Robert Falcon Scott
Letzte Fahrt - Auszug
Robert Falcon Scott

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4. Die Landung an Kap Evans

Während wir am Ufer von Kap Evans waren, begann Campbell mit der Ausschiffung. Schon standen 2 Motorschlitten blitzsauber und tadellos auf dem Eis. Dann kamen die Ponys an die Reihe; manche ließen sich nur durch Zureden oder die starken Arme der Matrosen in die Gestelle hineinbringen, in denen sie vom Schiff herunter bugsiert wurden, und begannen trotz ihrer Schwäche sogar zu bocken. Sobald sie Schnee unter den Füßen spürten, schienen sie neu aufzuleben. Auch ich war froh, als ich sie alle 17 auf dem Eisfeld angepflöckt sah.

Die Hunde gingen mit leichten Lasten gleich ins Geschirr, zeigten aber schon am ersten Tag eine ärgerliche Zuchtlosigkeit. Schuld daran waren die maßlos dummen Pinguine, die in Scharen auf unser Eisfeld losschossen. Mit dem Kopf in der Luft hin und her stoßend, watschelten sie heran, voll verzehrender Neugier und stumpfsinniger Gleichgültigkeit gegen die heulenden Hunde, die an ihren Leinen zerrten und zu ihnen hinstrebten.

»Hallo!« schienen die Pinguine zu sagen, »das ist toll – was wollt ihr lächerlichen Geschöpfe bei uns? Laßt euch mal anschaun!«

Dann kamen sie näher, und wenn die Hunde, soweit die Leinen nachgaben, auf sie zusprangen, sträubten sie das Gefieder, aber nicht aus Furcht, sondern nur aus Ärger, und in einer Haltung, als ob sie einem unmanierlichen Fremden den Standpunkt klar machen wollten, schienen sie zu schreien: »Oho! Ihr seid ja eine saubere Sorte! Da seid ihr aber an die Unrechten gekommen! Wir lassen uns nicht verblüffen!«

Noch ein paar Schritte näher – ein Sprung – ein Aufschrei – und ein greulicher roter Fleck auf dem Schnee ist das Ende. Aber nichts kann die dummen Vögel abschrecken; scheucht man sie fort, so ducken sie sich und weichen seitwärts aus, als wollten sie sagen: »Was fällt dir ein, alberner Tropf? Laß uns in Frieden!«

Sobald ein Opfer am Boden liegt, sammeln sich die Skuamöwen, die auf die Hunde keinen aufreizenden Eindruck machen, und wenn die blutige Mahlzeit beendet ist, stürzen sie sich schreiend und zankend auf die Reste. So ging es den ganzen Nachmittag, und Meares war außer sich über seine Schützlinge. Jetzt, am Abend, liegen sie, an langer Kette angebunden, zusammengerollt im Ufersand und scheinen sich recht wohl zu fühlen.

Der ersten Fahrt der Motorschlitten sehen wir natürlich alle mit großer Spannung entgegen. Ohne kleine Unglücksfälle ging es nicht ab. Aber sie haben schon tüchtige Lasten ans Ufer befördert, und ich verspreche mir von ihnen außerordentliches. –

Der Baugrund für die Hütte ist bereits geebnet; das Bauholz ist am Ufer, und die Bauabteilung haust dort im großen grünen Zelt mit Lebensmitteln für 8 Tage. Während ich dies schreibe, höre ich das laute Schnarchen der Männer, die sich vom anstrengenden Tagewerk für morgen ausruhen, und auch mir fallen die Augen zu, denn ich habe seit 48 Stunden kaum geschlafen – heute kann ich es, und fröhlich mag ich träumen.

5. Jan. 1911. Als ich heute ziemlich spät auf der Bildfläche erschien, wurde ich Zeuge eines aufregenden Vorgangs. Etwa 5 oder 6 Schwertwale streiften in der Nähe des Schiffes umher, tauchten hastig auf und nieder, streckten die Mäuler aus dem Wasser hervor und kamen bis dicht ans Eisfeld heran. Ich hatte zwar allerhand Unheimliches von diesen Tieren gehört, ihnen aber nie etwas sonderlich Schlimmes zugetraut. Unmittelbar am Rand des Eisfeldes lag das Hecktau des Schiffes, und an diesem Drahtseil waren die beiden Eskimohunde festgebunden. Ich verfiel gar nicht darauf, daß sie etwa die Aufregung der Schwertwale verursacht haben könnten, und rief nur eilig nach Ponting, der mit seiner Kamera herbeirannte und bereit stand, die Wale beim nächsten Auftauchen auf die Platte zu bringen. Im nächsten Augenblick wölbte sich das Eisfeld unter ihm und den Hunden und barst in Stücke! Man hörte deutlich das dröhnende Geräusch, als die Walfische mit dem Rücken gegen das Eis prallten. Dann tauchten sie in den Spalten, die sie gebrochen hatten, hervor und streckten ihre häßlichen Riesenköpfe zwei, drei Meter über das Wasser, wobei ihre braungelbe Kopfzeichnung, ihre kleinen, funkelnden Augen und ihr schreckliches Gebiß deutlich zu sehen waren. Die Bestien sahen sich offenbar mit größter Gier darnach um, was aus Ponting und den Hunden geworden sei.

Ponting war glücklicherweise auf den Füßen geblieben und hatte sich mit ein paar Sprüngen auf festes Eis gerettet; auch von den Hunden war keiner ins Wasser gefallen, da das Eis zufällig um sie herum und zwischen ihnen geborsten war, aber sie winselten nicht schlecht, als der Kopf eines Schwertwals keine 2 Meter vor ihnen auftauchte. Ob dann den Räubern die Mahlzeit zu unbedeutend vorkam, weil ihnen Ponting dabei fehlte, oder was sonst der Anlaß war: sie verschwanden nach andern Jagdgründen hin. Daß die Wale jeden, der etwa das Unglück hatte, ins Wasser zu stürzen, wegschnappen würden, darauf war ich natürlich gefaßt, aber daß sie mit so überlegter List vorgehen und Eis von fast 1 Meter Dicke zertrümmern können, war uns etwas völlig Neues.

Die naturwissenschaftlichen Handbücher haben also Recht, wenn sie vom Schwertwal oder Mörder melden, daß er an Kraft, Wildheit, Klugheit und Gefräßigkeit alle andern Walarten übertreffe. Die ausgewachsenen Männchen sind durchschnittlich 6, die Weibchen 4 ½ Meter lang. Ihre Zähne – 11 oder 12 auf jeder Seite – messen 8 Zentimeter und stehen 6 Zentimeter über dem Kinnbacken; sie sind überaus stark und scharf, und die kegelförmigen Spitzen greifen ineinander. Man hat den Schwertwal beobachtet, wie er mit einem Seehund zwischen den Kinnbacken über der Oberfläche auftauchte, sein Opfer schüttelte, mit Leichtigkeit zermalmte und mit Behagen verschluckte. Im Magen eines dieser Raubtiere fand man die Überreste von 13 Delphinen und 14 Robben! 3 oder 4 Schwertwale zusammen greifen die größten Bartenwale an, die, vor Schreck gelähmt, oft gar keinen Versuch machen zu entrinnen; ja, sie verbinden sich zu Genossenschaften, um ganze Herden Wale in eine Bucht zu jagen und in Stücke zu reißen. Jedenfalls wissen wir jetzt, wessen wir uns von ihnen zu versehen haben.

Im übrigen ging die Arbeit trefflich von statten. Der Bau der Hütte ist fast beendet; sie steht etwa 3 Meter über dem Wasser, ist also vor Spritzwellen geschützt. Petroleum, Haferschrot für die Ponys und tausend andere Dinge sind schon am Lande, und morgen sollen die Ponys mit der Arbeit beginnen. Die Motorschlitten fuhren heute unablässig hin und her; Ingenieur Day und Kamerad Nelson sind voll Zuversicht. So schwere Lasten, wie ich dachte, können sie aber doch nicht bewältigen.

6. Jan. Ich ging heute zu Fuß über unsere Halbinsel, um ihre Südseite auszukundschaften. Hunderte von Skuamöwen nisten dort und griffen mich, wenn ich vorüberging, an: unter wildem Geschrei flogen sie im Kreis umher und sausten dann aus einer bestimmten Höhe mit großem Ungestüm herunter, bis etwa ein paar Handbreit von meinem Kopf; dann schwangen sie sich wieder empor; die kecksten schlugen mich sogar mit den Flügeln. Im Anfang ist das eine etwas aufregende Sache; aber weiter geht der Angriff der Tiere nie. Mit rührender Geduld gelang es heute Ponting, aus nächster Nähe mehrere wunderhübsche kinematographische Aufnahmen von den Bewegungen dieser Raubmöwe beim Füttern und Warten ihrer Kleinen zu machen.

7. Jan. Mit der Zeit werden die Ponys wohl Leben in die Bude bringen. Schon jetzt gefallen sie sich in allerhand Kapriolen; der Schlitten hinter ihnen und die Glätte des Eises machen sie nervös und störrisch. Ich machte heute 7 Fuhren und kam mit einer Beule und etlichen Schrammen davon. Der Pony Debenhams riß mit seinem Schlitten aus, aber gerade in die Station hinein, wo Rittmeister Oates ihn gleich wieder zu einer neuen Fuhre mitnahm. Mehrere andere rannten, als sie angeschirrt werden sollten, den Hügel hinauf, doch ging noch alles ohne ernsten Unfall ab. Auch ein Hundegespann brannte durch, und ein Hund, der sich überschlug, wurde 1 Kilometer weit geschleift; es scheint ihm aber nicht weiter geschadet zu haben.

Auch sonst haben sich allerhand kleine Plagen eingefunden. Die Sonne strahlte heute blendender als je, infolgedessen haben sich mehrere Fälle von Schneeblindheit ereignet, und an aufgesprungenen Gesichtern und Lippen, Blasen an den Füßen, Schnittwunden und Abschürfungen ist kein Mangel. Aber derlei gehört schließlich zum »Geschäft«.

Nur eine Schattenseite hat unsere augenblickliche Lage. Das Eis in den Spalten, auch hier und dort auf den Feldern selbst, wird schon dünn und schlammig; die Ponys treten oft mit den Füßen durch. Eile scheint geboten, und der morgige Sonntag kann kein Ruhetag sein. Ponting hatte schon ein sehr bedenkliches Erlebnis. Immer darauf erpicht, von eigenartigen Eisbildungen und überraschenden Wasserspiegelungen künstlerische Bilder aufzunehmen, war er, seine Apparate auf dem Schlitten hinter sich herziehend, einem gestrandeten Eisberg zugewandert. Gerade war seine Schneebrille angelaufen, als plötzlich das Eis unter ihm nachgab. Instinktiv eilt er vorwärts, bei jedem Schritt glaubt er durchzubrechen, der Schlitten schleift schon durch Wasser! Ein paar Minuten dauerte diese lebensgefährliche Situation – dann war er wieder auf fester Oberfläche. Wir haben uns diesem morsch werdenden Eis vielleicht doch etwas unvorsichtig mit unserer ganzen Habe anvertraut.

Sonntag, 8. Jan. Das Unglück ist schon geschehen: wir sind vom Schiff abgeschnitten, und ein Motorschlitten liegt auf dem Grund des Meeres! Ich gab dummerweise heute früh die Erlaubnis, den dritten Motor auszupacken. Campbell ließ zur Vorsicht ein Tau daran befestigen, an dem die Matrosen zogen. Plötzlich brach einer von diesen bis an die Schulter ein, und während wir ihn herauszogen, gab das Eis unter dem Schlitten nach, versank plötzlich und mit ihm der Motor! Vom Gewicht des schweren Schlittens gestrafft, schnitt nun das Tau immer schneller durch die Eisdecke und zwang einen der Matrosen nach dem andern loszulassen. Eine halbe Minute später war nichts mehr zu sehen als ein großes Loch! Wir können noch von Glück sagen, daß den Leuten nichts zugestoßen ist, aber der Verlust des Schlittens ist ein harter Schlag für mich! Gleich hinterher folgte die Nachricht, das Eis nahe der Unfallstelle werde mit jeder Stunde unsicherer; seitdem sind wir vom Schiff so gut wie abgeschnitten, und ich verlebe meine erste Nacht im Zelt am Lande.

Glücklicherweise fand ich eine Stelle weiter nördlich, wo Schlittenfahren noch möglich ist und morgen das Schiff anlegen soll. Ich ließ den neuen Weg mit Petroleumkannen bezeichnen.

9. Jan. Ich steckte die Nase erst um ¾ 7 aus dem Zelt, und das erste, was ich sah, war das Schiff, das an der gestern bezeichneten Stelle anlegte. Der neue Weg erwies sich als vortrefflich, und den ganzen Tag sind die Schlitten hin- und hergefahren. Evans untersuchte regelmäßig die Fahrstraße und ließ Risse mit Schnee und Brettern zudecken. Bowers beaufsichtigte alles, was an Land kam; er ist ein großartiger Kerl und kennt jede Kiste auswendig. Deckoffizier Evans überwacht das Bepacken der Schlitten. So war jeder auf seinem Posten. Aber ganz ohne Unfall ging es doch nicht ab! Einer der besten Hunde hustete nach einer Fuhre – 2 Minuten später war er tot. Wir können es uns durchaus nicht leisten, auch nur eins der Tiere einzubüßen.

10. Jan. Heute abend kann ich sagen: wir sind gelandet! Jetzt kann es kommen, wie es will: alles Notwendige ist am Ufer. Auch der Bau der Hütte schreitet rüstig fort: die Seitenwände haben doppelte, das Dach dreifache Bretterverschalung und sind mit Seegras isoliert. Der erste Fußboden ist schon gelegt; darüber kommt Seegras, dann eine Filzlage, eine zweite Verdielung und schließlich Linoleum. Vulkanischer Sand wird ringsum aufgehäuft, so daß unmöglich Zugluft in die Hütte dringen oder Wärme entweichen kann; an der West- und Südseite sind Ballen mit Preßfutter hoch aufgestapelt, und an der Nordseite, zwischen Hüttenwand und einer Mauer aus Futterballen, soll ein Winterstall für die Ponys gebaut werden.

Heute waren alle Ponys, außer zwei unbändigen, unterwegs, und bis zum Abend ereignete sich nichts Besonderes. Dann aber schlug Oates vor, auch mit den 2 unbändigen Tieren einen Versuch zu machen, und nun ging die Hetzjagd los. Der eine Pony riß aus, und als er merkte, daß der Schlitten ihm überall hin folgte, galoppierte er in großen Bogen über Hügel und Blöcke, wobei er fast Ponting und seine Kamera umrannte; schließlich stürmte er ganz erschöpft wieder bergab ins Lager hinein. Bei der nächsten Fuhre erschrak der versuchsweise hinter meinem Schlitten angebundene Pony, zerbiß und zerriß die Halfter und suchte das Weite. Der Schlitten hatte dadurch einen solchen Ruck bekommen, daß nun auch der sonst ganz gefügige Pony, der ihn zog, zu schnauben begann, derart hinten ausschlug, daß ich ihn loslassen mußte, und Evans über den Haufen rannte; schließlich wieder eingefangen und zu einer nochmaligen Fuhre gezwungen, warf er seine Last ab und kam mit dem Schlitten allein ins Lager. Statt der 2 haben wir nun 3 störrische Tiere, und wer sichert uns davor, daß nicht auch die übrigen gerade in gefährlichen Augenblicken außer Rand und Band geraten? Diese unerwarteten Schwierigkeiten haben uns alle sehr verstimmt.

12. Jan. Gestern machte ein Orkan alle Arbeit draußen unmöglich; um so eifriger wurde in der Hütte geschafft. Außer dem Linoleumfußboden und etlichen Kleinigkeiten ist alles fertig. In einer festen Schneewehe hinter unserm Lager stießen wir beim Graben auf Eis und haben hier unsere Speisekammer ausgehauen, einen 3 Meter langen Tunnel.

Ich kutschierte heute meine Hunde zum erstenmal auf sibirische Art. Schwer war es nicht, aber ich vergaß in kritischen Augenblicken stets die russischen Ausdrücke; wir werden auf der Depotreise noch viel lernen müssen. Am Nachmittag kam vom Schiff die Meldung, daß nur noch Hammelfleisch, Bücher, Bilder und das Pianola abzuholen seien. Die Hütte ist soweit fertig, daß wir einziehen könnten; doch soll das erst in 8 Tagen geschehen; unterdes kann der Zimmermann mit Ruhe arbeiten, die Dunkelkammer, Simpsons meteorologische Ecke und die anderen Nebenräume herrichten. Von morgen ab müssen wir Ballast aufs Schiff schaffen, Gesteinschutt, den wir ja hier reichlich haben, und in 10 Tagen soll die Depotreise beginnen. Ich treffe morgen schon allerhand Anordnungen dafür und bestimme die zur Führung der Hunde und Ponys nötigen Leute. Ich habe auch schon meine Wünsche niedergeschrieben wegen des Tierfutters, das uns die »Terra Nova« im nächsten Jahr mitbringen soll. Bis dahin wird sich entschieden haben, ob ich mein Ziel erreiche – oder nicht.


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