Robert Falcon Scott
Letzte Fahrt - Auszug
Robert Falcon Scott

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8. Eine furchtbare Nacht

Donnerstag, 2. März 1911. Wenn es so weitergeht, wie in den letzten 48 Stunden, ist meine Expedition zugrunde gerichtet.

Oates, Gran und ich zogen gestern morgen unsern Schlitten zum Ponyfutterdepot, das nicht ganz 1 Kilometer vom Rand der Barriere entfernt ist. Der Himmel war völlig schwarz, und wir tappten in der Finsternis mühsam einher. Als wir uns dem Depot näherten, wurden nach und nach riesige Felder mit Eistrümmern sichtbar: das Meer war voller Eisstücke, die vom Rand der Barriere abgebrochen waren!

Eine furchtbare Besorgnis befiel mich: Wo waren die vorausgesandten Ponys und die Hundegespanne nebst ihren Begleitern?

Wir wendeten sofort nach rechts, am Rand der Barriere entlang. Plötzlich öffnete sich unmittelbar vor uns im Eis eine Spalte. Wir eilten darüber weg und mäßigten unsern Schritt erst, als wir 500 Meter weiter waren. Aber immer neue Spalten bildeten sich, und so ging es im Laufschritt weiter, bis wir zwischen Sicherheitslager und Burgfelsen waren.

Zuerst mußte Evans gewarnt werden, der mit seiner Abteilung meiner Spur folgen sollte. Ich schrieb ein paar Warnungszeilen an ihn, und Gran brachte sie zum Ponyfutterdepot zurück, während Oates und ich trostlos unsere Lage überlegten. Soviel war gewiß: Wenn die Hundegespanne oder Bowers mit den Ponys schon an der Hüttenspitze waren, dann hätten sie sofort einen Boten geschickt, um mich zu warnen; dieser hätte längst bei uns sein müssen – beide Abteilungen waren also noch auf dem Wege!

Eine halbe Stunde verging in ratloser Überlegung. Da erschienen plötzlich in der Richtung der Prahmspitze zwei dunkle Flecke. Sie kamen näher und näher – ich eilte ihnen entgegen – es waren Wilson und Meares. Sie waren sehr erstaunt und erfreut, mich zu sehen, denn sie hatten gefürchtet, daß ich es sei, der – mit den Ponys auf dem Meereis forttrieb!

Wilson und Meares waren am 28. Februar mit beiden Hundegespannen unserer Spur vom Hinmarsch gefolgt und glücklich über die Eiswälle gelangt, wo die vielen Robben lagen. Dicker schwarzer Nebel verdeckte jede Aussicht, aber je näher sie Kap Armitage kamen, um so zahlreicher wurden die ganz frischen Risse im Eis, unzweifelhaft eine Folge der Dünung. Bei der nächsten Flut, die schon in einer halben Stunde eintreten konnte, mußte jeder Riß sich zu einem breiten Spalt mit offenem Wasser erweitern; was dann ihrer wartete, war klar: sie trieben im besten Fall auf einer Eisscholle ins Meer hinaus. Sie machten sofort kehrt und steuerten auf die Schlucht unterhalb des Burgfelsens los. Unterdes war es Abend geworden. Auf einmal sahen sie die Ponyabteilung (wie sie glaubten, unter meiner Führung) nur etwa 800 Meter entfernt. Sie waren daher fest überzeugt, die Ponyabteilung müsse sie gesehen und das plötzliche Abbiegen von ihrem Kurs bemerkt, ja das Knallen ihrer Peitschen gehört haben. Auch waren sie infolge der überall liegenden Robben so mit ihren Hunden beschäftigt, daß sie sich nicht weiter umsehen konnten.

Als sie auf der Hüttenspitze mit dem Aufschlagen des Zeltes fertig waren, kehrten sie mit Hacke und Schaufel nach dem Eisfuß zurück, um einen Weg für die Ponyabteilung zu ebnen, die jeden Augenblick eintreffen mußte. Aber jetzt war von den Ponys weit und breit nichts zu sehen! Auf einmal entdeckten sie sie draußen auf dem Meereis, eben da, wo alle 30 Schritt weit eine tätige Spalte gewesen war! Durch das Fernglas beobachteten sie, daß auch der Führer der Ponyabteilung die drohende Gefahr zu erkennen schien. Er machte kehrt – wandte sich aber, statt der Schlucht, südwärts dem Barrierenrand und der Weißen Insel zu. Dort mußte er allerdings auf sicheres Eis stoßen. Die beiden am Lande beruhigten sich daher und legten sich zwischen 11 und 12 Uhr schlafen, nachdem Wilson sich noch einmal vergewissert hatte, daß die Ponyabteilung, wie er wenigstens glaubte, auf festem Barriereneis kampierte.

Um 5 Uhr morgens wachte er auf. Die Unruhe trieb ihn sofort aus dem Zelt. Entsetzt fuhr er zusammen: das ganze Meereis war in Bewegung, und auf den wogenden Schollen trieb in weiter Ferne die Ponyabteilung fort! Wilson sah deutlich, wie Ponys und Schlitten von einer Scholle auf die andere übersetzten, um sich dem festen Barriereeis wieder zu nähern.

Natürlich war sein erster Gedanke, zu helfen. Das Eis, auf dem die beiden gestern bis zur Schlucht gekommen, war heute ebenfalls aufgebrochen und nach dem Meer zu in Bewegung. Sie ließen daher die Hunde zurück, kletterten über den Kraterhügel nach der Prahmspitze und eilten von dort auf das Sicherheitslager zu, wo sie mich fanden.

Ohne Frühstück waren sie aufgebrochen; wir bereiteten ihnen daher schnell eine Tasse Kakao. Aber nun hieß es: Was beginnen? Da gewahrte Wilson plötzlich eine Gestalt, die vom Schauplatz der Katastrophe her auf das Ponyfutterdepot zueilte. Gran lief auf Schneeschuhen hin, um sie abzufangen. Es war Crean. Völlig erschöpft kam er an und berichtete mir nun das Vorgefallene.

Die Ponys hatten gestern abend auf dem Meereis kampiert, ziemlich weit jenseits der Robbenrinne. Mitten in der Nacht entdeckte Bowers, daß rings umher das Eis aufgebrochen war. Eine Spalte lief unter der Halteleine der Ponys hin, und ein Pony war verschwunden! Hals über Kopf wurde zusammengepackt, und nun versuchten die drei Männer, die Tiere von einer Scholle zur andern springen zu lassen. Das Gepäck zogen sie selbst hinterdrein, eine Arbeit, die Mut und Ausdauer auf die furchtbarste Probe stellte. Schon hatten sie sich nach dem Rand der Barriere hingearbeitet, als sich herausstellte, daß davor überall breite Spalten klafften, deren Überschreitung mit den Tieren ganz unmöglich war.

In dieser verzweifelten Lage hatte sich Gran erboten, mich aufzusuchen. Als er aufbrach, war das Meer wie ein schäumender Kessel gewesen, und an allen Seiten der Eisschollen hatten sich Schwertwale gezeigt. Von Scholle zu Scholle springend, hatte er eine große Strecke auf dem Treibeis zurückgelegt und schließlich ein dickes Eisfeld erreicht, von dem aus er mit Hilfe seines Schneeschuhstockes den Barrierenrand erklettern konnte.

Da wir nur 3 Schlafsäcke hatten, schickte ich Gran mit Wilson und Meares nach der Hüttenspitze zurück, um nach den Hunden zu sehen; ich selbst eilte mit Crean und Oates nach der Unglücksstelle. Im Sicherheitslager luden wir etwas Proviant und Öl auf und näherten uns dann mit größter Vorsicht dem Eisrand. Bald hatten wir die verlorene Abteilung entdeckt und das Rettungswerk begann.

Das Eis hatte aufgehört zu treiben und lag jetzt ziemlich ruhig dicht am Barrierenrand. Mit Hilfe des Seils zogen wir zunächst Bowers und Cherry-Garrard herauf. Das war am Nachmittag um ½ 6 Uhr; ehe Schlitten und Gepäck ebenfalls oben waren, wurde es 4 Uhr morgens! Und als wir gerade die letzten Lasten hinaufschleppten, begann das Eis sich wieder in Bewegung zu setzen. An eine Rettung der drei Ponys war einstweilen nicht zu denken. Die armen Tiere mußten, gut gefüttert, vorerst auf ihrer Scholle bleiben.

Als wir uns am Morgen um 8 Uhr wieder erhoben, waren die Ponys fort! Wir hatten ihre Eisscholle mit dem Seil festgemacht, aber sie hatte sich losgerissen und trieb nun irgendwo im Meer herum. Ein furchtbarer Verlust, der gar nicht mehr gut zu machen war!

Wir packten zusammen und beschlossen am Rand der Barriere entlang zu ziehen. Da erblickte Bowers plötzlich durch den Fernstecher die Ponys ungefähr 2 Kilometer weit im Nordwesten. Eine gnädige Vorsehung hatte die Strömung am Barrierenrand hintreiben lassen. Mit neuer Hoffnung machten wir uns auf den Weg und gelangten ohne Schwierigkeit zu den armen Tieren hinunter.

Aber nun ereignete sich ein unglückseliges Mißverständnis. Ich fand einen Weg, auf dem die Ponys die Barriere hinaufgeschafft werden konnten. Aber die Kameraden verstanden mich falsch und ließen eins der Tiere über eine Spalte springen. Es fiel hinein, und nun blieb nichts übrig, als es zu töten. Ein entsetzliches Unglück!

Jetzt rief ich alle Mann herbei. Bowers und Oates kletterten mit einem Schlitten hinunter, arbeiteten sich zu den beiden überlebenden Ponys hin und brachten sie glücklich zu mir herauf. Schon glaubte ich wenigstens diese beiden Tiere gerettet, da glitt ein Pony aus und stürzte ins Wasser. Wir zogen ihn noch auf eine Scholle herauf, obgleich uns die Schwertwale auf allen Seiten in größter Aufregung umdrängten; aber das arme Tier konnte sich nicht wieder erheben, und so war das einzige, was wir ihm noch Gutes antun konnten, auch seinem Leben ein Ende zu machen. –

Morgen also zur Hüttenspitze – das wird ein trauriger Marsch!


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