckt einstürmt und mit der er es auch entschuldigt, wenn er nicht seiner Gewohnheit entsprechend täglich seiner Frau schreibt.

Man fühlt es nach dem Fall von Brest Litowsk, die Operation geht ihrem Abschluß entgegen. Es kann sich jetzt nur um die Art handeln, in der man das Ganze noch auslaufen läßt. Um so erstaunlicher ist es, wenn man am 26. 8. eine Beurteilung der Lage von Seeckt an Falkenhayn liest, die so lautet A.O.K. 11, Chef des Generalstabes Ia Nr. 6480 vom 26. 8. 15, bei O.H.L. 27. 8. 15:

»Euer Excellenz bitte ich die nachstehende Beurteilung der Lage vom Standpunkt der Heeresgruppe Mackensen gehorsamst vorlegen zu dürfen.

Nach den eingegangenen Nachrichten ist eine feindliche Nachhutstellung in der allgemeinen Linie Gajkowka–Sieliszcze–Wierchy–Zabinka zu erwarten. Ihr nähern sich die Korps der vorderen Linie schon heute abend. Sie wird angegriffen werden. Daß der Feind sie nachhaltig verteidigt, ist nicht zu erwarten; sie wird nördlich des Waldes von der 12. Armee, von Süden durch den auf Kobryn vorgehenden rechten Flügel Linsingen umgangen. Der Feind wird … in eine Stellung zurückgehen, deren linker Flügel wenigstens Anlehnung an Sumpfgelände findet … Auch sie wird bei starkem Druck und, wenn sie weiter von Norden umgangen ist, nicht gehalten werden. Es entsteht die Frage, was dann? Ihre Beantwortung hängt, soweit von hier aus nach nur operativen Rücksichten zu beurteilen ist, davon ab, wie das Vorgehen auf und über Wilna zu beurteilen ist. Hält man dieses für aussichtsvoll, dann bietet sich anscheinend doch noch die Aussicht auf eine großzügige Umklammerung der russischen Armee. Unter diesem Gesichtspunkt würde von hier aus folgendes in Aussicht genommen werden: Vorgehen der südlich des Bielowiezker Forstes verwandten und zusammenzufassenden Kräfte über die Linie Kobryn–Kamieniec–Litowsk in Dichtung Pruzana unter Deckung gegen Osten und Abschluß des Südrandes des Forstes …«

Selbst in dieser Lage noch hält Seeckt an dem Gedanken einer großzügigen Umklammerung fest. Man kann, es muß wiederholt werden, unmöglich behaupten, daß ihm das Gefühl für eine die Entscheidung suchende Handlung verlorengegangen sei. Allerdings hat er die ausschlaggebende Einwirkung von der Heeresgruppe Mackensen nunmehr kaum noch erhofft, sondern nur die Mitwirkung. Was kam, hat er wohl vorausgesehen. Am 31. 8. mußte an die O.H.L. gedrahtet werden A.O.K. 11, Ia Nr. 6733.:

»Hoffnung, noch erhebliche Teile des Feindes … abzufangen, besteht nicht mehr. Hauptgrund ist, daß es der Bugarmee nicht gelungen ist, mit rechtem Flügel, auch nicht mit dem Kav.Korps rechtzeitig gegen südliche Flanke einzuschwenken. Frontale Verfolgung rechten Flügels und Mitte 11. Armee über Sumpfgelände … versprach keinen wesentlichen Erfolg … Starke Regengüsse werden überall Truppenbewegungen im Sumpfgelände aufhalten. Zustand der Truppe gut, wenn auch wohl teilweise ermüdet. Leistungsfähigkeit der Pferde … beginnt stellenweise stark nachzulassen.«

Man kann unter gar keinen Umständen die Worte über den mangelnden Erfolg der Bugarmee etwa als einen Vorwurf auffassen. Seeckt konnte in diesem Zeitpunkt nicht vergessen haben, daß der Versuch, mit der Bugarmee eine Entscheidung herbeizuführen, wenn das überhaupt ging, früher gemacht werden mußte, und daß die Bestrebungen, den Versuch zu machen, gehindert worden waren, und zwar mit der Begründung jedenfalls doch der Aussichtslosigkeit. Jetzt in letzter Stunde sollte ein Versuch gemacht werden, weil man ihn machen mußte, ohne an mehr als einen Zufallserfolg zu glauben. Die Heeresgruppe konnte in ihrer Meldung also nur eine Tatsache feststellen, von deren Eintreten sie von vornherein so ziemlich überzeugt war. Wieder klingt ein leiser Ton des Bedauerns und vielleicht sogar des Vorwurfs nach oben heraus, zu dem die Begründung freilich im Dunkeln bleibt.

Jene Beurteilung der Lage vom 26. 8. hat nun anscheinend eine ganz merkwürdige Wirkung gehabt. Falkenhayn entschließt sich nämlich, die in dieser Meldung erwähnte Fortsetzung der Operation in Richtung Pruzana aufzunehmen. Es mag auch sein, daß er in dem Verlangen nunmehr einer Verfolgung bis zur Jasiolda und in Richtung Pinsk durch die Erfolge von Ob.Ost bei Wilna veranlaßt ist. Seeckt hat die Operation mit dem 28. als im wesentlichen für beendet angesehen:

»28. August. Von uns ist zu berichten, daß wir wohl am Ende eines glücklichen Feldzugsabschnittes stehen. Der Feldmarschall erhielt heute den Schwarzen Adler. Er teilte es mir mit mit den Worten: Ich danke Ihnen für das, was Sie seit dem 1. Mai getan haben … und ich danke Ihnen für den Schwarzen Adler. Mehr kann man … nicht sagen und tun. Nun wollen wir weiter sehen. Nach Sibirien wollen wir nicht. Es wäre auch zu spät im Jahre dazu. Zunächst bleiben wir wohl noch einige Zeit hier. Ich lege jedenfalls auf noch Östlicheres keinen Wert.

29. 8. Wir werden uns nun doch bald wieder irgendwie verändern. Das Wie steht noch nicht fest. Nach Westen werde ich meine Schritte wahrscheinlich nicht lenken … Mit diesem Feldzug sind wir so ziemlich fertig. Ich hoffe, daß der Schlußakt des Dramas noch recht betrübend für den Feind wird. Er hat heute noch gründlich Haare lassen müssen und kommt eng zusammengedrängt schlecht fort durch seine Sümpfe, in die er uns gern locken möchte.

31. 8. Ich bin eben nach Brest Litowsk gefahren, nicht um mir das abgebrannte Nest, sondern um einige moderne russische Forts anzusehen. Diese sind allerdings vom höchsten Interesse. Der Strom der zurückkehrenden Flüchtlinge war ein grandioses Bild. Wo sie ihren Peinigern entronnen sein mögen, weiß man nicht. Sie sollten ins Innere getrieben werden und haben sich wohl zum Teil in die Wälder geflüchtet. Zum Teil sind sie bei dem eiligen Rückzug losgelassen worden. Hunderte kleiner Wagen, viele Tausende von Menschen. Alle gleich arm, elend, schmutzig und alle, alle häßlich. Alt und jung, Männer und Frauen auf Wagen liegend, hockend, hinter dem Wagen drein humpelnd, rennend, um nur wieder zu Hause zu kommen, von dem sie ja doch nur einen ragenden Schornstein zwischen Schutt und Asche finden werden. Es ist das eigene Volk, dem das der Russe antut. Denn hier sind es keine Polen mehr, sondern richtige Russen. Zu uns kommen sie ohne jede Scheu und Angst. Woran liegt das? Und woher wissen sie, daß wir ihnen nichts tun? Denn die Verleumdungstheorie des ganzen Landes grenzt an Wahnsinn und alles auf Befehl des einen noch immer allmächtigen Mannes, des großen Teufels, wie ihn seine Soldaten nennen, des Großfürsten Nikolai. Gewiß liegt Energie in dieser Verteidigung. Aber sie imponiert mir doch nicht so wie vielen anderen. Es ist die Energie des Egoismus und Absolutismus, der nicht für das Land ficht, sondern für sich selbst … Heute abend ist uns noch ein zurückgelassenes russisches Munitionsdepot in Brest Litowsk in die Luft geflogen. An sich gleichgültig, wenn es nur nicht ganz überflüssigerweise Tote und Verwundete gekostet hätte. Hier ist noch alles in der Schwebe. Das Wetter tat seit gestern den Sprung von der Leinenbluse zur Lederjacke, aber frisch und klar. Und eine Fülle bunter Herbstblumen vor meinem Fenster, die einen den Graus draußen zeitweise vergessen machen … Nach meinem Geschmack könnte bald alles aufhören … Den Pour le mérite für Moltke kann man verschieden auffassen. Es ist gewiß die Tat eines Freundesherzens und ganz unbewußt vielleicht etwas eigenes Schuldbewußtsein. Jedenfalls halte ich diese Auffassung für hübscher und richtiger als die, er habe den Orden nicht verdient und könne ihn nicht tragen, den Orden für eine gewonnene Schlacht oder eine eroberte Festung.«

Die Operation läuft mit ihren letzten Ereignissen aus, wobei es nicht so wesentlich ist, welche örtlichen Erfolge noch erreicht werden oder erreicht werden könnten und in welcher Linie schließlich alles zum Stillstand kommt. Merkwürdig ist nur, daß die Tage um die Monatswende das Streben Falkenhayns, nun doch noch feindliche Kräfte abzufangen, immer deutlicher zeigen. Seeckt antwortet am 31.8. Heeresarchiv Potsdam, Akte 381 u. O 441. umgehend mit einem eindeutigen: Nein! Auch das bringt Falkenhayn von seinem erneuten Stimmungswechsel nicht ab. Er empfiehlt trotzdem mindestens scharfes Nachdrängen. Als auch der Hinweis auf den Zustand der russischen Armee, der keineswegs irgendeine Auflösung zeige, keinen Eindruck macht, fügt sich Seeckt, wie er das immer tut, wenn alles Notwendige zur Lage gemeldet ist, und nennt am 1. 9. eine Verfolgung auf Pinsk immerhin aussichtsvoll. Das ist kein Widerspruch. Er hält die Fortsetzung der Bewegung nicht mehr für nötig, aber wenn die O.H.L. sie will, kann sie natürlich gemacht werden. Aussichtslos ist sie nicht. Am 2. 9. überschreitet die Bugarmee den Dnjepr-Bug-Kanal und gewinnt Gelände in Richtung Pinsk. Die weiteren Ereignisse stehen ganz augenscheinlich und berechtigt mehr unter dem Einfluß von Conrad und Ob. Ost. Im ganzen fühlt man heraus, daß die O.H.L. aus dem Widerstreit, die bisherige Verfolgung fortzusetzen und die neue Operation in Serbien einzuleiten, noch nicht heraus ist. Am 5. 9. unterrichtet Falkenhayn den Generalfeldmarschall von Mackensen über die bevorstehende Auflösung der Heeresgruppe. Sie solle nach außenhin möglichst spät erkennbar sein.

Seeckt schreibt: »2. 9. Ich hatte nichts Neues hinter Brest Litowsk bisher. Ich bin auch schlechter Laune. Was werden soll, ist schwierig. Das sehe ich ein. Hundert verschiedene Gründe und Rücksichten sprechen mit. Des Feldmarschalls zweiter Sohn ist verwundet. Er hat aber gute Nachricht von ihm … Zur Zeit führen die Österreicher mit recht gutem Erfolg ihren Feldzug unten in Galizien. Heute Abschied vom Gardekorps, das uns verläßt nach viermonatiger Zusammenarbeit. Ordentlich bewegt war dieser Abschied. Plettenberg war bei mir, Schulenburg schrieb mir einen netten anhänglichen Brief. In vier Monaten siebzig Kampftage, in denen an 29 feindliche Stellungen gestürmt wurden. Das sind ganz unerwartete, nicht für möglich gehaltene Leistungen, gegen die die von 70/71 verschwinden. Ein Tag, der 18. August 1870, kann sich mit diesen Schlachttagen messen. Aber die Opfer sind nicht umsonst gebracht. Die Größe der Aufgabe ist seit Soissons gewachsen. Die Verantwortlichkeit ist wohl die gleiche geblieben. Zur Zeit sind wir noch immer in Verfolgungstätigkeit in Anschluß an Hindenburg. Aber Neugruppierungen bereiten sich vor.

Den 4. September … Keine Stimmung. Warten, das ist nichts für mich nach der Tatenfreudigkeit der letzten Zeit. Ich lese eine Zusammenstellung: Bismarck und Österreich. Nichts Neues, aber verblüffend in ihrer prophetischen Voraussage. Man muß nur das große Allgemeine suchen und nicht vergessen, daß die Verhältnisse im kleinen sich änderten. Für die heutigen Ziele möchte ich immer wieder sagen: Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll; solang er das nicht ist, ist nicht sein Frieden voll. Das gilt nicht weniger für den Staat und seine Lenker. Steht aber vor deren Auge und Seele schon das Bild, das werden soll, und hinter ihnen der Wille, es zu gestalten? Ich zweifle. Und darum ist auch der Frieden eine so unsichere Aussicht, weil das Bild von ihm und der Wille zu ihm so unsicher ist.«

Es ist schade, daß diese Worte damals nur in einem Privatbriefe standen. Sie wären geeignet gewesen, weithin zu warnen. Sobald der Druck der eigenen Aufgabe auch nur etwas nachläßt, umkreisen Seeckts Gedanken sofort in tiefer innerer Sorge das Gesamtproblem des Krieges. Zeit dazu hat er jetzt. Einfluß auf die Maßnahmen der O.H.L. hat die Heeresgruppe nicht nur nicht mehr gehabt, sondern Seeckt sind auch die Gedankengänge Falkenhayns in diesen Tagen unbekannt geblieben.

Am 5. 9. hat Seeckt gleichsam als innerliche Rechtfertigung vor sich selbst dem Chef des Generalstabes über den Zustand der Truppe berichtet Heeresarchiv Potsdam, Akte 383a.:

»E. E. berichte ich folgendes:

Die von der Truppe verlangten Leistungen sind von ihr während der ganzen Zeit der letzten Kämpfe anstandslos getragen worden, so hoch die Anforderungen an die physische und moralische Kraft auch waren. E. E. konnte ich wiederholt mit Recht melden, daß die Truppe zuversichtlich und angriffslustig geblieben war; daß bei ihr der Wunsch nach Ausbildungsmöglichkeit für den Nachwuchs besteht, berichtete ich schon. Es mehrten sich aber in der letzten Zeit Klagen der Truppe über Zurückgehen des Materials und namentlich über den Zustand der Pferde und Kolonnen; diese Klagen fanden auch in Berichten und Meldungen der kom. Generale an den Oberbefehlshaber mehrfach Ausdruck. Es ist S. E. dem Herrn Feldmarschall jederzeit klar gewesen, daß solchen Klagen gegenüber alles zur Abwehr geschehen müsse außer einer Beeinträchtigung des Verlaufs der Operation. Eine solche Beeinträchtigung der Operation ist auch, wenn auch nur unter Einsatz der Kräfte aller Beteiligten, oft unter Rücksichtslosigkeit vermieden worden. Dagegen beauftragt mich der Herr Oberbefehlshaber, E. E. Nachstehendes darzulegen, weil davon die nächsten den bisher zur Armee gehörenden Truppen zufallenden Aufgaben berührt werden könnten und weil sich vielleicht für ähnliche Lagen Schlüsse daraus ziehen lassen.

Die Truppen bedürfen einer Pause, um wieder völlig zu Kräften zu kommen. Die Gründe einer gewissen zweifellos vorhandenen Erschöpfung sind E. E. nicht verborgen; ich darf als Beweis nur drei Zahlen anführen: in den 4 Monaten der letzten Kämpfe hat das Gardekorps 70 Gefechtstage gehabt, 750 km zurückgelegt, über 27+000 Mann verloren. Die Wegeverhältnisse waren in der letzten Zeit sehr schlecht, ebenso nahm die ursprünglich weit höhere Möglichkeit der Verpflegung aus dem Land ab. Der Munitionsverbrauch war andauernd ungeahnt hoch und steigerte sich noch, nahm also die Kräfte des Nachschubs stark und zum Schaden der Verpflegung in Anspruch. Die Eisenbahn konnte nur langsam und zeitweise nur mit schwacher Leistung folgen …

Anzug und Ausrüstung haben z. T. in ganz bedenklichem Maß gelitten. Außer der schon beim Kriegsministerium besonders erbetenen Zuführung von Aushilfe erscheint auch für solche Zwecke des inneren Dienstes eine gewisse Zeit erforderlich. In letzter Zeit ist an manchen Stellen die Frontstärke stark heruntergegangen. Es wäre sehr erwünscht, das Eintreffen von Nachersatz abwarten zu können.

Das Material der Artillerie, besonders der Kanonenbatterien, hat durch starke Inanspruchnahme z. T. sehr gelitten; die Klagen dürften nicht unberechtigt und ein Auswechseln der Rohre notwendig sein.

Geradezu bedenklich fing an der Zustand der Pferde zu werden. Die Abgänge sind sehr hoch und bedürfen dringend des Ersatzes; die vorhandenen Pferde müssen eine Ruhepause und reichlichere Zuweisung von Kraftfutter haben, bevor sie wieder voll leistungsfähig sind … Es muß unbedingt zugegeben werden, daß die Haferzufuhr ungenügend gewesen ist. Das Oberkdo. stand aber vor der Frage, ob es die Munition oder die Pferdeverpflegung leiden lassen wollte und entschied sich für das zweite im Interesse der Fortführung der Verfolgung. Beides dauernd in genügendem Maß nachzuführen, war die Etappe einfach nicht in der Lage. Mangel an Munition hätte aber die Operation einstellen lassen … In der Mannschaftsverpflegung ist ein Mangel nicht entstanden, wenn auch für sie die Verwaltung mehrmals sorgenvolle Stunden durchlebte.

Die Etappe hat geleistet, was billigerweise von ihr verlangt werden konnte. Jedenfalls hat sie ihre erste Aufgabe, die Operation nicht zu hemmen, erfüllt; der Aufgabe, die Truppe dauernd ausreichend mit dem nötigen Nachschub, einschl. Post und Genußmittel, zu versehen, konnte sie nicht genügen … Der Vormarsch der Armee mußte angetreten werden, bevor die Etappe mit ihren Nachschubmitteln fertig war. So konnte sie eigentlich nie zu einer gewissen Kraft kommen; sie lebte dauernd von der Hand in den Mund.

Die Leistungen der Eisenbahn-Baukompanien und der Pioniere beim Straßen- und Brückenbau verdienen volles Lob. Ohne die weitgehende Ausnutzung der Gefangenenarbeit hätten sie ihre Aufgaben nicht so gut erfüllen können. Immerhin war es eine kritische Periode, als der Nachschub der Armee an der schlecht arbeitenden Vollbahn Jaroslav–Belzec und in ihrer Verlängerung durch eine Feldbahn hing.«

Die Darstellung Seeckts, von ihm selbst geschrieben, ist mit voller Absicht hier wiedergegeben. Es kann kaum eine Schilderung von eindringlicherem Pathos geben, als diese nüchterne Aufzählung militärischer Schwierigkeiten. Es gibt auch Heldenlieder, die ganz und gar nicht in Versen und die völlig unbewußt geschrieben sind. Man muß sie nur zu lesen verstehen.

»7. September. Regentage, die einem den längeren Aufenthalt in diesem Lande nicht gerade verlockend erscheinen lassen. Wie es mit dem Lande werden soll, ist mir noch ganz schleierhaft. Nun strömt das Volk zurück, findet vernichtete Ernte und niedergebrannte Wohnungen und darf doch weder verhungern noch erfrieren. Also eine tatkräftige Verwaltungshand tut bitter not und wird hoffentlich bald gefunden. Eine Riesenaufgabe … Kreß ist Pascha? Das möchte ich auch noch mal sein dürfen.« Er ahnte nicht, daß er es noch einmal werden würde.

Am 8. 9. sandte General von Falkenhayn folgendes Telegramm:

»Während der Beurlaubung des Generalfeldmarschalls von Mackensen übernimmt General der Infanterie von Linsingen die Führung der Heeresgruppe Mackensen, sowie der 11. Armee. General von Seeckt, Major von Bock melden sich baldigst beim Chef des Generalstabes des Feldheeres im Gr.H.Qu. Desgleichen wird GFM. v. Mackensen gebeten, sich am 16. dieses Monats im Gr.H.Qu. einfinden zu wollen.«

Damit hatte die Tätigkeit Seeckts an dieser Stelle ihr Ende erreicht.

Die ganze Operation von Gorlice bis Brest Litowsk hatte einen ungeheuren Eindruck in der Welt gemacht. Sie wurde und sie wird gelegentlich in ihrer Wirkung über Tannenberg gestellt. Wohlverstanden in der Wirkung; denn daß Tannenberg immer die größte, die klassische Vernichtungsschlacht schlechthin bleiben wird, ist unbestritten. Gorlice und was sich daran schloß, hatte Seeckt nicht zum Feldherrn gestempelt. Diese Bezeichnung steht immer nur dem zu, der der mit voller Verantwortung belastete Führer ist. Das war der Feldmarschall von Mackensen. Dennoch war Seeckt ganz zweifellos und auch mit Fug und Recht durch den Sommer von 1915 eine Berühmtheit von nunmehr historischem Rang geworden.

Seeckt selbst ist sich bei allen Erfolgen, wie man immer wieder aus Briefen und Dienstschreiben erkennen konnte, dessen bewußt geblieben, daß auch diese riesige Operation, die alles bisher Dagewesene überschritt, ein Torso war. Die Entscheidung war nicht erreicht.

General Alfred Krauß hat gemeint Theorie und Praxis in der Kriegskunst., »die Übermacht habe Falkenhayn ermächtigt, an die Vernichtung des Feindes zu denken und sie zu erstreben«. Falkenhayn wird über den Begriff der Übermacht, da er nicht einen, sondern zwei, schließlich drei und im Mittsommer 1915 gar vier Kriegsschauplätze bedenken mußte, vielleicht etwas anders gedacht haben. »Die Vernichtung ist nicht zum Ziel gewählt worden Dieser Satz bezieht sich auf den Wortlaut einer Stelle in Falkenhayns Buch. Falkenhayn beschreibt dort: »Eine Vernichtung des Feindes im ganzen war freilich nicht erzielt. Sie ist aber auch nicht zum Ziele gewählt worden und konnte es unter den gegebenen Verhältnissen nicht werden.«. Darin liegt das Verhängnis. Der am 2. Mai begonnene Angriff auf Gorlice brachte den ersten erfolgreichen Durchbruchsversuch … Aber es wurde kein beträchtlicher Frontteil der Russen vernichtet. Die russische Front wurde nur zurückgedrängt.« Man könnte darüber streiten, ob nicht doch ein beträchtlicher Teil der Russen vernichtet wurde. Man kann aber nicht darüber streiten, daß die russische Front nur zurückgedrängt wurde Krauß schreibt ferner, der Chef des deutschen Generalstabes habe sich anscheinend dauernd mit Ob.Ost um Einzelheiten herumgestritten und sich der besseren Einsicht dieses Kommandos absichtlich verschlossen. Es ist nicht ganz klar, wie dies »absichtlich« verstanden werden soll. Mit Absicht hat Falkenhayn natürlich gehandelt, denn er hatte bestimmt eigene Absichten. Wenn man es so liest, sieht es aber beinahe aus, als habe er böswillig gehandelt. Jedenfalls stellt Krauß abschließend fest: »Die feste einheitliche Führung der Offensive mit dem Ziel der Vernichtung fehlt ganz.« Er setzt nachher seine Vorwürfe auch gegenüber der örtlichen Führung fort und erklärt, daß die operative Ausnützung des geglückten taktischen Durchbruchs gefehlt habe. »Woran dies lag, könnte nur eine gründliche Durcharbeitung des Geschehens bei Gorlice klarstellen.« Das Buch von Krauß ist 1936 erschienen. Die Kämpfe um Gorlice sind aber im amtlichen Deutschen Weltkriegswerk bereits geschildert..

Man hat im Laufe der Darstellung erwägen müssen, ob dieser oder jener Entschluß, diese oder jene Richtung der Kritik standhält oder nicht. Überblickt man noch einmal das Ganze, so sieht man, daß diese Fragen das Wesentliche gar nicht treffen. Als Seeckt seinen Vorschlag für den Durchbruch im Westen formulierte, stellte er die ganz klare Forderung, daß hinter der Durchbruchsarmee eine zweite Armee folgen müsse. Von dieser zweiten Armee ist während der ganzen Operation des Sommers 1915 von Anfang bis zu Ende nichts vorhanden gewesen. Die erste grundlegende Forderung Seeckts war also nicht erfüllt. Die angesetzten Kräfte waren so bemessen, daß es tatsächlich kaum gelang, taktische Reserven zurückzuhalten. In der Kräftebemessung liegt die Erklärung zum Ausgang des Ganzen. Mit den nun einmal gegebenen Kräften ist Unerhörtes, am Anfang der Operation überhaupt nicht Vorausgesehenes geleistet. Wenn die Kräfte, wenn die Armee zweiter Linie nicht bereitgestellt wurden oder bereitgestellt werden konnten, so war das lediglich Sache der O.H.L. Das A.O.K. Mackensen hat nicht etwa geleistet, was zu erwarten war, sondern es hat Unerwartetes, fast Übermenschliches geschafft. Es ist auch nicht so, daß etwa die Heeresgruppe geleitet und also auch gefesselt wurde von den Entschlüssen der O.H.L., ohne es zu fühlen. Ende August schreibt Hauptmann Blankenhorn Mitteilung von Oberst Blankenhorn.: »... Es gibt so oft häßliche Auseinandersetzungen zwischen uns und denen, die an der Front die Befehle des Oberkommandos entgegennehmen müssen. Alle Schande, sagen sie uns, und wir müssen den Mund halten und auf Befolgen der von uns übermittelten Befehle drücken … Es nimmt ein Hoffnungsschimmer zu trotz aller Geheimnistuerei von oben her, daß wir bald hier Schluß machen. Täglich rollt ein anderer Truppenkörper ab nach uns unbekannten Zielen … Seeckt rechnet mit der Möglichkeit eines Feldzuges gegen Serbien …«

Man unterstelle einmal, es sei ein Fehler von der O.H.L. gemacht, wobei dann nicht berücksichtigt wäre, daß der von Falkenhayn ständig erwartete französische Angriff im Westen zu Ende der Ostoperation losbrach Außerdem entzog die italienische Front nunmehr österreich-ungarische Kräfte.. Aber es sei ein Fehler gemacht. Nun ist es mit den Fehlern so eine eigene Sache. Feldmarschall Graf von Schlieffen sagt in der Besprechung der Chefaufgabe des Jahres 1904 Generalfeldmarschall Graf v. Schlieffen: Die taktisch-strategischen Aufgaben aus den Jahren 1891–1905.: »... Dieser Kriegslage ist zum Vorwurf gemacht worden, daß beide Teile mehrere Fehler begangen hätten. Das ist zugegeben. Aber die Kriegsgeschichte besteht überhaupt nur in einer Aneinanderreihung von Fehlern, und jede Kriegslage kann naturgemäß nur das Produkt von Fehlern sein. Es kommt darauf an, die Fehler des Gegners zu erkennen und auszunutzen, und es kommt weiter darauf an, zu wissen, wie weit der Führer in Überschreitung der von der Wissenschaft gegebenen Gesetze in jedem Falle gehen kann.« Diese Worte Schlieffens zwingen in der Beurteilung von Fehlern mindestens zur äußersten Zurückhaltung.

Es ist nicht Sache eines Heeresgruppenchefs, dem verantwortlichen Chef des Generalstabes des Feldheeres klar zu machen, daß er in der Kräftebemessung andere Entschlüsse hätte fassen sollen. Aber man konnte vermissen, daß Seeckt nicht nachhaltiger Falkenhayn um einen stärkeren Kräfteeinsatz angegangen ist. Vielleicht hat er es getan, ohne daß wir es nachträglich feststellen können. Es ist jedoch sehr viel wahrscheinlicher, daß sich Seeckt, vielleicht widerstrebend, vielleicht auch nicht so sehr widerstrebend, mit der Falkenhaynschen Entscheidung abgefunden hat. Man vergegenwärtige sich, daß Seeckt immer wieder über die eigene Aufgabe hinaus auf das Gesamtproblem des Krieges abzielt. Die letzte Entscheidung sah dabei auch er im Westen. Das Bewußtsein, daß hier im Osten niemals die allerletzte Entscheidung liegen konnte, mag seine Einstellung zu dem Gesamtproblem unwillkürlich beeinflußt haben.

Lange Jahre später hat Seeckt geschrieben Aufsatz des Generaloberst v. Seeckt in der Deutschen Wehr Nr. 7 v. 2. 5. 1928.: »Vor dem Krieg wäre die Schlacht von Gorlice verboten gewesen, bei keiner Übungsreise, bei keinem Kriegsspiel des Großen Generalstabes hätte die Leitung den Durchbruch gelingen lassen, höchstens um ihn zum warnenden Beispiel mit eigener Vernichtung zu strafen.« Das ist an sich richtig, kann aber sehr leicht falsch verstanden werden. Die Durchbruchsoperation als solche war natürlich der theoretischen Schulung vor dem Kriege nicht unbekannt. Man konnte sich aber keine Lage vorstellen, in der sie nicht schließlich zum Stillstand gebracht wurde. Man verurteilte den Durchbruch also nur deshalb, weil er in den Lagen, die man voraussah, keine Entscheidung bringen konnte, mithin nutzlos war. Man kann nun nicht leugnen, daß die Operation, die mit Gorlice begann, der Vorkriegsauffassung eigentlich recht gegeben hat. Zu einer Entscheidung ist es nicht gekommen. So hat Seeckt seine Bemerkung auch nicht gemeint. Vielmehr sollen seine Worte bedeuten, daß man sich die Lage, aus der der Durchbruch erzwungen werden mußte, vor dem Kriege kaum vorgestellt hatte. Das ist richtig. Daß der Krieg zum Stellungskrieg mit ununterbrochenen Fronten von einem Meer zum andern entarten würde, daß also ein Stellungskrieg in diesem Umfange eintreten könnte, das allerdings hat man nicht vorausgesehen. Über diese Frage des Verhältnisses vom Stellungskrieg zum Bewegungskrieg wird jedoch an anderer Stelle zu sprechen sein, und zwar gerade deshalb, weil Seeckt der Vorkriegszeit ganz sicher keinen Vorwurf daraus gemacht hätte, daß sie den Stellungskrieg in dieser Art nicht voraussah und nicht haben wollte. Als Seeckt sich nach dem Kriege über die Zukunftsauffassung des Krieges schlüssig werden mußte, hat er sich einwandfrei für den Bewegungskrieg entschieden.

Nun ist allerdings zu sagen, daß sowohl bei Gorlice, wie erst recht in den nachfolgenden Monaten die Lage so war, daß man in theoretischen Lagen solchen Durchbruch abzulehnen in der Tat gezwungen gewesen wäre. Fast durchweg ist der Angreifer an Zahl unterlegen. Das ist ein Vorgang, den man den Russen gegenüber eben wagen, den man aber in Schulungsaufgaben nicht gutheißen kann. So bedeuten denn Seeckts Worte nichts anderes als die Feststellung, daß hier mit unzulänglichen Mitteln nahezu Unmögliches geleistet worden ist. Freilich mit unzulänglichen Mitteln.

Alles was in Rußland danach sich ereignete, ist aus den Ereignissen dieser Monate erwachsen. Das darf man nicht vergessen. Aus diesen Vorgängen entstand die Revolution von 1917. Wenn Möglichkeiten, deren Folgen heute fast unvorstellbar sind, 1917 und auch 1918 nicht genutzt wurden, so ist das eine andere Sache. Es bleibt, daß die Folgen des 2. Mai 1915 in ihrer Fernwirkung weit in unsere Tage hineinreichen und, wenn es anders gekommen wäre, noch ganz anders hätten hineinreichen können. Das wird nicht immer ausreichend empfunden.

Seeckt hatte sich als ein Mann von überragendem Format, und zwar nicht nur als Soldat, sondern auch als Mensch erneut erwiesen. Der Weg war nicht einfach gewesen. Er schreitet nicht durch die Ereignisse dahin. Er ringt sich zur Höhe und kämpft sich von Entschluß zu Entschluß hindurch, nicht ohne Fehler und dennoch in menschlicher Größe. Auch nicht, ohne daß äußere Spuren innerer Lasten zurückbleiben. Die Schwester spricht davon, der Bruder sei von »Verantwortung gezeichnet« und die Mutter schreibt gelegentlich, der Sohn »trage schwer an der Verantwortung«.

Man soll mit dem schmückenden Beiwort der Genialität vorsichtig bleiben. Das Wort ist etwas der Wortinflation verfallen. Man mag ruhig das geniale Spiel des Linksaußen einer Fußballelf mit seinen fein durchdachten strategischen Vorlagen bewundern. Es ist besser, wenn man Seeckt nur zubilligt, daß Gorlice ihm neben seinem Oberbefehlshaber Weltruhm einbrachte, daß aber auch hier das geniale Können sich bei ihm in den Dingen nur andeutete, ohne infolge der Begrenztheit der Mittel sich voll auswirken zu können.

Immerhin hat es auch im Herbst 1915 Menschen gegeben, die den Beweis als erbracht sahen, daß Seeckt eine Persönlichkeit sei, die zu noch höheren Dingen berufen wäre. Es gab recht urteilsfähige Menschen, die sich Seeckt vielleicht sogar als Nachfolger Falkenhayns wünschten. Es mutet fast wie eine Gunst des Schicksals an, daß es nicht so kam. So blieb es in den Sternen beschlossen, daß Seeckt mit dem Zusammenbruch nicht verantwortlich belastet wurde; vielleicht weil ihn das Schicksal für anderes aufsparen wollte.

Überblickt man die vielen kleinen Einzelzüge, die die Sommerzeit von 1915 zutage brachte, so muß es nachdenklich stimmen, daß der Mensch Seeckt fast noch deutlichere Form erhält, als der Soldat. Jedoch muß das im tieferen geschichtlichen Sinne natürlich erscheinen. Geschichte, auch Kriegsgeschichte, ist nicht lediglich eine Folge von Ereignissen, sondern eine Aneinanderreihung von Handlungen lebendiger Menschen. In der Schilderung der Geschichte der Kriege hat oft die rein berichtende Art überwogen. Seeckts ganze Persönlichkeit eignet sich sehr wenig zum Objekt einer nur referierenden historischen Darstellung. Er wird niemals zur absolut historischen Figur. Er bleibt dafür zu sehr Mensch.

Rein äußerlich war der Weg Seeckts steil bergauf gegangen. Die Bahn weltgeschichtlichen Ruhms ist beschritten und noch nicht einmal der Gipfel erreicht. Und dennoch mutet in der nachträglichen Rückschau der Abschluß dieser galizischen Offensive wie ein tiefer Einschnitt im Leben Seeckts an. Ja, es ist fast so, als sei es beinahe ein Wendepunkt. Jedenfalls hat Seeckt diese Sommermonate ganz unwillkürlich als einen Höhepunkt seines Lebens empfunden. Er hat wohl später Größeres geleistet; vielleicht oder sogar sicher. Aber das Strahlende dieses Siegeslaufes ist für ihn so nicht wiedergekehrt.


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