Robert Falcon Scott
Letzte Fahrt - Auszug
Robert Falcon Scott

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11. Stille Winterarbeit

Montag, 24. April 1911. Wir haben einen Nachtwächterposten eingerichtet hauptsächlich zur Beobachtung des Südlichts. Der Beobachter hat sich alle Stunden oder öfter draußen umzusehen. Ich übernahm gestern Abend als erster dies Amt. Die langen Nachtstunden geben willkommene Zeit zum Aufarbeiten einer Menge kleiner Dinge, und die Hütte bleibt über Nacht ganz warm, obgleich das Feuer ausgelöscht ist.

Simpson ließ heute probeweise einen Ballon aufsteigen. Der Ballon ist aus Seide und faßt einen Kubikmeter Wasserstoffgas. Ein Instrument, das nur 64 Gramm wiegt und Temperatur und Luftdruck registriert, hängt unter einer kleinen Flagge an einem Seidenfaden 3 bis 5 Meter unterhalb des Ballons. Am untern Teil des Instruments ist wieder ein Seidenfaden befestigt, der beim Aufsteigen des Ballons von kegelförmigen Röllchen abrollt. Der obere Seidenfaden zwischen Instrument und Ballon soll bei eintretender Spannung reißen und ersteres herabfallen; man kann dann dem Rollenfaden nachgehen und findet das Instrument mit seiner Registrierung wieder. Heute probierten wir das, aber statt des oberen riß der untere Faden. Nachmittags wurde es mit einem doppelten Faden versucht, und dieser bewährte sich gut.

25. April. Die Temperatur ist allmählich auf 25° gefallen; infolgedessen ist die Meerenge endlich zugefroren, und die Hüttenspitzenbesatzung dürfte schon bald bei uns eintreffen können.

Simpson und Bowers ließen heute einen Ballon mit doppeltem Faden steigen; der Faden rollte etwa 5000 Meter lang ab, dann sahen wir das Instrument niederfallen. Als die beiden aber ihren Schatz holen wollten, fanden sie im Süden der Inaccessible-Insel den Faden zerrissen, und es war zu dunkel, um weiter zu suchen.

Ponting hat farbige Photographien angefertigt, aber das Ergebnis ist wenig befriedigend. Wilson ist mit Pinsel und Palette tätig. Atkinson stellt seine Sterilisatoren und Keimapparate auf. Wright müht sich mit den elektrischen Instrumenten ab. Evans betreibt fleißig die Vermessung des Vorgebirges und der Umgegend. Oates richtet den Stall ein und macht die Stände größer. Cherry-Garrard baut eine Kammer aus Steinen zum Ausbalgen, Ausstopfen und Aufbewahren erlegter Tiere. Debenham und Taylor benutzen das letzte Licht, um das Gelände der Halbinsel zu untersuchen. So ist jeder außerordentlich tätig.

27. April. Ich habe für den Winter eine Reihe Vorträge organisiert; die Kameraden sind sehr eifrig dabei, und auch ich denke es mir außerordentlich interessant, die verschiedenartigsten Fragen mit Sachverständigen zu besprechen.

29. April. Wilson begleitete mich nach der Inaccessible-Insel. Als wir ihren Gipfel erreichten, zog ein Sturm aus Süden herauf; er hatte das Bluff schon verwischt und verhüllte nun die Schwarze Insel, dann die Hüttenspitze und schließlich den Burgfelsen. Als wir nach Hause gingen, war er über uns, toste gegen die hohen Felsen und fegte den Schnee vor sich her. Am Abend war der Himmel wieder klar, aber ich fürchte sehr, das Eis in der Meerenge ist fortgetrieben! Nach Westen hin sieht es verdächtig schwarz aus!

Sonntag, 30. April. Wie ich gestern gefürchtet hatte: ein breiter Gürtel Meereis ist seewärts gedrängt, von der Hüttenspitze bis zur Schildkröteninsel muß in der vergangenen Nacht offenes Wasser gewesen sein. Also müssen unsere Kameraden auf der Hüttenspitze noch eine Weile ausharrren. Was soll aber werden, wenn jedes Unwetter die See eisfrei macht?

2. Mai. Am Abend eröffnete Wilson die Reihe der Vorträge mit einer Abhandlung über »Antarktische Vögel«. – Heute spielten wir zum erstenmal wieder Fußball; dabei erhob sich ein lästiger Südwind, der meiner Partei dreimal zum Gewinn verhalf. Am Nachmittag sah ich an der Außenseite der Insel eine unheilbedeutende Rinne. Ich fürchte, sie geht quer durch unsere Ponystraße zur Hüttenspitze!

3. Mai. Heute abend hielt uns Simpson seinen ersten meteorologischen Vortrag – das Thema war »Südliche Kronen, Mond- und Sonnenhöfe, Regenbogen und Südlichter«. Er besitzt eine merkwürdige Darstellungskraft und hat mich binnen einer Stunde mehr über diese Erscheinungen gelehrt, als alles frühere eifrige Studium.

5. Mai. Seit mehreren Tagen ist es windstill. Die Temperatur war letzte Nacht nur 24°. Was mag diese verhältnismäßig große Wärme bedeuten? Wenn ich nur die Leute von der Hüttenspitze hier hätte, besonders die beiden Ponys! Zwar werden sie bei so ruhigem Wetter Robben auf dem Eis finden und schwerlich in Verlegenheit geraten. –

Wilson bereichert seine Mappe mit entzückenden Skizzen, während er in der Zwischenzeit die Lücken seiner zoologischen Arbeit aus den Tagen der »Discovery« ausfüllt. Simpson ist unermüdlich bei seinen selbstregistrierenden Instrumenten und führt die meteorologischen und magnetischen Beobachtungen mit einer Sorgfalt aus, wie das noch nie auf Polarexpeditionen geschah. Wright ist bestrebt, die Eisprobleme dieses wunderbaren Gebiets zu ergründen. Bowers' praktischer Genialität verdanken wir vor allem, daß die Arbeit auf unserer Station so glatt vor sich geht. Er ist eine ungewöhnlich glückliche Mischung von tätigem Geist und tätigem Körper. So sehen wir die Ballons unter seiner Leitung aufsteigen, und sobald das Instrument gefallen ist, läuft er über das Eisfeld der Spur des Seidenfadens nach. Ist das besorgt, so eilt er, seinem Pony Bewegung zu verschaffen. Dann muß er mit den Hunden gehen, weil gerade niemand anders da ist. Eine Weile später ist er am Thermometerstand beschäftigt. Freie Luft ist sein Element. Für alle Fragen der Beköstigung und Kleidung auf Schlittenreisen ist er eine Autorität geworden. Atkinson lebt mit seinen Parasiten wie in einer andern Welt. Alles, was die Fischfalle zu Tage fördert, ist sein Arbeitsfeld. Immer wieder holt er mich, um mir irgend ein Urtierchen zu zeigen, das er unter seinem Mikroskop hat. Cherry-Garrard ist auch ein richtiger Freiluftmensch und ein bescheiden stiller Arbeiter. Er ist Herausgeber unserer Polarzeitung; im Freien beschäftigen ihn Versuche, steinerne Hütten zu bauen und Specköfen zu konstruieren, Experimente, die für uns alle lehrreich sind, denn jeder kann, von der Heimatstation abgeschnitten, in eine schwierige Lage geraten, und es ist von großem Wert, zu wissen, wie sich die spärlichen Hilfsquellen der Antarktis im Notfall ausnutzen lassen. Oates' ganzes Herz gehört den Ponys, und ihre Pflege geht ihm über alles, während sein Diener, der tüchtige kleine Anton, in den Ställen tätig ist. Deckoffizier Evans schließlich und Crean bessern Schlittenbeutel aus, beziehen Filzstiefel und nähen Reiseanzüge. So gibt es hier tatsächlich keinen, der müßig ginge.

Sonntag, 7. Mai. Das Tageslicht ist jetzt sehr kurz. Gestern stieg ein Ballon auf und erreichte wohl 4000 bis 5000 Meter Höhe, ehe das Instrument sich ablöste; Atkinson sah es draußen in der Bucht niederfallen – es wurde geholt und gibt uns zum erstenmal wichtige Auskunft über die Temperatur der oberen Luftschichten.

Atkinsons und Creans Fischfalle enthielt gestern über 40 Fische, und wir aßen heute Fische zum Frühstück; aber weit ergiebiger war der Fang für Atkinsons Mikroskop: er hat eine ganze Anzahl neuer Parasiten entdeckt. – Clissold überrascht uns noch immer mit neuen Gerichten; heute Abend hatten wir Robbenfleisch in Gelee – es war ausgezeichnet!

8. und 9. Mai. Montag abend trug ich meine Pläne für die Schlittenfahrt zum Pol in großen Umrissen vor. Die Ponys und menschliche Zugkraft werden uns am besten ans Ziel bringen. Mit dieser Ansicht schienen alle einverstanden; sie mißtrauen offenbar den Kunden, soweit es sich um Überwindung der Gletscher und der Höhen handelt.

10. Mai. Die Hüttenspitzenabteilung kommt immer noch nicht! Das Eis ist nur 22 Zentimeter dick, aber sehr fest. Meares will wohl erst 30 Zentimeter Dicke abwarten, oder er fürchtet, daß das Eis für die Ponys noch zu glatt ist. Wenn er nur endlich käme! –

13. Mai. Nach dem Tee stürzte Atkinson mit der frohen Botschaft ins Haus, die Hundegespanne von der Hüttenspitze seien da! Sofort waren wir draußen auf dem Eis ihnen entgegen. Die Hunde sahen erstaunlich gut aus. Die beiden Ponys waren auf dem Marsch nur wenig zurückgeblieben. Alle 10 Ponys jetzt in unsern warmen Ställen untergebracht zu wissen, ist mir die größte Beruhigung. Von ihnen wird ja der Erfolg meiner Expedition abhängen.

Merkwürdig, daß keiner der Zurückgekehrten unsere üppige Kost sonderlich zu würdigen scheint. Reichlich Robbenfleisch, Mehl und Fett, dazu Tee, Kakao und Zucker, das sind die einzigen wirklichen Erfordernisse, um sich hier körperlich wohl zu fühlen.

15. Mai. Wilson hielt einen interessanten Vortrag über die Pinguine. Er erklärte die Anordnung der Federn, die Eigenart der Flügelmuskeln und des Mittelfußgelenks. Wahrscheinlich stammen die Tiere aus einer sehr frühen Entwicklungsstufe der Vögel – direkt von der Vogeleidechse der Jurazeit. Versteinerungen riesenhafter Pinguine aus der Eozän- und Miozänzeit zeigen, daß ihre Art sich seitdem außerordentlich wenig entwickelt hat. Er sprach dann von den verschiedenen Arten, ihren Nistgewohnheiten, ihren Eiern usw. Daran schloß sich ein kurzer Bericht über die Lebensgewohnheiten der Kaiser- und Adeliepinguine und der Wunsch nach genauerem Studium des Pinguinembryos, damit neues Licht auf die Entwickelung der Art, Verlust der Zähne usw. falle. Pontings Bemerkung, daß ausgewachsene Adeliepinguine ihre Jungen schwimmen lehrten, blieb ungeklärt. Die einen sagen, daß die alten Vögel die jungen ins Wasser stoßen; dagegen stand die Behauptung, daß sie die Jungen auf dem Brütplatz sitzen lassen, der junge Adeliepinguin also von selbst schwimmen lernen müsse, ebenso wie der Seebär.

17. Mai. Mitten in der Nacht hörte ich einen Hund bellen: einer der weißen sibirischen Hunde mußte ins Krankenhaus gebracht werden. Heute morgen fand man ihn tot. Die Sektion ergab nichts. Auf die Hundegespanne wird wenig Verlaß sein!

Sonntag, 21. Mai. Heute nacht hatten wir wieder ein herrliches Südlicht. Einmal war der Himmel bis zum Zenit hinauf mit Lichtbogen, Bändern und Vorhängen bedeckt, die sich in einem fort rasch hin und her bewegten, und glänzende Lichtwellen huschten von einem Ende zum andern hinüber. Das Südlicht hat eine blaßgrüne, geisterhafte Farbe, aber jeder Lichtwelle geht ein rotes Aufflammen vorher. Übrigens kann Ponting das Südlicht nicht photographieren. Dem norwegischen Professor Störmer ist es gelungen; seine Methode scheint von der Stärke des Objektivs und der Empfindlichkeit der Platte abzuhängen. Aber Ponting behauptet, in beiden überlegen zu sein, erhält aber, auch bei längerem Exponieren, keine Resultate. Auch die Sterne scheinen einen Widerwillen gegen seine Platten zu hegen, sogar bei 5 Sekunden langem Exponieren werden sie kurze Lichtlinien. Störmers Sterne sind Punkte, daher muß er sehr kurz exponiert haben; doch finden sich in seinen Bildern Einzelheiten, die unmöglich bei kurzem Exponieren erlangt werden können. Sehr sonderbar!

26. Mai. Heute nachmittag machte ich auf Schneeschuhen einen kurzen Lauf über das Eis. Die Oberfläche ist seit dem letzten Wind, der Schnee gebracht hat, ganz gut. Jetzt können wir ordentliche Schlittenkurse einrichten, und die einzelnen Abteilungen können sich im Ziehen der Schlitten auf Schneeschuhen üben.

29. Mai. Wieder ein schöner, windstiller Tag. Ich ging mit Wilson und Bowers zum Thermometer vor der Inaccessible-Insel. Unterwegs schlug mein Begleithund plötzlich an und verschwand im Nebel: er hatte einen jungen Seeleoparden gestellt. Der lange, geschmeidige Körper dieser Robbe ist, mit den dicken, gemeinen Seehunden verglichen, fast schön zu nennen. Das Tier drehte sich flink von einer Seite zur andern, als wir es mit einem Schlag auf die Schnauze zu betäuben suchten, und riß dabei seine Kinnbacken weit auseinander, aber merkwürdigerweise kam kein Laut hervor, nicht einmal ein Zischen. Später holten wir einen Schlitten, um den Schatz in Sicherheit zu bringen, nachdem er mit Blitzlicht photographiert war.

Sonntag, 4. Juni. Der Sonntagnachmittag ist für alle Hüttenbewohner die Zeit zu »weiten Spaziergängen«. Ich lief auf Schneeschuhen über das Eisfeld und hatte infolge der letzten Stürme bis zur Inaccessible-Insel die denkbar beste Oberfläche. Hier und ohne Zweifel an vielen Stellen längs des Ufers ist also die erste Juniwoche das Datum, an dem die nassen, harten Salzkristalle vom Schnee zugedeckt werden und Holzkufen über die Oberfläche gleiten können.

Ponting photographierte Eisberge mit Blitzlicht. Trotzdem die Insel zwischen mir und ihm lag, sah ich das Magnesiumlicht wiederholt aufflammen; es erhellte den Himmel wie wirkliche Blitze und auch Gegenstände, die sehr weit von der Kamera entfernt waren. Für Signalzwecke bietet dieses Licht große Möglichkeiten.

6. Juni. Heute ist mein Geburtstag; fast hätte ich ihn vergessen, nicht so meine Kameraden. Beim zweiten Frühstück erschien ein mächtiger Geburtstagskuchen, und nachher entdeckte ich, daß große Vorbereitungen zu einem besonders festlichen Mittagessen getroffen wurden. Als die Stunde kam, setzten wir uns an einen üppig gedeckten Tisch, um den herum unsere Schlittenbanner aufgehängt waren. Clissolds treffliche Robbensuppe, Hammelbraten mit rotem Johannisbeergelee, Obstsalat, Spargel und Schokolade – das war unser Menü. Als Getränk hatten wir Apfelwein, etwas Sherry und einen Likör.

Nach diesem luxuriösen Mahl war jeder festlich gestimmt und zu allerhand Gesprächen angeregt. Während ich dies schreibe, debattiert in der Dunkelkammer eine Gruppe lebhaft über politischen Fortschritt; eine andere am Eßtisch ereifert sich über den Ursprung der Materie, und eine dritte erörtert militärische Probleme. Was von diesen Unterhaltungen bruchstückweise an mein Ohr klingt, fügt sich oft ganz lächerlich aneinander. Jedenfalls macht der Streit den Beteiligten sehr viel Spaß. Sie sind ja alle noch so jung und gutmütig; in ihren Wortgefechten zeigt sich weder Schärfe noch Ärger, alle enden mit Lachen.

13. Juni. Die Oberfläche des Eisfeldes eignet sich großartig zum Schneeschuhlaufen – ich machte heute zwei Ausflüge nach der Südbucht, in langem Bogen um die Inaccessible-Insel herum. Bei solchem Wetter ist der kalte Glanz der Landschaft unbeschreiblich schön, von dem tiefen Purpur des Sternenhimmels bis zu den leuchtenden Eisbergen und dem Funkeln der Eiskristalle unter meinen Füßen. Über der Südschulter des Berges zeigten sich glänzende Flecke eines Südlichts, und ich sah ein stark leuchtendes Meteor, das quer über den Himmel nordwärts schoß. –

Als ich zurückkehrte, fand ich Debenham und Gran, die von Kap Armitage wiedergekommen waren. Bei ihrer Ankunft an der Hüttenspitze hatten sie den kleinen Hund »Mukaka« auf der Schwelle liegend gefunden, jämmerlich schwach und mager, aber noch energisch genug, um sie anzubellen. Diese Hündin war, als wir im Januar Vorräte an Land schafften, überfahren und eine Strecke weit unter den Schlittenkufen mitgeschleift worden. Seitdem war sie nie viel wert gewesen. Auf der Hüttenspitze sah sie erbärmlich aus, und wir gaben sie ziemlich auf. Als die Hüttenspitzenabteilung nach Kap Evans zurückkehrte, ließ sie Mukaka unangebunden neben dem Schlitten herlaufen; unterwegs wurde das Tier vermißt. Niemand dachte daran, es je wieder zu sehen. Heute kamen sie mit ihm an! Also hat das arme, lahme Geschöpf einen ganzen Monat lang sich selbst die Mittel zum Leben verschafft! Als es gefunden wurde, war sein Mund mit Blut beschmiert, es hatte also einen Seehund gefangen; aber wie es ihn hat totbeißen können, übersteigt meine Begriffe!


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